Wahn und Wirklichkeit

 

Johannes Hertrampf – 26.10.2017

 

 

Es ist schon kurios, die beiden größten Verlierer der Bundestagswahl überlegen, wie man den bisherigen politischen Kurs fortsetzen kann. Bei aller Widerspenstigkeit folgte die CSU der CDU und wurde dafür von den Wählern abgestraft. Nach gegenwärtigem Stand hat Merkel die CSU bundespolitisch wieder nur als Anhängsel der CDU vorgesehen, was die Bayern bei der kommenden Landtagswahl hoffentlich entsprechend quittieren werden. Seehofer stellt das Bündnis mit der CDU über jede Vernunft und das erregt Verwunderung und Kopfschütteln in Bayern wie in der ganzen Bundesrepublik. Er hat seine Chance schon vertan.

 

 

Das Wahlergebnis hat bei den Spitzen der Unionsparteien bisher kein Umdenken bewirkt. Auch das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wird von Merkel zurechtgeredet. Wenn es mit der bisherigen Koalition nicht weitergeht, sucht sie eben nach anderen Partnern. Entscheidend ist die Stimmenmehrheit im Parlament, alles andere ist uninteressant. Für die potentiellen Bündnispartner, Grüne und FDP, ist die Verlockung groß, aber auch die Wahrscheinlichkeit, dann endgültig beim Wähler durchzufallen, denn der Wähler hat sie nicht als Koalitionspartner der Union gewählt, sondern als Oppositionsparteien gegen die Union. Und jetzt helfen sie Merkel aus der Klemme. Sie begeben sich auf dünnes Eis.

 

 

In Bezug auf die angestrebte neue Koalitionsregierung kann man sagen: Der Wille der Parteien wird über den Willen des Volkes gestellt. Das Volk hat bei der Wahl differenziert, aber von dieser Differenzierung bleibt bei der Regierungsbildung unter Federführung der Unionsparteien nichts übrig. In dieser Situation wäre ein Ordnungsruf des Bundespräsidenten angebracht. Der Grund für diese Verfälschung des Wahlergebnisses besteht darin, dass die Parteiführer im kleinen Führungszirkel den Kurs ihrer Parteien festlegen und sich anschließend auf die Parteidisziplin berufen. Ihr Umgang mit den Parteien entspricht noch immer mehr einem militärischen Reglement, als dem freiheitlich-demokratischen Geist.

 

 

Der vorrangige Zweck der Bundestagswahlen ist die Bildung einer Bundesregierung, die den Erwartungen der Wähler gerecht wird. Das ist der wichtigste Auftrag der im Bundestag sitzenden Parteien. Doch praktisch sind an der Regierungsbildung nur die Parteien beteiligt, die für die stärkste Partei als Koalitionspartner in Frage kommen. Auf diese Weise kann die Union den Wählerwillen ganz legal übergehen. Der Hinweis, durch Opposition Politik zu beeinflussen, ist nur ein vergebliches Trostpflaster. Eine Partei, die nicht in der Regierung vertreten ist, kann sich zwar im Bundestag mit eloquenten Reden selbst zum besten geben, wie seinerzeit G. Gysi, eine Kursänderung der Regierung wird damit aber nicht erreicht. Die Absicht, „Man muss zum System werden, um es zu ändern“, kann höchstens den Wähler über den Zweck der Anpassung an das System hinwegtäuschen, nicht ab die mit allen Wassern gewaschenen herrschenden Politiker. Aufschlussreich an dieser Absicht ist, dass der Blick auf die Täuschung der Herrschenden und nicht auf die anwachsende Kraft des selbstbewussten Bürgers gerichtet ist.

 

 

Über die parlamentarische Opposition Einfluss auf die Regierung zu nehmen, ist so gut wie ausgeschlossen. Parteien, die nicht an der Regierung beteiligt sind, scheiden als politikgestaltende Faktoren aus. Wenn diese Oppositionsparteien schließlich selbst in die Regierung eintreten, beginnt das ganze selbstgefällige Spiel von neuem. So wie gegenwärtig die Regierungsbildung abläuft, bleibt also ständig Gestaltungswille außen vor. Es bleibt der Teil des Volkswillens unbeachtet, der zwar im Wahlergebnis ausgewiesen ist, der aber unmittelbar das erste Opfer der Parteienwillkür ist, weil die etablierten Parteien ihn einfach von der Regierungsbildung ausschließen.

 

 

Für kleine Parteien, zumal sie unter der 5-Prozent-Hürde liegen, ist die Teilnahme an Wahlen ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Ordnung, verbunden mit einem hohen persönlichen Aufwand. Trotzdem nehmen sie immer wieder teil, aus Überzeugung von der Nützlichkeit ihrer Ideen für den Fortschritt in Deutschland. Ihnen diese Überzeugung abzusprechen, verneint die politische Vielfalt als Besonderheit der Volkssouveränität.

 

 

In Gesamtheit zeichnete sich bei den Bundestagswahlen Wahlen eine klare Richtung ab, die  Ablehnung der  Regierungspolitik der letzten vier Jahre, bei gleichzeitiger Betonung einer differenzierten Kritik. Diese  Differenziertheit darf nicht schlechthin als ein Zeichen von Unausgegorenheit verstanden werden, sondern als ein Zeichen der Vielfalt von persönlichen und sozialen Standpunkten. Dass die Kritik nicht nur eine Stimme hat, sondern mehrstimmig ist, ist ein Ausdruck von Stärke, im Gegensatz zur einstimmigen Einfalt. Mit einer etwa gleichstarken Mehrschichtigkeit schickte der Wähler die parlamentarische Opposition ins Rennen, um die künftige Politik Einfluss zu nehmen. Wie aber die bisherigen Koalitionsgespräche zeigen, wird die neue Regierung diese Differenziertheit nicht aufweisen. Bestenfalls wird die Differenziertheit dort aufhören, wo die absolute Stimmenmehrheit im Bundestag beginnt. Woher nehmen CDU und CSU das Recht, diese Differenzierung zu ignorieren?

 

 

Ganz einfach aus dem Umstand, dass sie eine Mehrheit brauchen, um ihre Version von Politik durchzusetzen. Herrschaft drückt sich darin aus, dass die Mehrheit reicht. Die Grenze der  Kompromissbereitschaft wird durch die Mehrheitsgrenze gezogen, nicht durch den Wähler, der in etwa gleichstarkem Verhältnis die Oppositionsparteien politisch legitimierte. Es liegen daher zwei unterschiedliche Kriterien vor, nach denen die  Regierungsbildung erfolgen kann: Mehrheit oder Vielfalt. Beide Kriterien führen zu qualitativen Unterschieden.

 

Begründet wird das Mehrheitskriterium mit der einfacheren Handhabung der Regierungsbildung. Eine stabile Mehrheit kann faktisch alles beschließen und sich von den Medien rechtfertigen lassen.  Aber ebenso wenig lässt sich bestreiten, dass damit der Wählerwille verunstaltet wird. Die Dynamik der Entscheidungsprozesse zu Lasten der Vielfalt zu erhöhen, bringt letztlich keinen Gewinn für das Volk, sondern Verlust an Wahrheit und damit soziale Einbrüche, unerfüllte Lebenswege und Verzweiflung. Durchregieren führt auf Abwege! Wer das anstrebt, spart nicht Zeit und Geld. Wer das anstrebt, gerät in Widerspruch zum Bürger.

 

 

Der Bürger hat ein Recht darauf, zu erfahren, wie die neue Regierung zustande kommt, damit er sich selbst ein Urteil bilden kann, wie und wann mit öffentlichen Wortgefechten von der Fortsetzung der bisherigen Politik abgelenkt wird. Und nicht nur abgelenkt, sondern die bisherige Politik rein-gewaschen wird. Für die Unionsparteien ist die Bundestagswahl kein Grund, sich selbst kritische Fragen zu stellen. Sie sagen nur: Man müsse die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nehmen, auftretende Härten mildern und Missverständnisse auszuräumen. Mit solchen Phrasen täuscht Bundeskanzlerin Merkel das deutsche Volk und die Weltöffentlichkeit. Dabei ist es zweitrangig, ob sie diese Phrasen glaubt oder nicht glaubt.

 

 

Die Auseinandersetzung mit den Vertretern der alten Politik wird nicht einfacher. Es besteht aller Grund, die oppositionelle Kritik selbst genauer unter die Lupe zu nehmen, inwieweit sie wirklich schon alternativen Charakter trägt, inwieweit sie die zivilisationskritische Dimension der heutigen Auseinandersetzung erkennt – oder ob die Kritik als Diskussion personenbezogener Machtspiele erfolgt. Wenn die Kritik nicht darauf aufmerksam macht, dass die gesellschaftliche Krise über Jahrhunderte eingeschliffene Wertungen und soziale Strukturen zur Disposition stellt und damit eine große zivilisationskritische Dimension erreicht, dann wird sie nicht überlegen sein und wird nicht starke Motivationen auslösen. Ihre Ruhe und Gelassenheit beruht auf Erkenntnis, dass der Mensch zunehmende Bindungen mit dem naturgesetzlichen Wirkungsgefüge eingeht. Er holt sich über die Technik mehr und mehr diese Wirkungsgefüge in sein Leben und muss demzufolge seine geistige Welt und seine sozialen Verhältnisse verändern. Diesen Zusammenhang kann er nicht umgehen, er ist unvermeidlich. Die heutige politische Kritik muss sich als Wegbereiter dieses Zusammenhangs verstehen und daraus ihre Ruhe und Überlegenheit ableiten. Der Mensch übernimmt eine neue Rolle im Naturgeschehen. Die gesellschaftliche Erneuerung und die Ausübung einer neuen Rolle im Naturgeschehen sind ein und derselbe Prozess, sie betonen das Wesentliche nur unterschiedlich. Das eine muss mit dem anderen getan werden, in Einheit mit ihm. Diese gegenseitige Bedingtheit darf nicht verloren gehen. Und dafür braucht er keine politische Ideologie. Sie hindert und lenkt vom sachlichen Inhalt der Staatsfunktion ab, was sich beispielsweise in der mangelnden Qualifikation hoher Staatsfunktionäre äußert.

 

 

Das Versagen der Merkelregierung kann man nicht, wie es noch oft geschieht, nach Art des Kriminologen Pfeiffer, aus ihrer Vergangenheit als FDJ-Funktionärin ableiten. Das ist nur eine Spielart des Rechts-Links-Konfliktes. Dieser wird herangezogen, um ein aktuelles Problem zu erklären. Man muss das Versagen auf ihre Unfähigkeit zurückführen, menschheitsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen technischem und kulturellem Fortschritt zu erkennen. Diese Unfähigkeit hat mit ihrer FDJ-Vergangenheit nichts zu tun, denn ihr personelles Umfeld denkt wie sie, ohne FDJ-Vergangenheit. Möglicherweise hat der Zusammenbruch des Sozialismus eine Hinwendung zum fortschrittsfeindlichen Nihilismus zur Folge gehabt, der sie direkt zu einer aktiven  Verfechterin der von den Amerikanern geführten westlichen Welt werden ließ. Diese Wendung mit einem linken Etikett zu versehen, ist irreführend. Diese Wendung ist einfach als historisch reaktionär zu bezeichnen. An der Spitze der Bundesregierung und der CDU stünde damit der Prototyp eines missglückten Wendehalses, was schon sehr verwunderlich wäre.

 

 

Merkel versteht sich als Bewahrerin der westlichen Zivilisation, die getragen wird von der Angst der Herrschenden, die Herrschaft zu verlieren. Deren Politik muss deshalb am alten Funktionsmuster festhalten, ohne sich darum zu kümmern, dass die alten Funktionsmuster infolge veränderter objektiver Gegebenheiten nicht mehr das Geschehen ergreifen. Das ist der Kern des irrationalen Denkens und Handelns der deutschen Bundeskanzlerin und macht deutlich, warum sie von den bisherigen Spitzenvertretern der westlichen Welt unterstützt wird. Merkel steht in vorderster Linie der internationalen Reaktion. Diese Politiker verweigern den Völkern eine neue Zukunft. Für sie ist Zukunft die Wiederholung alter Inhalte in neuen Formen. Deshalb stehen sie hinter Merkel. Sie ist bereit, Deutschland und Europa diesem Wahn zu opfern. Das erklärt auch ihre Aversion gegenüber Trump, die eine Maxime bundesdeutscher Politik ist. Warum? Trump hat die Aussichtslosigkeit der bisherigen US-Politik begriffen. Er will eine Wende und stößt damit das selbstgefällige amerikanische Establishment und seine ausländischen Vasallen vor den Kopf.

 

 

Die Menschheit steht mitten in einem weltgeschichtlichen Spannungsfeld, ohne dieses Spannungsfeld genügend definieren zu können. Ein spontanes Ende ist nicht zu erwarten. Selbst ein Niedergang Deutschlands und Europas wäre keine Lösung. Der Ausfall dieser kulturellen Potentiale würde den befreienden Ausgang nur verzögern. Die Europäer müssen in dieser Notzeit selbst die Änderung herbeiführen. Deutschland fällt dabei eine entscheidende Rolle zu. Die Weltgeschichte hat das deutsche Problem hervorgebracht und damit die Deutschen vor eine umfassende Aufgabe gestellt. Sie müssen sich dieser Aufgabe stellen. Sie müssen in Europa das Tor öffnen. Deutschland war schon im Zwanzigsten Jahrhundert ein Kulminationspunkt der Widersprüche, die ein Handeln in deutscher und europäischer Dimension verlangen. Entgegen böswilligen Umtrieben der deutschen führenden Politiker werden die anderen Völker dem deutschen Volk keine Büßerrolle abverlangen. Sie werden ihm vielmehr Sympathie entgegenbringen, wenn sie erkennen, dass die Deutschen ein gemeinsames Hindernis aus dem Wege räumen.

 

 

Der Abgang Merkels ist unvermeidlich. Mit einem Austausch von Personen ist es allerdings nicht getan. Eine Neuausrichtung ist unerlässlich. Diese wird aber gegenwärtig noch nicht als das eigentliche Problem erkannt. Die Ablösung der jetzigen Führungsgarnitur muss begleitet werden vom Inkrafttreten einer neuen Organisationsmaxime, der Volkssouveränität. Diese zu organisieren, ist der positive Sinn, mit dem die Gesellschaftskrise gelöst werden kann. Merkel ist dabei ein Hindernis, dessen Beseitigung nicht ausreicht. Die wirkliche Schwierigkeit beginnt nach dem Abgang der jetzigen Bundesregierung. Um sich darauf vorzubereiten, ist die Offenlegung des Parteiengeschachers um die neue Koalition zweckmäßig, denn dann wird deutlich, dass die anvisierten Koalitionsparteien im Windschatten der Union mitlaufen. Diese Offenlegung fördert die Einsicht, dass nicht diese Parteien benötigt werden, sondern Formen, in denen sich der Volkswille unverfälscht äußern kann. – Wer die Volkssouveränität bejaht, muss zwangsläufig herrschaftliche Strukturen abbauen, der muss sukzessiv die alten Parteien von der Steuerung der Gesellschaft zurückdrängen.

 

 

Grüne und FDP verfälschen das Wahlergebnis, indem sie dem Wunsch der Unionsparteien nach einer Jamaika-Koalition stattgeben und damit die Führungsrolle der CDU anerkennen, die mitnichten aus dem Wahlergebnis ablesbar ist. Ebenso wäre es eine Verfälschung, wenn das Wahlergebnis als Rechtswendung in Deutschland interpretiert wird. Es beweist vielmehr, dass der Bürger nicht mehr bereit ist, das Joch der Frau Merkel weiter geduldig zu tragen und sich ihr zu unterwerfen. Der Bürger ahnt den höheren geschichtlichen Auftrag. Er ist bereit, den Beweis anzutreten, dass die bisherige Führung sein schöpferisches Potential erstickt und verteufelt hat. Auf Dauer bleibt das nicht ohne Folgen. Dieser Widerspruch führt zu psychischen Leiden.

 

 

Was sich gegenwärtig verändert, auf nationaler und internationaler Ebene, lässt sich mit herkömmlichen Begriffen nicht erfassen. Mit den Begriffen von gestern, lässt sich die Welt von heute nicht erklären. Zwar wird in der Regel das Rechts-Links-Schema abgelehnt, aber dann wird doch darauf zurückgegriffen, weil es noch tief im Bewusstsein der Bürger sitzt und sich daher leicht praktizieren lässt. Dem Bürger wird ein Phantom auf die Nase gebunden, das ihn verblendet und den herrschenden Kreisen freie Hand lässt. Wenn die Opposition auf diesen Leim geht, kann sie schnell ihren Auftrag verlieren, dem Volk zu helfen, seine Souveränität gegen die Kräfte der Vergangenheit zu behaupten.

 

 

 

Johannes Hertrampf – 26.10.2017