Was ist die Schuld der Deutschen?

 

von Johannes Hertrampf

 

 

In jüngster Zeit konnte man den Medien entnehmen, daß in manchen EU-Ländern Ängste geschürt werden, Europa könne unter die Vorherrschaft Deutschlands geraten. Erinnerungen an die Ereignisse im Zwanzigsten Jahrhundert werden aufgefrischt. Es wird die Meinung kolportiert, Deutschland mache sich auf den Weg, alte Herrschaftsabsichten zu verfolgen. Die deutsche Bundeskanzlerin wird mit nationalsozialistischen Symbolen dekoriert. – Natürlich ist das alles realitätsfern. Aber von deutscher Seite wird dazu nicht offiziell Stellung genommen, obwohl damit das Klima in Europa erheblich vergiftet wird. Die Vorwürfe bleiben einfach unwidersprochen und das ist befremdend. Glaubt die Berliner Regierung, daß sich die Angelegenheit von selbst erledigt? Müßte sich nicht längst der Bundestag mit der antideutschen Stimmungsmache in Europa befassen? Gibt es in Deutschland Kräfte, die diese Angst rechtfertigen? Was ist der Grund für diese Angst?

 

 

Es wird die Angst vor Deutschland geschürt, mit dem Resultat, daß Deutschland isoliert wird, was offensichtlich auch der Zweck ist und das, obwohl von deutscher Seite keine aggressiven Äußerungen vorliegen. Muß Europa Angst vor den Deutschen haben? – Angst welcher Art? Angst vor militärischen und politischen Handlungen, die sich gegen andere europäische Länder richten?

 

Die einzige europäische Macht, gegen die von deutscher Seite ein Propagandakrieg geführt wird, ist Rußland. Aber von dort sind keine Angstreflexe zu hören.

 

 

Zunächst, die Angst im Ausland wird nicht damit begründet, daß in Deutschland bedrohliche Kräfte herangewachsen sind, ganz im Gegensatz zu der in Deutschland geschürten rechten Hysterie. Die Begründung der Angst ist eine andere. Da werden Forderungen an Deutschland gestellt, die es nicht erfüllen kann. Deutschland soll bedingungslos die Rolle des Zahlmeisters für andere europäische Schuldenstaaten übernehmen, was unter den Deutschen, quer durch alle sozialen Schichten, auf Widerstand stößt. Und aus dieser Verweigerung wird eine Gefahr für Europa konstruiert. Man kann daher so formulieren: der Grund, warum man im Ausland vor Deutschland Angst hat, ist, daß die Deutschen sich nicht erpressen lassen wollen.

 

Wenn hierin das Motiv der Angstpsychose besteht, dann gibt das einen tiefen Einblick in die Stellung Deutschlands in Europa, in die Wertschätzung, die es tatsächlich erfährt. Ist nun dieses geringschätzige Verhältnis den anderen Ländern zuzuschreiben oder hat Deutschland einen Anteil daran? Was ist an der deutschen Politik falsch?

 

Deutschland ist der unmündigste Staat Europas, denn noch immer steht es unter Kontrolle der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Rußland kann als Siegermacht ausgenommen werden, denn es bevormundet nicht die deutsche Regierung. Deutschland befindet sich bezüglich Rußland in keinem Vasallenverhältnis mehr. Dieses beschränkt sich auf die drei westlichen Siegermächte, im besonderen auf die USA. Es ergibt sich folglich die Frage: Kann Vasallenpolitik für andere Länder beängstigend sein?

 

 

Die Angst vor dem Vasallen ist in Wirklichkeit die Angst vor dem Herrn. Und die Angst vor dem Herrn resultiert heute aus der Angst des Herrn vor seinem Niedergang, seiner Unberechenbarkeit bei der Wahl seiner Mittel. Hinter der Angst vor Deutschland verbirgt sich daher ein weltgeschichtliches Phänomen: das zusammenbrechende System der westlichen Zivilisation, dessen Wortführer die USA sind. Dort ist man zu der Erkenntnis gekommen, wenn Deutschland verloren geht, ist das Schicksal der USA besiegelt.

 

Unmittelbar ist die Angst vor Deutschland ein Nebelschleier, eine Schimäre, hinter der sich jedoch ein dramatischer Vorgang abspielt. Es gilt auch hier, wie häufig in der Politik, daß die an der Oberfläche liegenden Fakten die Wahrheit verbergen. Deutschland, das deutsche Volk gibt keinen Anlaß zur Angst. Die Angst vor Deutschland wird von anderen herbeigeredet. Sie ist ein Nötigungsmittel europäischer Politik.

 

 

Mit der Angst vor Deutschland wird die Furcht vor dem Wiederholungstäter aufgebaut. Solange die Angst wach bleibt, solange kann vom Täter Sühne verlangt werden, politische Gefolgschaft und wirtschaftliche Abgabepflicht.

 

Der Vasall ist ein Werkzeug des Herrn. Wenn der Vasall aufmuckt, wird er vom Herrn zurechtgewiesen. Durch die Angst vor dem Vasallen sichert sich der Herr die Unterstützung der anderen Vasallen. Sie haben ein Interesse an der Erhaltung des Systems, dessen Teil sie sind. Sie wissen sehr wohl, daß sie mit der Angst sich fest an den Herrn binden. Ihre Angst ist eine geistige Bedingung ihrer selbstgenügsamen Unfreiheit. Mit der Angst sichert sich der Herr die Unterwürfigkeit des Einen und die Einbindung Aller in das System. Daraus ergibt sich, daß das bestehende Herrschaftssystem der Boden ist, der die Angst vor Deutschland hervorbringt. Deutschland wird so hingestellt, daß man vor ihm Angst haben müsse, unabhängig davon, was es wirklich tut.

 

 

Die Systembewahrer machen die Deutschen zum Popanz, in der Hoffnung, mit ihren Absichten unerkannt zu bleiben. Angst macht blind, heißt es. Daher tun sie alles, um die Angst zu schüren. Und sie erwarten von den deutschen Politikern, daß sie Gründe für die Angst erfinden. So beispielsweise von Herrn Gauck, daß er die ausländerfeindlichen Krawalle seinerzeit in Rostock für unentschuldbar erklärt und damit einen Angstkomplex erzeugt, denn das schuldbeladene Deutschland ist eine potentielle Gefahr auf Dauer. Wenn also die deutschen Politiker zu den nationalsozialistischen Unterstellungen aus dem Ausland schweigen und sich aber über nationalsozialistische Umtriebe in Deutschland in Rage bringen, bei denen die staatlichen Sicherheitsorgane sogar noch mitspielen, dann verhalten sie sich vasallengemäß, denn auf Deutschland muß ein brauner Makel liegen, seht, vor Deutschland müßt ihr euch in Acht nehmen. Zugegeben, das ist ein völlig abartiges Verhalten.

 

Das Argument der alleinigen Kriegsschuld ist die hauptsächliche Begründung der internationalen Sonderrolle Deutschlands und hat wesentlich dazu beigetragen, daß Europa sich in einem Zustand der Stagnation befindet. Dieses Argument verhindert die Analyse der Politik der europäischen Staaten im zwanzigsten Jahrhundert. Es ist klar, wer dieses Argument zu seinem Fundament macht, dem geht es um Sühne und nicht um die tieferen Ursachen und die Rationalität der Beziehungen zwischen den Völkern.

 

 

Doch der Erkenntnisprozeß geht weiter. Es gibt keinen endgültigen Abschluß geschichtlicher Erkenntnis. Auch das Vergangene wird ständig geistig umgewälzt und neu durchforscht. Hier liegt ein schwerer Fehler derjenigen vor, die das bestreiten, nur um ihre Positionen nicht aufgeben zu müssen, als könnten sie einen Stillstand erzwingen.

 

 

Der Vorwurf, daß Deutschland schuld ist, daß sich die gegenwärtige Finanzkrise ausweitet, weil es zu zögerlich den Zahlungserwartungen nachkommt, ist ein ebensolches irrationales Konstrukt, weil es den systemimmanenten Grund der Krise, den Zwang der Umverteilung, ausblendet. Das System kann sich nicht mehr gesund rationalisieren, weil es sich in einem unlösbaren Widerspruch befindet. Wer sich bei ihm ankoppelt, der wird von ihm unweigerlich in die Tiefe gezogen. Alle echte Zahlungsverweigerung trägt also dazu bei, den Auflösungsprozeß zu beschleunigen. Diesen dürfen die Völker nicht scheuen, sondern er ist ihre Erlösung von Demütigung und Ausplünderung. Die Herrschenden stellen die Dinge auf den Kopf, wenn sie ihren Abgang als Anbruch einer grassierenden Armut und Arbeitslosigkeit hinstellen, als Weltuntergang hinstellen. – Die Forderung nach einem endlosen Sühneopfer stützt sich auf die untilgbare Schuld der Deutschen und verschleppt die Erneuerung Deutschlands und Europas.

 

 

Alle deutschen Regierungen nach 1945 haben den Schuld-Komplex anerkannt als Bedingung des Vasallenstatus. Sie waren damit aktive Teilnehmer am Kalten Krieg. Auch die gegenwärtige Bundesregierung steht in dieser Reihe. Ihre Vorbehalte gegenüber den Zahlungsansprüchen an Deutschland sind nicht überzeugend, weil sie nicht zu einer Richtungsänderung der Politik führen, sondern lediglich die Bundeskanzlerin auf Zeit spielt, um schließlich nachzugeben. Objektiv werden damit die Bürger getäuscht, wird ihnen nationale Verantwortung vorgegaukelt. Die Bundesregierung entwickelt aus ihren Vorbehalten keine Alternative. Mehr noch, alle Bundestagsparteien wollen den Euro retten und das bedeutet, Deutschland stärker als bisher unter Druck zu setzen. Das gilt selbst für die LINKE, die damit ihre politische Bedeutungslosigkeit unter Beweis stellt.

 

 

Die deutsche Politik ist pro-westlich ausgerichtet, d.h. imperial. Ihre EU-zentristische Nivellierung und nationale Selbstaufgabe wird häufig von Konservativen als sozialistisch interpretiert, wodurch der reaktionäre Kern verschleiert wird. Damit macht sich konservative Kritik kontraproduktiv, lähmt sie selbst die nationale Sammlung und ist das Gegenteil von dem, was sie sein möchte. Solange deutsche Politik sich selbst als Säule der westlichen Zivilisation versteht und diesem Verständnis stimmen die Konservativen zu, verteidigt sie eine Ära, die untergeht. Damit macht sie sich selbst erfolglos. Die heutige Bundesregierung bereitet Deutschland nicht auf die geschichtliche Zäsur vor. Die Idee der europäischen Einigung wie auch der Weg der deutschen Vereinigung hatten nicht die Erneuerung zum Ziel, sondern wurden nach überholten Schema abgearbeitet. Alle Bestimmung verlief von oben nach unten und hatte dadurch keine Zukunftschance.

 

 

Man muß die konkreten Vorwürfe der Angst vor Deutschland widerlegen, aber man muß auch hinter diesen Vorwürfen erkennen, daß in der Zivilisation die Schuld generell ein Herrschaftsmittel ist. Dieses Mittel kann nicht außer Kraft gesetzt werden, wenn man an der Oberfläche jeweils nur die konkreten Fälle behandelt. Aus diesen Analysen können noch keine zeitgemäßen Forderungen abgeleitet werden, denn das Problem sitzt tiefer. Die Schlußfolgerungen müssen immer ein Stück in die Zukunft weisen. Solche Analysen zeigen für sich genommen nur – und vor allem das Fernsehen ist voll davon -, wie auf dem Boden der Zivilisation immer wieder die gleichen Blüten treiben, wie sich alles wiederholt und damit die Verhältnisse als unabänderlich erscheinen.

 

Das Verhalten der Gesellschaft ist durch die technisch-wirtschaftlichen Bedingungen tatsächlich vorprogrammiert. Das bedeutet nicht eine fatalistische Rechtfertigung. Die Rolle des Systems und die Verantwortung der Menschen sind zwei gegensätzliche Orientierungen. Die Verantwortung kann das System nicht außer Kraft setzen, sondern kann seine Wirkungen nur modifizieren. Das zeigt sich deutlich an den christlichen zehn Geboten, mit deren Hilfe es nie möglich war, Mord und Totschlag in der Welt zu verhindern. Aber es zeigt sich auch, daß diese Orientierung eben nicht ausreicht, den Verlauf der Gesellschaft in neue Bahnen zu richten. Die Neuausrichtung heutzutage liegt vielmehr in den grundlegenden materiell-technischen Bedingungen begründet und kommt zustande, wenn die Interessen der Bürger die Orientierung festlegen.

 

 

Die Deutschen tragen nicht die Systemschuld, obwohl sie in diesem System leben. Krieg und Mord, Schuld und Sklaverei sind der Zivilisation eigene, unvermeidbare Merkmale. Kein Volk kann verantwortlich gemacht werden, dafür, daß es in der Zivilisation lebt. Der Schuldverweis auf die Völker ist ein Druckmittel zur Gefügigkeit. Das Leben war so und konnte in seinen Grundzügen auch gar nicht anders sein. War die Verantwortung in der Zivilisation darauf ausgerichtet, die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft zu sichern, ohne sie grundlegend ändern zu können, so ist die Situation heute anders. Heute tragen die Menschen die Verantwortung, den zivilisatorischen Schuldmechanismus aus der Welt zu schaffen. Diese andere Verantwortung resultiert aus objektiven Gegebenheiten. Und das können sie nicht, indem sie anderen helfen, Schuldverstrickungen zu ertragen, sondern indem sie dafür sorgen, daß von ihnen keine neuerlichen Schuldverstrickungen ausgehen. Die Schuldbefreiung, nicht die Schuldzuweisung und Schuldertragung ist die Lösung. Sie müssen also ihre eigenen Regierungen neu ausrichten.

 

 

Deshalb müssen Reformer an die Spitze der Regierung und nicht Willensvollstrecker der alten Denkungsart. Ein Kennzeichen dieser permanenten Reformbereitschaft ist die konsequente demokratische Aufgeschlossenheit, denn diese Ausrichtung auf Erneuerung ist ein permanenter Widerstand gegen die westlichen Hegemoniebestrebungen, im besonderen gegen den Vasallenstatus.

 

Die Deutschen haben Versäumnisse zugelassen. Sie haben ihren Politikern zu wenig auf die Finger geschaut. Die fehlende Alternative ist heute der Hauptgrund der Handlungsunfähigkeit. Die Phrase, sich zu Europa zu bekennen ist deshalb eine Phrase, weil sie ohne jeden Inhalts ist. Ihr Inhalt wird nämlich durch den bestimmt, der sie erhebt. Das entspricht dem Umgang der Herrschenden mit allen abstrakten Begriffen wie Freiheit, Demokratie, Menschenwürde. Deutschland muß sich aus dem „Westen“, aus dem Geflecht der Zivilisation herauslösen, gemeinsam mit seinen Nachbarn, muß schrittweise den jahrtausendealten Mustern und Zwängen absagen. Nicht im Hauruckverfahren, sondern in einem mühseligen Reformvorgang.

 

Das ist der Sinn von Erneuern.

 

 

1.                  Es kann sich nicht als Verteidiger des westlichen Systems dem Westen ein neues Gesicht geben. Es muß innerhalb der westlichen Gemeinschaft eine Politik der anderen kleinen Schritte verfolgen. Die Politik muß endlich wirkliche Alternativen aufzeigen und darf nicht ständig nur nach alten Mustern handeln.

 

 

2.                  Der nationale Nihilismus ist eine den Bürgern aufgezwungene Selbstblockade. Wenn Deutschland sein nationales Konzept entwickelt, schafft es anderen Völkern keine Schwierigkeiten, sondern vertieft das europäische Geflecht. Keine Regierung kann für andere Regierungen denken und ihnen ein Konzept aufzwingen. Das wäre zutiefst undemokratisch. Für Deutschtümelei ist da überhaupt kein Platz.

 

 

3.                  Deutschland braucht Verbündete für sein Vorhaben. Und wird sie finden, weil alle Völker vor der ähnlichen Aufgabe stehen wie Deutschland.

 

 

Ständig die Schuld der Deutschen zu wiederholen und daraus eine endlose Kette von Erbschuld zu konstruieren, ist eine Irreführung nicht nur der Deutschen, sondern auch der anderen Völker, die einzig dazu dient, die alten Zustände aufrecht zu erhalten.