Johannes Hertrampf – 12.11.2016
Manchmal fordern Kritiker der heutigen Zustände die Wiederherstellung von Verhältnissen aus der deutschen Vergangenheit, die gar nicht wiederhergestellt werden können, weil sie so nicht bestanden haben und weiter: die sich nicht wiederherstellen ließen, weil die Menschen so nicht mehr leben möchten. Die Vergangenheit ist eine vergangene Welt, die sich nicht zurückholen lässt. Das betrifft auch das Deutsche Reich. Der König von Deutschland hat also keine Chance. Wirklich ist nur die Gegenwart. Der idyllische Rückblick ist eine Verfälschung von Geschichte, wie die Dämonisierung der Deutschen. Beides ist abzulehnen. Es müssen vielmehr zeitgemäße Antworten gefunden werden, die auf romantische Ideen verzichten. Und hier liegt ein Problem bei den Konservativen, weshalb sie leicht in die Isolation geraten.
.
Die meisten Menschen sind unzufrieden mit den Zuständen, eben weil kein Diskurs über Geschichte und Zukunft unseres Volkes stattfindet, weil kein gemeinsames Handlungsbewusstsein geschaffen wird, sondern weil die etablierten Politiker ihre Gedanken und Werte den Bürgern aufdrängen, weil sie die Bürger nur als Empfänger und nicht als Schöpfer von Leitideen sehen. Die Politiker wollen den Stellungswandel des Volkes im Geschichtsverlauf nicht wahr haben. Sie halten am alten Muster fest, das Volk zu regieren. Ihr Demokratieverständnis und das Demokratieverständnis des Volkes sind verschiedener Natur. Sie verstehen unter Demokratie, dass sie vom Volk gewählt werden, um das Volk zu regieren, indes das Volk unter Demokratie versteht, dass es die Politiker wählt, die den Willen des Volkes umsetzen. Der Begriff der Volkssouveränität ist also auf beiden Seiten grundverschieden. Beide Seiten kommen miteinander nicht ins Gespräch. Ein grundsätzlicher Umbau steht auf der Tagesordnung, den die Politiker verhindern wollen. Es wird das Kunststück derer sein, die diesen Umbau für unaufschiebbar halten, dass die Fäden in der Gesellschaft nicht abreißen. Ein gespaltenes Volk kann den Umbau nicht vornehmen.
Die Politiker bestreiten die Legitimität eines solchen Umbaus, unter Verweis auf die analoge Beschaffenheit der Zivilisation. Sie wollen nicht in Betracht ziehen, dass die Zivilisation eine Entwicklungsstufe ist. Herrschaft war in dieser der Grundzug aller Ordnung. Alle politischen Umbrüche waren Metamorphosen von Herrschaft. Die Politiker behaupten nun, diese fortwährende Umwandlung halte an, die Wandlung der Formen bei Beibehaltung des Inhalts fände kein Ende. Sie fragen nicht nach, was der Grund ist und was sich an diesem Grund ändert. Sie klammern ihn aus bzw. verfälschen ihn. Dass das Volk politische Veränderungen will, deuten sie als ungerechtfertigten Wutausbruch über die komplizierte Politik der „Eliten“, den man neutralisieren muss. Sie sprechen dem Volk die Fähigkeit zum vernünftigen staatspolitischen Denken und Entscheiden ab. Sie halten sich für unabkömmlich. Eine Alternative zum bestehenden System ist für sie der Untergang der Welt. Und dabei liefern sie täglich erschreckende Beweise ihrer eigenen Unfähigkeit. Betrachten wir nur die Zeit seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Sie versagten und lösten einander ab und hinterließen jeweils dem Volk die Rechnung. Die Rechnung des heutigen Systems übersteigt alle vorhergehenden. Von Regierungsseite her gibt es keine Offenlegung der finanziellen Lage Deutschlands. Die unmittelbare Notwendigkeit des Wandels entspringt dem Unvermögen der politischen „Elite“. Sie wird nicht mehr fertig mit den Problemen. Sie hat Angst vor dem Volk und vor der Ungnade ihres transatlantischen Auftraggebers. Sie sitzt zwischen den Stühlen.
Die Mehrheit des Volkes hat die Weisungen der Politiker bisher fügsam hingenommen, sie hat den Versprechungen geglaubt. Es brauchte viel Zeit, bis die heuchlerische Flüchtlingspolitik durchschaut wurde. Aber nun kann die Mehrheit nicht mehr glauben, denn die Widersprüche zwischen Versprechungen und Realität sind Abgründe. Falsche Politik zerstört die psychischen, materiellen und sozialen Grundlagen des Volkes. Doch darüber wird offiziell nicht gesprochen. Es gibt keine aufrüttelnde „Rede an die Nation“. Es findet kein nationaler Diskurs zur Richtungsänderung der Politik statt.
Die Nachkriegszeit Deutschlands war keine Erfolgsgeschichte. Die ostdeutsche Modalität von Fremdherrschaft, in Anlehnung an C. Schmidt, ist zusammengebrochen. Und die westdeutsche Modalität steht vor dem Zusammenbruch. Die westdeutsche Bundesrepublik sollte der Initiator der Einigung Europas nach westlichem Muster sein. Sie hat enorme Kräfte in die EU und den Euro gesteckt. Das Ergebnis erleben wir jetzt. Europa ist frustriert. Die Vorbehalte der Völker Europas gegenüber Deutschland wachsen und schlagen in offene Ablehnung um. Europa ist keine vorbildliche Völkergemeinschaft, sondern ein zerstrittener und angeschlagener Kontinent. Das ganze Bemühen war nicht nur vergeblich. Mehr noch. Deutschland ist für Europa ein gefährlicher Konfliktherd geworden. Für die deutsche Regierung ist das kein Anlass zur Selbstkritik und reumütigen Besinnung. Sie setzt ihren Kurs fort, obwohl in allen Schichten des Volkes die Empörung und Verachtung wächst. In dieser Situation verkündet Bundespräsident Gauck: „Wer hasst, wird in diesem Land nicht die Mehrheit erringen“ und meint damit pharisäerhaft, dass Widerstand vergeblich ist. Hierauf kann man bloß erwidern: „Und wer ein unbelehrbarer Versager ist, wird sie nicht behalten.“ Deutsche Geschichte beweist das.
Das drohende Ende unseres Volkes offenbart das Ausmaß der Krise. Es schiebt sich jeden Tag ein Stück näher heran. Hinter der äußeren Ruhe verbirgt sich steigende Nervosität. Was nun? Die Erfahrung besagt: Eine Bereinigung durch Austausch der Führung kam nie zustande. Immer folgte dem hoffnungsvollen Neuanfang der Absturz. Ein endgültiger Ausweg bleibt jedoch: die Demokratie. Politischer Wandel durch Demokratie, durch wahre Volkssouveränität, ist die letzte Chance.
Die Deutschen sehen das Ende kommen, aber sie schütteln die Regierung nicht ab. Sie warten darauf, dass jemand das für sie besorgt. Sie entscheiden nicht selbst. Sie besitzen nicht den Mut. Noch sind sie zu sehr Untertan statt Souverän. Noch sind sie unsicher, was sie danach tun müssen. Noch fürchten sie, dass ihre eigenen Kräfte zu schwach sind. Das alles macht sie zögerlich trotz steigender Unzufriedenheit. Sie haben kein Vertrauen in die eigene Kraft. Das Selbstvertrauen des Volkes aufzubauen, echtes ruhiges Selbstvertrauen, mit fester Entschlossenheit, ohne schäumende Begeisterung, ist die wichtigste Voraussetzung für die Säuberung durch Demokratie und das Überleben Deutschlands. Und darum geht es jetzt. Es ist müßig, auf eine Lichtgestalt zu warten. Es bringt nichts, die Änderungen weiter vor sich her zu schieben. Stattdessen muss auf allen Ebenen gesucht, entschieden und gehandelt werden. Wenn die „Oben“ die Signale von „Unten“ in den Wind schlagen, dann haben die „Oben“ in einer Demokratie ihre Existenzberechtigung verloren.
Wer erzeugt Hoffnung? Wer sind die Hoffnungsträger? Die etablierten Parteien werden ihrem grundgesetzlichen Auftrag nicht gerecht. Sie bauen nicht politischen Willen der Bürger auf, sie unterbinden ihn, indem sie die Bürger bevormunden. Und die Opposition? Wenn man zurückblickt, es hat sich viel verändert. Der Bürger ist vom kritischen Beobachter zum öffentlichen Sprecher der Kritik geworden. Dieser Wandel hält an. Pegida war ein erster richtiger Schritt zu dieser höheren Stufe. Die AfD hat sich in kurzer Zeit zu einer starken Oppositionspartei entwickelt. Der Zustrom hält an, weil sich die Regierenden völlig abgehoben haben vom Volk. Eine gemeinsame politische Schwerpunktsetzung der gesamten Opposition ist eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg und damit für das Schicksal Deutschlands. Sie muss weiter das elementare Versagen der Politik aufdecken und ihre Alternative aufzeigen. Vor allem muss sie dem Bürger Mut und Zuversicht geben, von seiner Souveränität über den Stimmzettel hinaus Gebrauch zu machen. Alle Politiker sind generell dem Bürger rechenschaftspflichtig und alle Parteien verfügen gemäß Grundgesetz über keine politischen Privilegien. Ein Gekungel um Spitzenpositionen, wie gegenwärtig um das Amt des Bundespräsidenten, ist eine Anmaßung sondergleichen.
Trotz aller Belebung der Opposition muss aber festgestellt werden, dass von einem realen Einfluss auf die Politik des Landes bisher kaum gesprochen werden kann. Woran liegt es, dass sie zwar Sympathie erfährt, aber die spürbare Politikänderung ausbleibt? Es fehlt noch an starker Bürgerbewegung. Der Bürger ist vorsichtig, er möchte die Veränderung, aber er möchte keine neue Enttäuschung. Er beobachtet die Opposition genau. Für sie ist wichtig, dass sie nicht in alte Fehler verfällt. Zwischen den verschiedenen Kräften müssen Kontakte bestehen und keine Abgrenzungsbeschlüsse. Keine Gruppierung sollte den generellen Führungsanspruch erheben und behaupten, den einzig richtigen Weg zu wissen. Das zu behaupten und sich gleichzeitig um klare Forderungen zu drücken, in der Hoffnung, niemanden vor den Kopf zu stoßen und viele anzuziehen, führt zum Opportunismus und verfehlt die Alternative. Die Folge ist, dass die Opposition sich im innerparteilichen Gezänk zermürbt. Dabei verliert sie das wichtigste politische Unterscheidungsmerkmal zu den Etablierten aus den Augen: das öffentliche und offene Gespräch mit dem Volk, die öffentliche und offene Rechenschaftslegung vor dem Bürger. Wer ihm den Einblick in die inneren Probleme und Hintergründe verwehrt, der braucht sich nicht über eine anhaltende latente Distanz zu beklagen. Offenheit ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke, sie macht stark.
Eine erfolgreiche deutsche Opposition liegt im Interesse aller Deutschen. Daher muss über sie öffentlich, sachlich gesprochen werden. Der Vertrauensvorschuss ist gut, doch muss er durch Leistung bestätigt werden, damit bei der nächsten Bundestagswahl die Gewissheit besteht, dass die Opposition sich nicht etablieren wird. Auch für die Opposition zählen letztlich die Fakten. Es ist nicht verwerflich, denjenigen, die auf die politische Bühne treten, mit kritischen Blicken zu begegnen, vor allem bezüglich ihres Könnens. Absichten sind Versprechen. Wer sich nicht vor der Bundestagswahl bewährt, der wird es auch nicht danach tun, denn die Anforderungen nach der Bundestagswahl werden größer sein. Der Souverän hat das Recht, alles unter Kontrolle halten. Demokratie ist anstrengend für die Politiker der Opposition und auch für den Souverän.
So unentbehrlich die Demokratie für die Selbstverwaltung des Volkes ist, so gerät sie jedoch leicht in Misskredit, wenn sie den Boden der Tatsachen verlässt und das Parlament zur Abnickmaschine von Parteisoldaten mutiert oder zur rhetorischen Übung mit Unterhaltungswert benutzt werden. Demokratie wird dann zum langweiligen Bühnenstück bzw. zum unterhaltsamen Zeitvertreib. In beiden Fällen verliert die Demokratie ihren substantiellen Inhalt, der darin besteht, reale gesellschaftliche Prozesse so zu gestalten, dass kontinuierlich und optimal das Gemeinwohl gesichert wird. Dazu muss man sich auf Tatsachen stützen. Und hier weicht die herrschende Politik aus. Sie entwickelt einen starken Zug, den Tatsachen aus dem Weg zu gehen. Um dieser Unterlassung den peinlichen Beigeschmack zu nehmen, wurde der Begriff postfaktische Zeit in Umlauf gebracht. Bei ihm scheint es so, dass es sich hier nicht um eine willkürliche Unterlassung handelt, sondern um einen modernen Umgang der Politik mit der Wirklichkeit. Die Fakten, von denen man ausgeht und die man ansteuern sollte, erscheinen als belanglos. Maßgeblich ist die Stimmung, die man erfassen muss, wenn man Menschen motivieren und orientieren will. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass das für jede Form von Herrschaft typisch ist. Die Herrschenden waren immer bestrebt, die faktische Wirklichkeit aus dem Blickfeld zu ziehen, sie haben immer den Visionen, vorwärts oder rückwärts, den Vorrang gegeben und damit ein illusionäres Bewusstsein gefördert. Zum herrschenden Bewusstsein zählt also nicht nur das, was offen die Herrschaft bejaht, sondern alles, was ihr nutzt. Alles, was den Irrtum verbreitet, ihn benutzt und bezweckt, was also falsches Bewusstsein ist und die Wahrheit verhindert, macht sich das herrschende Bewusstsein zunutze, bis hin zu offenen staatlichen Absicherung. Da das falsche Bewusstsein nicht zum Erfolg führt, sind die Herrschenden an falschem Bewusstsein über die Gesellschaft interessiert. Heute geht ihr Kampf gegen die Opposition sogar soweit, dass diese nicht selten von den Herrschenden selbst installiert und bezahlt wird und damit unter ihrer Kontrolle bleibt. Deshalb: Nicht die Absicht bestimmt den Charakter, sondern die Funktion. Auch eine auf einem Irrtum beruhende Kritik bewirkt eine das Herrschaftssystem erhaltende Funktion. Eine irrtümliche Theorie kann daher keine befreiende Theorie sein. Sie ist auch keine zwingende Voraussetzung für das Entstehen einer befreienden Theorie.
Das wissenschaftliche Herangehen ist die einzig reale Gefahr für das herrschende Bewusstsein, denn die Wissenschaft basiert auf der realen Welt. Die Kritik muss sich des wissenschaftlichen Denkens bedienen. Ein solches Denken erklärt die Wirkzusammenhänge und entscheidet über den Wert der Wertungen. Kein Wirklichkeitsbereich darf der Wissenschaft entzogen werden. Die Ablehnung der Wissenschaft von der Gesellschaft durch die Herrschenden entspricht ihrer gesellschaftlichen Rolle. Sie befürworten das Glück der Hoffnung, „Yes, we can“, wie ebenso „Wir schaffen das“, weil es nicht begründet ist und falschen Optimismus schafft. Der Wille versetzt Berge, jedoch nur in der Vorstellung. Um einen Berg wirklich zu versetzen, reicht der Wille bei weitem nicht aus.
Das postfaktische Bewusstsein ist keine Erfindung von heute, sondern eine Form des Herrschaftsbewusstseins, wobei der Wille der ausreichende Grund zum Handeln ist. Eine so begründete Politik muss scheitern. Und sie scheiterte auch. Das lässt sich belegen. Trotzdem wird an dieser Begründung festgehalten, weil sie den Schein einer Begründung liefert. Selbst eine nebulöse Begründung reicht dann für eine Berechtigung aus, denn der eigentliche Grund für diese liegt ja sowieso woanders. Für eine schlechte Absicht sind bekanntlich Gründe Wachsnasen, an denen je nach dem Interesse geknetet wird. Wichtig ist dabei, die Menschen ständig mit Oberflächlich-Neuem zu beschäftigen, um ihre Aufmerksamkeit zu binden. Um Bewegung zu erzeugen, reichen angeblich Willensakte aus, die eine Bewegung bis zur Erschöpfung der Kräfte auslösen, worauf der nächste Willensakt folgt. Und so fort. Alles tiefere Ausloten ist verpönt, weil es an die Wurzeln geht und die Zustände hinterfragt. Das durfte nicht sein. Aber jetzt muss es sein, weil alles eine Grenze hat.
Die wahre Volkssouveränität geht einen anderen Weg, sie will die Wirklichkeit verändern. Und sie misst sich daran, wie ihr das gelingt. Sie scheut nicht die Fakten, die Tatsachen der Wirklichkeit. Sie sucht nicht die Illusion, um sich über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen und wird von dieser nicht enttäuscht.
Johannes Hertrampf – 12.11.2016