Technischer Freisetzungseffekt wird nicht genutzt !

 

Johannes Hertrampf- Ein Blick auf die Themen, mit denen sich die GroKo befaßt, macht deutlich, vor grundsätzlichen, zukunftsorientierten Problemen macht sie einen weiten Bogen. Mit Eintönigkeit werden alte Positionen vertreten, das gilt vor allem bezüglich EU und Euro, an denen die Wirklichkeit längst vorbei ist. So scheint es, daß die Gesellschaft mit den Geistern nicht fertig wird, denen sie sich einst verschrieben hatte. Auch ein Wirtschaftswachstum um jeden Preis erweist sich als irreführende

Aufgabe, da sie qualitativ völlig indifferent ist, nach dem Motto: alle Mittel sind recht. Was schnelle

Vorteile verspricht, darf gemacht werden. Eine vorausschauende Prüfung technischer und

wirtschaftlicher Entscheidungen sei angesichts des steigenden Konkurrenzdrucks Zeitverschwendung. Es ist ein Teufelskreis: die Oberflächlichkeit führt das System auf die Verliererstraße.

Je weniger sich die Regierenden Zeit für die Herausarbeitung neuer technisch-ökonomischer

Strukturen nehmen, desto mehr stehen sie unter Zeitdruck. Nirgendwo können sie wirklich Fuß

fassen, immer getrieben von der Angst, die Macht zu verlieren.

 

Je länger man über die Frage nachdenkt, wer wirklich die Welt zum Besseren verändert hat, desto stärker drängt sich der Schluß auf: es war der homo technicus. Er feiert sich nicht als Geburtshelfer

eines neuen Milleniums, aber er ist es de facto. Er schafft Wirkungen, denen sich niemand entziehen

kann. Sein Werk hat das Gebaren einer Naturkraft, die der Mensch gern nutzt und die ihm zugleich

einen gehörigen Aufwand abverlangt. Der homo technicus erbringt seine Leistung als Dienstleistungen für einen Auftraggeber, von dem sie schnell in den allgemeinen menschlichen Fundus

eingehen. Sie werden ein allgemeines Menschheitsgut, das allen gehört, wie die Leistungen der

Wissenschaften und der Künste, selbst wenn sie von ärmeren Völkern noch nicht genutzt werden

können. Wer hier ein Privileg für sich ableitet, der ignoriert die Tatsache, daß schon immer

zwischen den Völkern ein Austausch stattfand. Viel zu wenig ist uns bewußt, daß wir gratis einen

Fundus nutzen, der zum Allgemeingut der Menschheit wurde. Die Menschen, gleich wo sie

wohnen, möchten das jeweils Höchsterreichte kennenlernen und anwenden. Sie sind eine große

Gemeinschaft mit gleichen Grundinteressen.

Diejenigen, die Erfindungen und Entdeckungen machen, handeln in Übereinstimmung mit dem

geschichtlich freien Austausch, wenn sie sich für eine unbegrenzte Verbreitung ihrer Leistungen

einsetzen. Die Anerkennung der Gleichberechtigung der Völker ist eine Bedingung für die restlose

Überwindung materieller und geistiger Privilegien, wie sie für das vorherrschende Denken in der

westlichen Zivilisation charakteristisch ist. Der homo technicus verbindet dagegen die Völker,

bringt sie einander näher. Frieden und Vertrauen zwischen den Völkern werden durch Privilegien

jedoch zunichte gemacht.

Eine Nutzung der Technik zur Beherrschung und Ausplünderung anderer Völker widerspricht dem

Zweck der Technik, die menschliche Freiheit zu erweitern. Dieser inhärente Freisetzungseffekt wird

nicht schon ausgeschöpft in der Zeiteinsparung. Technik erschöpft sich nicht in Zeitersparnis, sie ist

eine weitreichende Kulturkraft, die auch neue Inhalte der menschlichen Erfahrung zugänglich

macht. Eine enge ökonomische Betrachtung übersieht diese Wirkung. Die gesellschaftliche

Autorität der Technik verbietet es, sie einfach als Faktor ökonomischer Rationalisierung zu

beschränken. Diese Sicht dominierte in der Herrschaftsgesellschaft. Um die Funktion der Technik

in der Gesellschaft, zu erkennen, ist nach den Zusammenhängen mit anderen Lebensbereichen zu

fragen. Nur so können die technischen Wirkungen auf den Menschen bei der gesellschaftlichen

Erneuerung in bestmögliche Bahnen gelenkt werden.

Technik macht frei. Sie ist die Art und Weise, mit der die Stoffumwandlung bzw. die geistige

Entgegenständlichung erfolgt. Die Verwendung von Technik geht über die Arbeit hinaus. Der

Mensch nutzt sie in seinem ganzen Spektrum von Tätigkeiten, in der Arbeitszeit und in der Freizeit.

Ihren verschiedenen Anwendungen ist gemein, daß sie Ergebnissicherheit gewährt und zugleich den

Aufwand nach Soll und Haben normiert. Arbeit ist im Unterschied zur Technik Stoffwandlung zur

Erhaltung des Lebens. Technik bestimmt die Art und Weise, in der die Stoffumwandlung erfolgt. Sie

entscheidet den unmittelbaren Nutzeffekt der Arbeit.

 

Die Technik zeigt die Grenze auf, bis zu der schon menschliche Freiheit real existiert. Sie ist die

wichtigste Voraussetzung, damit menschliche Freiheit auf stabilem Untergrund steht, aber nur

insofern, daß Technik und gesellschaftliche Ordnung übereinstimmen. Der Freiheitsgewinn ist nicht

bedingungslos. Der Mensch braucht die Technik, um seinen Erfolg sicher zu stellen und schafft sie

nach Maßgabe seiner Bedürfnisse und seiner Kenntnisse. Technischer Fortschritt muß gewollt und

gekonnt sein, sonst tritt er nicht ein. Der Mensch steigert und begründet seine Freiheit durch die

Technik. Es ist dies allerdings lediglich die mögliche Freiheit. Erst wenn eine Handlung technisch

abgesichert ist, ist sie realistisch. Wie real seine Freiheit ist, hängt auch von anderen gesellschaftlichen

Faktoren ab, wie seine politische Mitbestimmung, die menschliche Abwehr sich verschlechternder

Naturbedingungen, der Stand der Überarbeitung der menschlichen Geschichtsinterpretation. Falsche

oder unvollständige Wertungen der Geschichte haben negative Auswirkungen auf das gegenwärtige

Handeln. Sie erschweren die Orientierung in der Gegenwart. Die Kenntnisse und Wertungen der

Vergangenheit steuern tiefgreifend das Handeln der lebenden Generationen. Der Freiheitsgewinn ist

ein rationaler belegbarer Begriff, dessen Wurzeln tief in der Natur gründen. Wenn heute noch die

Technik der Zeitersparnis untergeordnet wird, dann sind Wirkungen unvermeidlich, die dem

kulturellen Potential der Technik entgegen wirken.

Bisher war der allgemeine Freiheitsgewinn durch Technik ein Resultat, das sich weitgehend spontan

einstellte. Indem er zum Zweck wird, sie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, beginnt

eine neues Verhältnis des Umgangs des Menschen mit diesem seinem subjektiven Vermögen.

Technik wird bewußt als Kulturkraft genutzt. Es beginnt die technische Kultur im direkten Sinne,

das Zusammenwirken verschiedener Techniken zu einem ganzheitlichen System, bei dem drei

Stufen unterschieden werden.

 

Die Technikfolgenabschätzung war ein Schritt in diese Richtung. Ihre geringe praktische Beachtung

heute ist ein Zeichen dafür, daß die Herrschaftsgesellschaft auf ein solches Wissen keinen Wert legt.

Die Ausschöpfung des kulturellen Potentials wird als Einmischung in das Entscheidungsrecht des

privaten Unternehmers empfunden. Doch warum soll es nicht zulässig sein, die Wirtschaftsgestaltung nach dem finanzkapitalistischen Grundsatz Geldgewinn durch Geldbewegung zu erzielen,

in Frage zu stellen? Das Finanzkapital hat den Zweck der Realwirtschaft völlig aus den Augen

verloren. Das Finanzkapital befaßt sich mit dem Geld nicht als Tauschmittel, sondern als

Machtmittel. Das ist der Grund seiner zerstörerischen Wirkung. Das heutige Finanzkapital hält sich

strickt an die römische Devise „Pecunia non olet“. Es feiert sich mit seinen riesigen Geldbewegungen als wirtschaftsgestaltende Kraft. Doch der Motor springt nicht an. Und dass bedeutet Verlust an Lebensqualität für Millionen Menschen.

 

Offensichtlich ist dieser Gedanke, mit Geld die Gesellschaft zu beleben, nicht originell und nicht

erfolgreich, weil es sich dabei nur um eine Form der privaten Techniksteuerung handelt, die die

eigentliche Bedürfnisentwicklung der Bürger nicht erfaßt. Dieses Defizit soll dann die Werbung

ausbügeln, indem sie den Menschen einredet, was modern ist. Die Unterschiede bei der Bewertung

technischer Entscheidungen werden heute regelmäßig dann deutlich, wenn die Bürger sich zu den

Vorhaben von Ingenieurbüros äußern, die ganz im Sinne der Auftraggeber konzipiert sind und die

Bürger mit ihren Vorstellungen ins Leere laufen lassen. Was die Regierenden für richtig halten steht

in der Regel mit dem im Widerspruch, was die Bürger wünschen. Das ist ein großes Manko für die

technische Entwicklung, weil damit eine technische Alternative verhindert wird. Die technische

Entwicklung muss andere Wege gehen, sie muß mehr durch die Interessen der Bürger bestimmt

sein, sonst hört das nie auf, daß der Bürger gegängelt wird und in mancher Hinsicht völlig außen

vor gelassen wird.

 

So wurden nach der Wende in den östlichen Bundesländern vielfach zur Abwasserentsorgung falsche Entscheidungen getroffen, die von den Bürgern technisch-ökonomisch abgelehnt wurden. Man kann dieses Phänomen etwa so charakterisieren: Je grundsätzlicher eine technische Entscheidung ist, desto weniger Einfluß haben die Bürger darauf. Sie haben sich den vorgefaßten Absichten unterzuordnen, obwohl ihnen das letzte Wort zusteht. Es geht hier um das Heraushalten der Bürger aus der finanziellen Sicherung, als auch um ihre Mitsprache bei der konzeptionellen ästhetisch-funktionellen Gestaltung. Solange die technische Politik vom privaten Interesse und nicht vom gesellschaftlichen Erfordernis bestimmt wird, sind solche Fehlentscheidungen unvermeidlich, auch wenn sie von den Parlamenten abgesegnet werden. Die Bestimmung der technischen Entwicklung steht vor einem Paradigmenwechsel. Die Volkssouveränität macht auch vor ihr nicht Halt. Im Gegenteil, hier wird in das Leben des Volkes eingegriffen, deren Funktion ihm in keiner Weise verborgen bleiben darf.

Die Übernahme der Verantwortung für die technische Entwicklung durch die Bürger ist der

endgültige praktische Ausstieg aus der Herrschaftsgesellschaft. Diese Übernahme ist eine

Forderung, die der zunehmenden subjektiven Freisetzung Rechnung trägt.

 

Der Zusammenhang zwischen Technik und Kultur ist von zentraler Bedeutung, der bisher dem

dominierenden Einfluß der Herrschenden unterworfen war. Von ihnen kamen die Anstöße zum

Aussehen der Gesellschaft. Sie befanden über die moralischen und ästhetischen Werte. Das drückte

sich dahingehend aus, daß die Kultur häufig mit den Namen der Herrschenden genannt wurde. Das

ist aber heute nicht länger hinnehmbar. Die kulturelle Gestaltung der Gesellschaft wird

demokratischer. Damit ändert sich das Aussehen der Gesellschaft und die Wirkung auf die

Menschen. Die martialischen Züge treten in den Hintergrund. Heutzutage gibt es auf allen Gebieten

Stars und Experten, die den Ton angeben, was zeitgemäß ist. Aber zeitgemäß ist das nicht.

Zeitgemäß ist die Eigenentscheidung und damit die Vergrößerung der Vielfalt.

 

Diese Wendung im Verhalten der Menschen führen wir auf den dritten technischen Typ zurück. Das

heißt, zwischen der Automatisierung und freien Individualisierung jedes Einzelnen besteht ein

kardinaler Zusammenhang. Wenn dem so ist, bedeutet das wiederum, die Gesellschaft muß so

eingerichtet sein, daß der Einzelne über den ihm angebotenen Freiraum verfügen kann. Es entspricht

nicht dem Sinn des Menschen, wenn der größere Freiraum für den Einzelnen organisiert wird,

sondern dieser je nach seiner Individualität ihn selbst ausfüllt, gemeint ist die produktive Nutzung

durch den Einzelnen. Erst auf diese Weise entsteht ein gewaltiger produktiver Zuwachs als

Voraussetzung für die zunehmende Gegenstandsvielfalt des Menschen. Es geht nicht um eine

Beschäftigung des Menschen, sondern um die eigenverantwortliche Selbstorganisation des

Einzelnen. Das setzt die umfassende Nutzung des technischen Freisetzungseffektes voraus, seine

Freisetzung von technischen Zwängen und die Nutzung eines neuen Gegenstandes. Hieran wird

deutlich, daß die private Orientierung für die Gesellschaft von morgen ein für allemal erledigt ist.

Die heutige Politik muß sich darauf einstellen. Das tut sie aber nicht, sondern sie empfindet die

technische Freisetzung als Ballast, von dem man sich möglichst mit geringem Aufwand trennen

sollte, Hartz IV war eine große Dummheit, die deutlich machte, daß die Regierenden die

Freisetzung als ein Geschenk des homo technicus nicht begriffen haben.

 

Der Übergang vom zweiten zum dritten technischen Typ ist der größte Umbruch in der bisherigen

Menschheitsgeschichte. Er wird von der gesamten Menschheit vollzogen. Eine Politik der zwei

Geschwindigkeiten würde eine neue Spaltung der Menschheit heraufbeschwören. Die Kenntnis des

objektiven Zusammenhanges zwischen dem dritten technischen Typ und der Ausbildung der freien

Individualität ist eine Voraussetzung für die einzuschlagende technische Politik eines Volkes, die

eben nicht international gesteuert werden kann. Sie ist zugleich ein Bewertungsmaßstab für den

Erfolg technischer Entscheidungen. Das Argument, daß eine zentrale Steuerung der ökonomischen

Rationalität dienlich sei, ist ein ökonomischer Fallstrick herrschaftsgesellschaftlichen Denkens. Je

mehr der Mensch seine Individualität ausbildet, desto weniger darf man ihm reinreden, wie er das

besorgen soll. Alles Schöpferische ist eine Erweiterung des Gegenstandes menschlicher Tätigkeit.

Praktisch wird dieser Umbruch noch nicht vollzogen, da die Menschen weltweit sich noch immer

entsprechend der Herrschaftsgesellschaft organisieren. Einerseits drängt die Weltgesellschaft auf

technischen Fortschritt, weil ihr bewußt wird, das hiervon die Lösung der Probleme abhängt, wie

Beendigung der Naturzerstörung durch den Menschen, Schutz der Erde vor interplanetaren

Gefahren, Befriedigung der wachsenden kommunikativen Bedürfnisse gegenüber der umgebenden

Natur. Andererseits sträuben sich starke reaktionäre Kräfte gegen eine Erneuerung, weil sie nicht

auf ihre Privilegien verzichten wollen. Ihr fortschrittsfeindliches Verhalten führt zu Konflikten. Die

Erkenntnis dieses Widerspruchs ist Voraussetzung einer friedlichen Umwandlung. Deshalb steht sie

am Anfang einer alternativen Aufklärung. Je mehr Menschen zu dieser Einsicht gelangen, desto

größer ist ihre Zuversicht auf die Zukunft. Es ist nicht die Not, sondern die Zuversicht auf Morgen,

die den Menschen stark macht.

 

Johannes Hertrampf – 03-08.2019