Souverän und Parlament

 

13. Mai 2008 FP Deutschlands

von J. Hertrampf

 

Das Missverhältnis zwischen dem Volk als Souverän einerseits und der regierenden Oberschicht andererseits bestimmt mehr und mehr das gesamte Leben in der BRD. Dabei stellen Regierung und Parlament als institutionelle Exponenten der regierenden Oberschicht zwar äußerlich zwei unterschiedliche politische Einrichtungen dar, doch die Politik wird zwischen den Parteispitzen der Großen Koalition ausgehandelt, so dass Regierung und Parlament nur noch formal unabhängig voneinander handeln. Wenn die Parteispitzen sich auf einen bestimmten Modus geeinigt haben, dann bedeutet das die Gleichschaltung der politischen und medialen Instanzen von oben bis unten.


Und dabei sollte das Parlament die maßgebliche politische Einrichtung sein, weil sie in Vertretung des Volkes, dem letztendlichen Souverän im Lande, spricht. Diese Entmündigung des Parlaments durch die Parteien richtet sich gegen die Volkssouveränität, da das Parlament für die Durchsetzung der Souveränität eine Schlüsselstellung besitzt. Die Parlamentarier haben eine große Macht, insofern sie das Recht haben, unmittelbar Gesetze zu verkünden, also das Leben des gesamten Landes in bestimmter Weise zu steuern. Doch dieses Recht des vom Volk befugten Parlaments steht heutzutage nur auf dem Papier, da die Entscheidungen selbstherrlich in den Parteizentralen getroffen werden. Dass die Parteizentralen selbst wiederum nicht die Richtung der Gesetze festlegen, sondern die von Wirtschaft und Banken gemachten Vorgaben umsetzen, ändert nichts an der Schlüsselstellung der Parteizentralen. Die Parteien sind das direkte und entscheidende Scharnier zur Einarbeitung der Interessen der Wirtschafts- und Finanzkreise in Gesetzestexte. Die Parteien machen aus dem Parlament eine willfährige Abstimmungsmaschine und damit die Idee der Demokratie zur Farce. Daraus ziehen manche Kritiker den Schluss, dass die Demokratie selbst ein untaugliches Mittel sei. Doch der heutige Makel der Demokratie resultiert nicht aus ihrem Wesen, sondern daraus, dass sie eine von Parteien gelenkte Demokratie ist. Die Frage, der sich die Kritik stellen muss, lautet daher: Wie kann die Entmündigung des Parlaments durch die Parteien überwunden werden? Laut Gesetz sollen zwar die Parteien die Willensbildung des Volkes beeinflussen, aber in der Wirklichkeit fungieren sie als politischer Wille, der im Namen des Volkes vollzogen wird. In ihrem Selbstverständnis stehen sie über dem Volk und werden immer versuchen, ihren Willen im Parlament durchzusetzen. Dass dieser Parteiwille von finanziell und ökonomisch Mächtigen gesteuert wird, indem sie sich die Parteiführer in die Aufsichtsräte holen oder ihnen die Lobbyisten in den Pelz setzen und sie damit die Parteien zur Manipulierung des Volkes benutzen, ist wieder ein besonderes Problem.

 

Parteien sind Werkzeuge, zum Zwecke, die volle Volkssouveränität zu verhindern. Die Eliminierung der Parteien als Transformator des politischen Willens in politische Realitäten ist damit ein Schritt in Richtung einer neuen Stufe der Volkssouveränität. Das bedeutet noch nicht die Beseitigung der Parteien mit ihrem gesetzlichen Auftrag, sondern nur die Fernhaltung der Parteien aus dem unmittelbaren politischen Gestaltungsprozess. Parteien sind also aus dem Parlament zu verbannen, damit ein qualitativer Wandel der Demokratie eintreten kann

Die Parteiendemokratie ist gegenüber selbstherrschaftlichen Formen ein großer Fortschritt in der Durchsetzung der Volkssouveränität, aber sie trägt deutlich Herrschaftszüge. Der weitere Fortschritt kann nur darin bestehen, sie von diesen diesem Herrschaftssymptom zu befreien. Und das bedeutet, die Parteien als Machtinstrumente auszuschalten. Die Reformierung der Demokratie muss sich also auf den Zusammenhang Souverän und politische Führung konzentrieren, wobei es besonders um das Parlament als den Kernbereich der Demokratie geht, also darum, wie das Parlament wirklich zum Repräsentanten des Volkswillens wird. Die Beziehungen zwischen dem Souverän und dem Parlament müssen in der Hinsicht neu bestimmt werden, dass es zur Erweiterung der Rolle des Souveräns kommt. Das ist die Richtung der politischen Reform, die der historischen Gesetzmäßigkeit entspricht und ist damit die einzige Chance zur Verifizierung der politischen Entscheidungen.

Die Parteien aus dem Parlament hinauszudrängen, ist nicht lediglich ein formaler Akt, sondern beinhaltet, die Funktion des Parlaments neu zu bestimmen, um das Werkzeug Partei unbrauchbar zu machen. Das betrifft vor allem die Rolle des Abgeordneten im Verhältnis zwischen Souverän und Parlament. Er ist eben mehr als einer, der nur sein „Händchen“ hebt.

 

Aber das betrifft auch die gesamte Arbeitsweise das Parlaments.

Welche reale Legitimation darf ein Parlament haben? Welche Rechte und welche Pflichten hat es bzw. soll es künftig haben? Schon der Begriff der Pflicht in Hinblick auf das Volk ist den heutigen Parlamentariern nicht geläufig. Ist das Parlament, wenn es für eine Legislaturperiode gewählt wurde, unbedingt legitimiert oder unterliegt seine Legitimation bestimmten Einschränkungen? Die Spielregeln des Parlaments dürfen sich nicht nur auf den Umgang unter den Abgeordneten beziehen, sondern sie müssen sich vor allem auf die Beziehungen zwischen dem Souverän und dem Parlament erstrecken. Wir wollen hier gar nicht davon sprechen, dass die Parlamentarier und Politiker Diener des Volkes sein sollen. Das ist nur eine heuchlerische Floskel zur Täuschung des Souveräns, die gern gebraucht wird. Sondern wir wollen das Wort einer klar definierten vertraglichen Beziehung reden, wie sie zwischen einem Unternehmer und einem Angestellten üblich ist, wobei der Souverän der ursprüngliche Vorgesetzte ist, dessen Stellung durch nichts in Frage gestellt werden kann. Einen solchen Vertrag gibt es gegenwärtig nicht. Der Schwur der Abgeordneten und Politiker gehört einer Zeit an, in der nicht der Vertrag dominierte. Die Wertlosigkeit dieses Schwures wird immer dann sichtbar, wenn Politiker mit der Phrase, sie würden die politische Verantwortung übernehmen, ihren Dienst quittieren. Heute sind derartige grundlegende Beziehungen vertraglich zu fixieren. Die Welt der Parlamentarier muss daher der Welt der strikten Rechtsstaatlichkeit angepasst werden, denn in einem Lande kann es nur ein für alle geltendes Ordnungsprinzip geben. Es darf keinen rechtsstaatlichen Freiraum für die politische Oberschicht geben. Sonderstellungen sind immer Ausdruck von Privilegien, weisen immer auf Herrschaftsbeziehungen hin.

 

Die Parlamentarier des Bundestages verstehen sich gegenwärtig für unbedingt legitimiert. Aus der Tatsache, dass das Parlament aus Wahlen hervorgegangen ist, leiten sie eine unbegrenzte Berechtigung für ihr Handeln ab. Durch die Wahl fühlen sie sich dazu auserkoren, nach ihrem Gewissen zu entscheiden und ignorieren die Kritik des Wählers. Durch den Wahlakt haben sie, jedenfalls in ihrer Einbildung, eine Wandlung erfahren vom normalen Menschen zum Übermenschen, sehen sie sich in der Rolle des Souveräns. Aber die Stimmabgabe bei der Wahl besagt nicht, dass sie den Status des Souveräns übernommen haben. Aufgrund dieses Missverständnisses halten die Parlamentarier es für rechtens, dass sie Beschlüsse fassen abseits vom Willen des Wählers und dass sie Beschlüsse fassen, die sie als Kaste aus dem Wahlvolk herausheben. Einmal gewählt, nehmen sie sich das Recht heraus, sich für die Wahlperiode als Kreis der Auserwählten abzusondern.

Das bestehende Grundgesetz ist für den Gesetzgeber nicht bindend, denn er ist befugt, dieses jeweils seinen Vorstellungen anzupassen. Die Grundgesetztreue wird durch das Recht zur Grundgesetzänderung zu einem deklamatorischen Ritual. Damit kommen wir an einen wunden Punkt der Gegenwart. Wo sind die Grenzen der Gesetzgebung? Denn ein unbegrenztes Gesetzgebungsrecht öffnet die Tür zur Willkür.

 

Die erste Grenze ist, dass ein Parlament an die Verfassung, unter den heutigen Umständen an das Grundgesetz, gebunden ist und damit nicht das Recht hat, die Verfassung zu ändern. Dadurch, dass ein Parlament das Recht hat, Änderungen an der Verfassung vorzunehmen, dadurch stellt es sich über den Willen des Volkes, selbst dann, wenn die Verfassung nicht vom Volk bestätigt wurde. Der fatalste deutsche Verfassungsbruch im zwanzigsten Jahrhundert war das Ermächtigungsgesetz, angenommen durch die Mehrheit des Deutschen Reichstages. Der fatalste Grundgesetzbruch im 21. Jahrhundert war die Annahme des EU-Grundlagenvertrages von Lissabon. In beiden Fällen hat das Parlament jeweils unter äußerem Druck, also nicht nach freier Diskussion, seine eigene Existenz untergraben. Dabei lassen wir unberücksichtigt, dass das Grundgesetz dem Willen der westlichen Siegermächte entsprach, also nicht vom Volk bestätigt wurde und sich in der Hinsicht von der Verfassung des Deutschen Reiches unterscheidet. Es gab in Deutschland überhaupt noch nie eine Verfassung, über die das Volk in freier Entscheidung abgestimmt hat, insofern ist die Verfassung von 1919 ebenfalls nicht Ausdruck des Volkswillens. Daraus ziehen wir den Schluss: Es gab in Deutschland noch nie einen Zustand der Volkssouveränität, die es jetzt zu erreichen gilt, denn der höchste Ausdruck dieser ist, dass sich das Volk selbst die Bedingung schafft, unter der es leben will. Nicht das Volk als Souverän hat bisher eine Regierung berufen, sondern das waren immer die einflussreichsten Parteien. Das Volk wurde immer beherrscht, regiert. Innerhalb des demokratischen Herrschaftssystems gab es aber Unterschiede. So war die Idee der Volkssouveränität in der Reichsverfassung von 1919 zeitbedingt stärker ausgeprägt als sie es im heutigen Grundgesetz ist, wenngleich diese Idee damals wie heute nicht dem Geist des Buchstabens nach umgesetzt wurde. Die politischen Deformationen einer Zeit sind immer Ausdruck dafür, dass die Volkssouveränität missachtet wird.

 

Als Grundsatz möchten wir festhalten: das Volk hat über die Verfassung zu entscheiden und das Parlament hat sich an die Verfassung zu halten. Verfassungsänderungen durch das Parlament sind auszuschließen.

Die zweite Grenze ist die, dass der Souverän jederzeit das Recht hat, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz aufzuheben. Das gegenwärtige Petitionsrecht ist anachronistisch und lässt deutlich werden, in welchem Verhältnis der Abgeordnete und der Bürger sich tatsächlich befinden. Ebenso kritisch zu sehen ist das auf unteren Ebenen vorgesehene Recht zu Bürgerentscheiden, weil die Hürden dafür in der Regel hoch gelegt sind und einen unzumutbaren ehrenamtlichen Aufwand erfordern. Petitionen und Bürgerentscheide drücken nicht die Respektierung des Bürgerwillens aus, sondern eine Abneigung gegen diesen. Auch die Abgeordneten können sich irren. Die Annahme, dass die Parlamentarier ein höheres Verantwortungsbewusstsein haben, als die Bürger, ist unbegründet. Gerade was den Bundestag anbelangt, hat er sich schon oft geirrt und wurde sogar schon durch das Bundesverfassungsgericht zurückgepfiffen. Wenn man klare Verhältnisse haben will, dann darf man sich nicht auf das Gewissen berufen, sondern auf Erkenntnisse, die vom menschlichen Verstand nachvollzogen werden können. Das Gewissen der Parlamentarier ist kein Born der Weisheit, sondern nur eine individuelle Begründung, in der persönliche Sicht und gesellschaftliche Ereignisse zu einem Urteil zusammenlaufen. Dabei lassen wir noch die persönlichen Schwächen, die von Lobbyisten ausgenutzt werden, außer Acht.

 

Als Grundsätze möchten wir hier festhalten: Der Abgeordnete hat einen Wählerauftrag und hat sich auf seiner Grundlage zu bewegen. Er ist dem Wähler gegenüber rechenschaftspflichtig.

Die dritte Grenze ist durch die Fassung des Wahlgesetzes gegeben. Mit dem Wahlgesetz werden die Konturen des Parlaments vorherbestimmt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Parteien nur das Recht haben, zur politischen Willensbildung des Volkes beizutragen, aber nicht in Anspruch nehmen dürfen, diesen Willen vorweggreifend selbst zu verkünden. Und das hat dann zur Folge, dass die Parteien als solche nicht mehr zu den Wahlen antreten, sondern nur Bürgerinnen und Bürger mit klarem Wählerauftrag, ohne jeden bestimmenden Einfluss einer Partei. Parteien können für ihre Ideen werben, aber sie dürfen nicht Beschlüsse fassen, deren Einhaltung von den Abgeordneten erwartet oder gar erzwungen wird. Das muss als ein verfassungsfeindlicher Akt bezeichnet werden. Die Demokratiefeindlichkeit ist nicht nur rechts und links in extremistischen Ansichten zu suchen, sondern auch bei denen, die sich als Gralshüter der Demokratie ausgeben und dabei Vorrechte beanspruchen.

 

Unsere heutige parlamentarische Demokratie krankt an diesen Gebrechen. Der heutige Bundestag basiert auf inzwischen weit überholten Vorstellungen. Er befindet sich als demokratisches Instrumentarium nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Nicht die parlamentarische Demokratie muss abgeschafft werden, sondern diese gegenwärtige Form, in der sich das Herrschaftsprinzip verbirgt. Wir brauchen nicht einen neu gewählten alten Bundestag, sondern eine politische Reform des Verhältnisses zwischen dem Souverän und den von ihm eingesetzten Vertretern. Die Situation ist heute eine andere als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Der Bürger heute ist nicht nur besser informiert, im Ergebnis eines Informationsschwalls, sondern er kann sich auch leichter informieren, so wie es ihm gefällt. Die modernen Kommunikationsmittel stärken seine Souveränität. Doch diese Möglichkeit wird durch die gegenwärtigen Strukturen und geltenden Politikwerte nicht berücksichtigt. Der Bürger wird nicht als Staatsbürger gebildet, sondern als Konsument. Damit wird er abgelenkt von seiner Aufgabe, wodurch diese allerdings nicht verschwindet, sondern in Konfliktsituationen sich äußert. Der Bürger wird nicht wie ein mündiger Bürger, sondern wie ein unmündiger Bürger behandelt. Das in ihm vorhandene und sich ständig vergrößernde subjektive Potential kann er nicht anwenden. So kommt es zu einem der größten Widersprüche der Gegenwart: die ungenutzte Individualität, die Verschleuderung von menschlicher Zeit.