Rezension "Parousia - Angekommen in der Freiheit"

 

11. April 2008 FP Deutschlands

von J. Hertrampf

 

Die Gegenwart ist stürmisch und drängt zur Veränderung. Eine bessere Situation als die gegenwärtige kann man sich für einen Roman, der in der Zukunft handelt, nicht wünschen, denn unsere Vorstellungen darüber, wie diese beschaffen sein sollte, sind zum einen sehr verschwommen und zum anderen wenig verbreitet. Von hier aus ist das Buch ein Stück aktuelle Aufklärung über die Welt von morgen. Die Handlung spielt nicht irgendwo und irgendwann, sondern liegt in Blickweite des Lesers – Friesland, Horstedt bei Husum, im Jahre 2041. Die Hauptfigur ist Jan Brodersen, ein junger Informatiker, der noch unter elterlicher Obhut lebt und gerade im Begriff ist, die ersten Schritte in ein selbständiges Leben zu unternehmen. Das heikelste Problem ist dabei seine Liebe zu Ayse, einem kurdischen Mädchen, das schon mit einem Kurden verlobt ist bzw. verlobt wurde. Obwohl beide um das ungeschriebene Gesetz wissen, das eine Verbindung zwischen ihnen untersagt, nimmt die Natur ihren Lauf, bis zum tragischen Ende, bei dem Jan den Tabubruch am Ende mit dem Tod bezahlen muss.

Diese Problemebene wird von einer zweiten begleitet, dem latenten Werteumbruch zwischen konservativer Sozialhaltung und rigoroser Neubestimmung der Lebensweise zwischen dem Vater, Philipp Brodersen und seinem Sohn. Das Besondere hieran ist, dass dieser Widerspruch eben schon in einer Zeit ausgetragen wird, die gerade einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Werteumbruch hinter sich hat. Die Bürger führen ein Leben ohne Obrigkeit. Für die Gemeinden, zu denen sie sich zusammengeschlossen haben, existiert kein Staat mehr so wie wir ihn heute kennen – und das weltweit. Die Menschen haben sich auf neue Weise in kommunalen Gemeinschaften organisiert, die reine Interessengemeinschaften sind, in denen sie alle Belange selbst entscheiden und verwalten. Damit ist auch die Politik, so wie wir sie heute kennen, aus der Welt geschafft. Es gibt kein von Parteien inszeniertes Machtgerangel mehr, keine politischen Intrigen und Kriege. Diese neue individuelle und soziale Freiheit führt zunächst zu einer stärkeren Betonung der traditioneller Werte, denen sich die Jugend zwar unterordnet, mit denen sie sich aber nicht abfindet. Der Jugend, zum mindest in Person von Jan Brodersen, schwebt mehr eine Gesellschaft universeller Gleichheit vor, nach dem Motto: alle Menschen sind gleich, ein undifferenziertes Weltbürgertum. Diese beiden Problemebenen geben genügend Anhaltspunkte für philosophische Überlegungen. Von dem Leben, so wie es dargestellt wird, hat man den Eindruck, dass es als Zusammenleben zwar schon nach neuen Maximen organisiert wird, aber dass die neuen Lebensinhalte sich noch nicht herausgebildet haben. Man ist eben, historisch gesehen, gerade angekommen und muss sich erst noch einrichten.

Die beiden hauptsächlichsten Gesprächsgegenstände zwischen Sohn und Vater sind der Staat und der Föderalismus. Der Vater, der selbst noch die alte Zeit miterlebt hat, sieht als den Kern allen Übels in der Vergangenheit die Existenz von Staaten, während dem Sohn diese radikale Kritik zu pauschal ist. Er möchte den Staaten auch positive Züge zugestehen und die starke Differenzierung der neuen Gesellschaft hält er für eine unrationelle Lösung. Aber diese Auffassung trifft eben nur zu, wenn man als Zweck der Rationalität den geringsten Aufwand definiert bei weitgehender Auslöschung der Individualität der Menschen und nicht die größte Entfaltung ihrer individuellen Anlagen zum zentralen Anliegen macht. Das Leben ist auch in dieser Gemeinde widerspruchsvoll. Vor allem das enge Nebeneinander von friesischen, türkischen und kurdischen Gemeinden enthält Reibungspunkte. Aber die Widersprüche eskalieren auf Grund des Fehlens staatlicher Ordnung von oben nicht zu sozialen Konflikten. Wird das Leben der Bürger von oben organisiert, dann werden die Widersprüche nicht gelöst, sondern nur unterdrückt, wird ihnen der kreative Drang genommen. Deshalb ist ein Leben nach Anordnung unproduktiv – „jede Regelung von oben, jede Bevormundung und Betreuung ist von übel.“ Der Leser mag an dieser Stelle etwas irritiert fragen, ob der Staat nur ein historischer Missgriff oder nicht doch auch eine historische Notwendigkeit war. Aber diese rigorose Ablehnung des Staates bringt auch neue Einsichten. Etwa die, dass für den Bürger Sicherheit und Ordnung durch den Staat überhaupt nicht gewährleistet wurden, obwohl er gerade darauf besonders pocht. Es wurde gefoltert gemordet und es wurden Kriege geführt. Und vor allem: je größer die Staaten waren, desto schlimmer war es. Selbst ein Staat, der sich als Sozialstaat bezeichnet, ist eine ausgemachte Lüge. Rechtstaat und Sozialstaat sind damit nur Komponenten der Herrschaft, sind Mittel, Abhängigkeiten und persönliche Unselbständigkeit zu erzeugen. Große Staaten sind aggressiv und despotisch. Sie sind dem Individuum gegenüber brutal. Ihre Sicherheit erfordert die bedingungslose Unterordnung und Nivellierung. Insofern gilt als allgemeine Regel, dass Sicherheit und Wohlstand der Bürger im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Staaten stehen. Das ist der Tenor Philipp Brodersens. Und er kommt zu der bemerkenswerten Feststellung: „Die Kleinstaaterei in Deutschland während des 17. und 18, Jahrhunderts war dem Wohlstand nicht hinderlich und der Kultur schon allemal nicht.“ Diese Gedanken des Vaters, die uns die geistige Welt eines konsequenten freiheitlichen Föderalisten vor Augen führen, provozieren den Leser zu Einwänden, sind aber zugleich attraktiv und fordern zu weiterem Nachdenken heraus.

Aber die neue bessere Funktion des Zusammenlebens resultiert nicht aus dem Fehlen des Staates schlechthin, sondern aus dem Wirken eines neuen föderalistischen Organisation. Zwei selbstverständliche, ungeschriebene Grundrechte sichern den Föderalismus: das Recht auf Heimat und das Recht auf Freizügigkeit. Beide sind konstituierende, das gesamte Zusammenleben bestimmende Grundrechte, denn der Verlust der Heimat, der Geborgenheit des Menschen, bedeutet auch Verlust der Freiheit. Und ebenso ist die ungehinderte Wahrnehmung der Eigenverantwortung die Weise, in der sich Freiheit realisiert. Freiheit als zentrale Idee, der Untertitel des Buches lautet ja auch: „Angekommen in der Freiheit“, hat in diesen beiden Prinzipien ihre Vorbedingung. Das ist wohl die gesellschaftsphilosophische Grundessenz des vom Vater vertretenen Föderalismus, in dem sich offenbar die Meinung des Autors kundtut. Damit unterscheidet sich dieser Föderalismus von dem, der in zivilisierten Staaten heute praktiziert wird. Selbst dort, wo man in der neuen Gesellschaft bis hart an die Grenze des friedlichen Zusammenlebens stößt, siegt die Vernunft. Der föderalistische Aufbau bewährt sich als Bedingung für Frieden und Freiheit. Dieses Prinzip räumt den Gemeinden größte Rechte ein, z.B., wen sie aufnehmen, mit wem sie kulturelle Beziehungen eingehen, wie sie die Bildung ihrer Kinder und Jugendlichen sichern, wie sie Vergehen gegen Sitten und Eigentumsdelikte ahnden, ja, welches Geld sie als allgemeines Tauschmittel bevorzugen, so dass „mittlerweile
… in der Welt eine Unzahl unterschiedlicher Zahlungsmittel auf dem Markt“ sind. Bei all diesen Regelungen gibt es keine Gesetze von oben, sondern die bestmögliche Zweckmäßigkeit für ein einvernehmliches Zusammenlebens als Teil des ganzen natürlichen Organismus ist entscheidend.

Aufschlussreich ist das Gespräch über Föderalismus, das Jan Brodersen während einer Dienstreise nach Afrika mit seinem älteren Kollegen Prehn führt. Selbstverwirklichung braucht Ordnung, aber eben keine von oben verordnete, sondern eine von unten hergestellte, also Föderalismus von unten, die sich je nach der Interessenlage auch immer wieder wandelt. Auf den Einwand, dass dieser Föderalismus die Menschheit in ein schier unendliches und damit unübersehbares Geflecht von Organisationen strukturiert, antwortet Prehn: „Aber er schafft Frieden.“ Und einige Zeilen weiter sagt er: „Freiheit verleiht Flügel. Eine Weisheit, die inzwischen tausendfach bestätigt wurde“. Im Unterschied zum Föderalismus der alten Welt, der seinem Wesen nach ein Herrschaftsform war, beruht der Föderalismus der neuen Welt nicht auf Herrschaft, sondern auf Freiheit, nicht als abstrakter Deklaration, die irgendwo in einem Gesetz steht, sondern als konkrete individuelle Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung, die wahrgenommen werden muss. Ein Leben in Freiheit ist anstrengend und verlangt ständige selbstkritische Überprüfung.

Die Hauptfigur der Handlung ist der Sohn, doch die geistige Hauptfigur, der Inspirator in den philosophischen Exkursen ist der Vater. Von ihm erfährt auch der Leser vor allem, wie die neue Gesellschaft funktioniert. Aber manches könnte weiter hinterfragt werden, manches bleibt auch offen, vor allem die Genesis des neuen Zustandes. Auf die Frage, wie es denn gelungen sei, den Widerstand der früher Mächtigen zu überwinden, antwortet Philipp Brodersen, der noch der Erlebnisgeneration angehört:. „Was damals geschah, ist auch mir, der es erlebt hat, immer noch unbegreiflich.“ Der Wandel kam nicht durch Gewalt und Aufstand, sondern durch allgemeine Einsicht in den Föderalismus. „Plötzlich hieß es überall: ‚Die großen Macher, die Ver-Führer, die Wohltäter, schickt sie in die Wüste! Was zu tun ist, nehmen wir selbst in die Hand.’“ An dieser Stelle hätte sich der Leser mehr Mitteilungen über den Ablauf des damaligen Geschehens gewünscht, denn immerhin war es der Beginn eines neuen Entwicklungsabschnitts des Menschen und die Kräfte, die sich dagegen gestemmt haben, können nicht ohne Wirkungen geblieben sein. .

Diese neue Gesellschaft ist im Roman bei weitem noch nicht fertig. Das ist nicht dem Autor anzulasten, sondern ist dem Zeitpunkt der Handlung geschuldet. Die politische Reform ist mit der Abschaffung des Staates und der Einrichtung einer neuen Selbstverwaltung zwar weitgehend abgeschlossen, aber die Auswirkungen auf die gesamte Lebensweise sind noch nicht sichtbar. Vor allem scheint hier die Frage bedeutungsvoll zu sein, wie sich denn der Inhalt der Tätigkeit des Menschen verändert hat. Gut gelingt es dem Autor, die neue Art des Zusammenlebens mit Ausländern darzustellen. Dabei hält er der heutigen gängigen Auffassung geradezu den Spiegel vors Gesicht. Der Föderalismus respektiert nämlich uneingeschränkt die Kulturkreise und die nationalen Eigenarten. Eine Assimilation oder Integration, wie sie heute betrieben wird, widerspricht seiner Auffassung, weil sie mit der menschlichen Selbstbestimmung unvereinbar ist. Der Föderalismus erscheint als der einzig gangbare Weg, auf dem die unendliche Vielfalt der Menschen sich zu einem funktionierenden Gesamtgebilde zusammenschließen kann. Damit wird der Föderalismus zum demokratischen Organisationsprinzip der Zukunft erhoben. Das ist die Erkenntnis, die am Ende des Romans für den Leser auf der Hand liegt, vorausgesetzt, dass er hat den Mut hat, sich von den Maximen der Herrschaftsgesellschaft frei zu machen.

Die gesellschaftsphilosophischen Reflexionen sind das tragende Gerüst des Romans. Die Romanhandlung wird deswegen nicht zu einer äußeren Hülle, zur Nebensächlichkeit. Es gelingt dem Autor, eine gelungene Synthese von Handlung und Idee herzustellen. Die philosophischen Gedanken und der Ablauf der Handlung bilden ein harmonisches Ganzes. Der Roman gibt uns einen Einblick in eine Welt, wie sie sein könnte und diese ist uns sympathisch. Auch wenn der Autor jeden Hinweis vermeidet, der Bezug zur Gegenwart ist offensichtlich. Denn es steht ja tatsächlich eine Zäsur vor der Tür. Mehr Rechte den Kommunen und mehr Rechte der Bürger bei den politischen Entscheidungen. Beides in die Wirklichkeit umgesetzt, würde die Menschen wieder aufraffen und ihnen wieder Sinn und Lebensmut geben und die gesellschaftliche Erneuerung in Gang setzen. Die Welt von morgen, so wie sie der Autor zeichnet, ist kein wünschenswertes hypothetisches Gebilde, sondern wirkt auf den Leser realistisch, weil das Denken und Handeln der Personen ihm vertraut ist. – Wir wünschen dem Werk viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Die Zeit drängt, denn in Anbetracht der Größe der Aufgabe ist das Jahr 2041 nicht mehr fern.

 

 

Karl-August Hansen
Parousia – angekommen in der Freiheit
Roman
Oppo-Verlag
ISBN 978-3-926880-18-5
196 Seiten