Nationalstaat und Volkssouveränität

 

Johannes Hertrampf – 16.04.2016

 

Nach dem Kalten Krieg rückte die europäische Integration ins Zentrum der westlichen Politik in Europa. Dabei ging es zum einen um die Erweiterung ihrer Einflusssphäre nach Osten und zum anderen um den Abbau der nationalen Selbständigkeit der europäischen Staaten. Gleichsam über Nacht löste sich der östliche Block auf. Die Völker hatten sich vom Kommunismus abgesagt und sahen erwartungsvoll der Zukunft entgegen, die von den westlichen Führern vorgezeichnet wurde. Die ehemals sozialistischen Staaten waren wirtschaftlich erschöpft und besaßen keinen geistigen Rückhalt bei den Bürgern. Bereitwillig nahmen diese die Idee der europäischen Einheit auf oder wie Gorbatschow es gesagt hatte, die Schaffung des Gemeinsamen Europäischen Hauses. Die über Jahrzehnte dauernde Konfrontation der beiden Weltsysteme hatten die Menschen, besonders östlich des Eisernen Vorhangs, als aufdringliche Politisierung ihres Alltags erlebt, mit dem Zweck, die politische Führung zu bestätigen und das persönliche Leben dem weltgeschichtlichen Ringen unterzuordnen. Diese erzwungene Selbstverfremdung waren sie nun los. So erlebten sie die neue Ordnung. Ihre Erwartungen an die Zukunft waren groß, im Unterschied zu den Menschen westlich des Eisernen Vorhangs, für die sich nichts änderte.

 

 

Ein neues Leben sollte beginnen, ein Leben in persönlicher Freiheit. Die Öffnung der Grenzen, die individuelle Freizügigkeit und die Erhöhung des Warenangebotes schufen eine Aufbruchsstimmung. Die Freiheit war der Inbegriff, der von nun an alles durchziehen sollte. Miteinander die europäische Integration zu gestalten, anstatt sich durch Feindbilder gegenseitig in Spannung und Ängste zu versetzen, war eine populäre Vision, die von den Menschen hüben und drüben aus tiefstem Herzen gewünscht wurde. Freiheit, Demokratie, Frieden und Wohlstand waren die dominierenden Leitgedanken für die Einigung Europas, mit denen alle einverstanden waren. Für eine analytische Betrachtung war in dieser Zeit keine Zeit. Wozu auch? Das überlegene System existierte doch.

 

Die Schaffung der EU, das Schengen-Abkommen, die Einführung des Euro und die Osterweiterung der Nato,waren Meilensteine. Die Bundesrepublik Deutschland, mit H. Kohl als Bundeskanzler, übernahm die Führung, gleichsam als Bestätigung dafür, dass die europäischen Völker, trotz der schlechten Erfahrungen mit den Deutschen, einer neuen Rolle Deutschlands in Europa zustimmten.  In dieser euphorischen Stimmung gab es nur einen Quertreiber – Russland.

 

Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Russland und den darauf folgenden Privatisierungen der Wirtschaft gelang es dem Westen jedoch nicht, in diesem Riesenreich den von ihm beabsichtigten Systemwandel durchzusetzen. Es mangelte an regimekritischen Dissidenten. Russland hatte im Zwanzigsten Jahrhundert einen schweren, opferreichen Gang hinter sich. Dass es sich zu einer Führungsmacht aufgeschwungen hatte, wurde von der Mehrheit des Volkes bejaht. Trotzdem wollte diese Mehrheit kein Zurück in die alten Sowjetzeiten. Ebenso stieß eine Politik, die sich zu sehr mit dem Westen einließ, diesen Vorwurf musste sich Gorbatschow gefallen lassen, auf Ablehnung. Mit Jelzin wurde zwar ein Mitglied aus dem früheren Machtapparat zum Präsidenten des Landes gewählt, der sich aber energisch für einen politischen Neuanfang und tiefgreifende Wirtschaftsreformen, vor allem der Umstellung der starren staatlichen Planwirtschaft auf unternehmerische Privatwirtschaft, einsetzte.

 

Jelzin strebte einen gesellschaftlichen Wandel an, der einen eigenen russischen Verlauf nahm, also ohne sich dabei dem Westen zu unterwerfen oder in Abhängigkeit zu begeben. So gelang ein Umbruch, trotz wirtschaftlicher und sozialer Krisen, bei dem die eigene nationale Zuständigkeit nie in Frage stand. Und das war mit Sicherheit der maßgebliche Grund für den Zusammenhalt des Landes in dieser schwierigen Zeit.  Noch gut in Erinnerung ist, dass H. Kohl das Angebot machte, tausende Wirtschafts- und Finanzberater nach Russland zu schicken. Doch dieser Deal scheiterte am russischen Nationalstolz und an dem aus Sowjetzeiten nachwirkenden tiefen Misstrauen gegenüber den USA und dem Westen überhaupt. Weiterhin soll hervorgehoben werden, dass Russland diesen Umbruch vollzog bei gleichzeitigem Verzicht auf Einmischung in die deutsche Politik. Mit der Auflösung des östlichen Machtblocks hatten alle früheren Mitgliedsländer ihre Unabhängigkeit gewonnen. Auch die ehemalige DDR. Das Vasallenverhältnis war erledigt.

 

 

Als dann Putin die Macht übernahm, änderte sich das Verhalten des Westens zu Russland. Putin führte die nationalausgerichtete Politik seines Vorgängers fort, konnte den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang beenden und gab dem russischen Volk das Selbstvertrauen zurück. Der Westen erkannte, dass sein Bestreben, vor allem Zugriff auf die Naturschätze und den russischen Markt zu bekommen, gescheitert war. Von nun an wurde vom Westen zwischen Russland und Europa unterschieden und besonders die Einbindung der osteuropäischen Länder in das westliche Europa betrieben. Russland wurde aus der europäischen Einigung ausgeschlossen.

 

Mit dem Krieg der NATO gegen Restjugoslawien 1999 statuierte der Westen ein Exempel, dass er  unter Bruch des Völkerrechts bereit war, kleine widersetzliche Staaten mit militärischen Mitteln in die Knie zu zwingen. Schröder, Fischer und Scharping laufen bis heute als Hauptakteure der damaligen Bundesregierung frei herum. Sie wussten um das NATO-Diktat von Rambouillet und die feste Absicht der USA, das Milosevic-Regime militärisch aus der Welt zu schaffen. Dieser Krieg war ein Signal an Russland. Aus der kommunistischen Gefahr wurde die russische Gefahr, gegen die sich die ehemaligen Ostblockländer wehren müssten. Der Rat an sie: Je mehr sie sich in die westliche Welt integrieren würden, desto sicherer würden sie vor dem russischen Bären sein. Um Vertrauen zu wecken, wurde die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit in den Vordergrund gestellt.

 

Dieses Angebot zeigte Wirkung. In den ehemaligen Ostblockstaaten gab es gegen die Mitgliedschaft in NATO und EU keine ernsthaften Widerstände. Faktisch bedeutete das: Die alte Spaltung Europas war überwunden und eine neue zwischen Europa und Russland hergestellt. Russland wurde de facto zur potentiellen Feindmacht erklärt. Das war die Reaktion auf den vergeblichen Versuch des Westens, Russland in seinen Einflussbereich zu ziehen.

 

Die erneute Einschränkung der nationalen Freiheit diesmal durch EU und NATO wurde in den osteuropäischen Staaten durchaus kritisch registriert. Ein Ausdruck dafür war die Bildung von nationalen Strömungen, die sich in einer zweifachen Abwehrhaltung befanden. Sie waren antikommunistisch und antirussisch ausgerichtet und zugleich hatten sie Vorbehalte gegen die Verwestlichung ihrer Länder. Diese Strömungen beriefen sich auf die Geschichte ihrer Völker, in der die nationale Befreiung ein zentrales Anliegen war. Und jetzt boten sich die Westmächte als Heilsbringer an? Die Erfahrungen sitzen tief im Gedächtnis der Völker und schärfen den Blick, wenn es um die Beurteilung der Weltpolitik geht. Einerseits suchen die osteuropäischen Länder aus Angst vor Russland die Nähe zu den westlichen Mächten, andererseits sehen sie die Gefahr, die gewonnene Freiheit wieder zu verlieren. Insofern haben sie Vorbehalte, zumal die wirtschaftlichen Versprechungen ausblieben.

 

National-orientierte Parteien und Bewegungen haben in den ehemaligen Ostblockländern also ihre Berechtigung und üben, im Unterschied zu den nationalen Kräften in den westlich ausgerichteten Kernländern der EU, einen spürbaren politischen Einfluss aus. Die schon 1991 gegründete Visegrad-Gruppe, der Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn angehören, ist ein Beispiel nationalstaatlicher Kooperation. Sie wurde von der EU-Führung ignoriert, weil sie nicht in das Konzept der Europäischen Integration passt.

 

 

Die osteuropäischen Länder hatten bisher keinen Einfluss auf die EU-Politik. Erst jetzt mit der Flüchtlingskrise änderte sich ihr Gewicht. Sie lehnten die Quotenregelung ab und schlossen die Fluchtkorridore durch ihre Länder. Sie beharren auf ihrem nationalstaatlichen Vorrecht und verweigern der EU-Führung die Gefolgschaft. Auch Österreich und Dänemark gehen eigene Wege.

 

 

Die Entscheidung der Niederländer gegen das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine belegt den prinzipiellen Charakter ihrer Kritik an der EU. Sie wollen nicht mehr Werkzeug in den Händen der EU-Führung sein.

 

 

Die Besinnung auf die demokratische Selbstbestimmung gewinnt in der EU an Boden. Das ist der Grund, warum die EU-Führung dem Nationalstaat den offenen Kampf angesagt hat. Der Ton in den deutschen Medien gegen Ungarn ist direkt feindlich. Auch war erstaunlich, wie unverhüllt die EU-Spitze, mit voller Unterstützung der deutschen Medien, Polen wegen des Sieges der konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ bei den Parlamentswahlen vom 25.10.2015 rüffelte und die national-konservative Regierung sogar nach Brüssel zitieren wollte. Zwar hat sich die Stimmlage wieder gemäßigt, aber in der Sache änderte sich nichts an der Haltung. Die EU-Führung weiß, dass dieser offene Widerstand schnell zu einem nicht mehr beherrschbaren Flächenbrand führen kann, der in der Auflösung der EU endet. Der Zusammenbruch eines lebensunfähigen Systems mit schwindel-erregender Geschwindigkeit ist kein spezifisches Merkmal des Ostens, sondern Merkmal eines jeden aufs äußerste überspannten todkranken Systems. Wenn diese Länder ohne Zustimmung durch die EU-Führung, ja sogar gegen deren Willen, Zäune bauen, Fluchtkorridore versperren und gegenüber der EU-Führung um Merkel kein Blatt mehr vor den Mund nehmen, lösen sie tektonische Erschütterungen aus, gegen die Merkel, Schulz, Juncker und Tusk machtlos sind.

 

 

Die Proteste der osteuropäischen EU-Länder resultieren aus unmittelbaren Zwangslagen.  Die Völker können die Belastungen nicht tragen. Die Staaten erfüllen deshalb ihre Schutzfunktion. Wer sie wegen ihres Vorgehens zu kritisiert, wie Herr Tsipras, verschweigt, dass die westlichen Länder durch ihre Politik sie in diese Situation gebracht haben. Die osteuropäischen Länder verdienen zu Recht die Bezeichnung Nationalstaat, im Unterschied zu den EU-Staaten, die das nicht tun. Dieser Begriff hat einen Inhalt, der sich auf die Erhaltung der Nation bezieht. Nationalstaat kann also nur ein Staat sein, dessen Handeln auf das Wohl des eigenen Volkes gerichtet ist. Ein Staat, der das nicht tut, hört auf Nationalstaat zu sein. Ein Staat, der nicht als Nationalstaat handelt, ist eine kriminelle Institution über dem Volk. Er hat keinen Sinn für das Volk. Er schützt es nicht. Und dazu passt auch der Satz: „Ein Staat, der seine Grenzen nicht sichern kann, verliert seine Staatlichkeit“, denn die Sicherung der Landesgrenzen vor terroristischen und kriminellen Elementen ist eine elementare Aufgabe in der ganzen Geschichte des Staates. Wenn der Bürger Steuern zahlt, aber der Staat die Bedrohung durch Terror und Kriminalität sogar noch fördert, deutschfeindliche Aktionen toleriert und den sozialen Abstieg nicht unterbindet, sondern vorprogrammiert, dann ist er nicht der Staat seiner Bürger. Das nationalstaatliche Kriterium ist ein allgemeines Staatskriterium. Auf Grund der Kräfteverhältnisses im Land, ist der Staat immer mehr oder weniger Nationalstaat oder mehr oder weniger kriminelle Institution. Es ist klar, dass in Zeiten, da der Staat seinen nationalstaatlichen Charakter verliert, die Demokraten den nationalstaatlichen Charakter betonen. Die Gegner des Staates als Nationalstaat kreieren einen Staatsbegriff, der nicht die nationale, die volkserhaltende Funktion impliziert. Ihr Staatsbegriff ist die Abwicklung des Nationalstaats, die in einem Zustand der unbegrenzten Schutzlosigkeit des Volkes endet. Ihr Staatsbegriff ist damit die Legitimierung der kriminellen Entgleisung des Nationalstaates.

 

 

In einer Kolumne auf SPIEGEL-ONLINE vom 20.03.2016 bezeichnet Henrik Müller die Rückbesinnung auf den Nationalstaat als „unvernünftigen Irrweg“. Obwohl der Nationalstaat überholt sei und den globalen Problemen gegenüber ohnmächtig sei, erlebe die EU auf Grund der Dauerkrisen der vergangenen Jahre, Finanz-, Euro- und jetzt die Flüchtlingskrise, „einen Rückbezug auf immer kleinere staatliche Einheiten.“ Am Ende resigniert der Autor mit der Feststellung: „Es ist der Triumph nationaler Gefühle über die Vernunft. Ein Irrweg, rational betrachtet.“ Da stellt sich doch die Frage: Wer hat denn die EU-Führung um Merkel, Juncker und Schulz daran gehindert, die Krisen zu vermeiden bzw. zu lösen? Sie hatten doch freie Hand. Die Rückbesinnung auf den Nationalstaat ist eine Antwort auf das Versagen der EU. Wenn Staaten diese Schlussfolgerung ziehen, weil sie ihren Völkern den weiteren Abwärtsstrudel nicht zumuten wollen, wird ihnen dann von einem deutschen Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund die Schuld am Zerfall der EU vorgeworfen. Auf diesem Niveau werden nun Journalisten ausgebildet!

 

 

Welches sind die hauptsächlichen Argumente gegen den Nationalstaat, der im Leben der Völker die wichtigste praktische Form ihrer nationalen Identität ist?

 

 

1.                  Die politische Ablehnung

 

 

Es heißt: Der Nationalstaat erzeuge Interessengegensätze, weil er auf nationalen Vorteil bedacht ist. Diese seien der Ausgangspunkt für Konflikte. Der Krieg werde zwischen Staaten geführt, die um die Vorherrschaft kämpfen. Aber – der Staat ist kein selbstbestimmtes Wesen, er arbeitet auf Anweisung. Er ist ein Mittel der Herrschenden. Staaten führen Kriege im Auftrag und formieren dabei ihre Völker als kriegführende Partei. Eine seit jeher gängige Kriegsbegründung ist die Abwendung einer nationalen Bedrohung, die ebenso gängig in die nationale Überlegenheit umschlägt. Wenn das Bessere bedroht wird, ist seine Verteidigung umso gerechtfertigter und seine Verbreitung umso notwendiger, damit endlich das Minderwertige nicht mehr gefährlich werden kann. Die nationale Idee, die im Volk fest verwurzelt ist, wird immer missbraucht, wenn sie der Vorbereitung des Volkes auf einen Krieg dient, auch für den Fall eines Präventivkrieges. Dabei wandeln die Herrschenden das nationale Bekenntnis zum volksverhetzenden patriotischen Pathos, zum Hurra-Patriotismus, bei dem das eigene Nationale über das Nationale des Anderen gestellt wird. Und das ist falsch. Hierin offenbart sich ein Missbrauch, der nicht auf die deutsche Geschichte beschränkt ist. Damit hört der Nationalstaat auf Nationalstaat zu sein und verkehrt sich in sein Gegenteil, ohne dass dieses den betroffenen Völkern gleich bewusst wird. Gelangen sie dann zur Erkenntnis ihrer Verführung, besteht die Gefahr, dass sie sich von ihrer nationalen Identität distanzieren und handlungsunfähig werden.

 

Das nationale Bekenntnis der Herrschenden und das nationale Bekenntnis des Volkes sind nicht identisch. Immer dann, wenn sich die Herrschenden der nationalen Idee bedienen, wird diese durch ihr Interesse verfälscht, was bis zur Lüge der Auserwähltheit des eigenen Volkes reicht und damit tatsächlich einen Gegensatz zwischen den Völkern konstruiert. Nicht die Wahrheit, das Nationale als Formbestimmtheit eines Volkes, ist gefährlich, sondern die falsche Deutung, die eigene Formbestimmtheit über die Formbestimmtheit der Anderen zu stellen. Aus dem Nationalen als Formbestimmtheit folgt nur die gleiche Funktion. Sich auf diese zu beschränken reicht völlig aus, um sich seiner zu bedienen. Eine Über- oder eine Unterbewertung dieser Funktion ist für die Völker schädlich. Beide führen zur Selbstzerstörung.

 

 

2.                  Der Nationalstaat sei überfordert

 

 

Es heißt: Der Nationalstaat sei zu klein. Die Kritik am Nationalstaat konzentriert sich meistens darauf, dass die wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Dimensionen die nationalen Kräfte übersteigen. Kurzum, der Nationalstaat sei zunehmend handlungsunfähig und müsse in größeren Gebilden aufgehen.

 

Richtig ist, dass die Menschheit heute vor großen gemeinsamen Herausforderungen steht, was zur Folge hat, dass die Staaten immer mehr Zweckgemeinschaften mit anderen eingehen. Diese Zweckgemeinschaften, freiwillig oder erzwungen, sind überstaatliche oder zwischenstaatliche Gebilde, die Kräfte bündeln, um globale Probleme in Griff zu bekommen. Dabei kann man beobachten, dass diese Zweckgemeinschaften selbst wieder von mächtigen Gruppen gesteuert und benutzt werden. Aber selbst dann, wenn Gleichberechtigung existiert, bleibt ein gravierender Unterschied zwischen Nationalstaat und Zweckgemeinschaft. Jener verfolgt ganzheitliche Ziele, diese nur einen spezifischen Zweck. Zum Vergleich kann man die Familie heranziehen, die auch ihre Interessen weitgehend durch vertraglich abgesicherte Kooperation mit anderen Institutionen realisiert, mit Wohnungsgenossenschaften, Versicherungen, Geldinstituten, mit Trink- und Abwasserverbänden usw. Jeder einzelne Kauf in einem Supermarkt ist ein solche Kooperation. Aber niemand kommt auf die Idee, deswegen die Familie infrage zu stellen. Die Familie ist eine Gemeinschaft, die durch technischen Fortschritt und Kooperation ihre wachsenden Interessen  besser befriedigen kann. Die Forderung nach Abschaffung des  Nationalstaates wegen seiner begrenzten Handlungsmöglichkeiten ist also nicht stichhaltig. Wie im Falle der Familie sind die Nationen relativ stabil durch Sprache (Zeichengebung), Gefühle, gemeinsame Erfahrungen, Lebensraum und Arbeitsteilung. Durch diese Gemeinsamkeiten werden Menschen zu gut funktionierenden kollektiven Subjekten mit hoher Bindekraft. Sie bleiben eigenständig, wenn sie mit anderen Nationen in materiellen und geistigen Austausch treten.

 

Die Auflösung der Nationen würde die Vergesellschaftung der Menschheit zurückwerfen. Die Beibehaltung der bewährten Subjektformen Familie, Volk und Nationalstaat verleiht dem Menschen Sicherheit und Planbarkeit.

 

 

3.                  Der technische Fortschritt schleife den Nationalstaat

 

 

Es heißt: Globalisierung schleife den Nationalstaat. Das Verschwinden des Nationalstaates wird aus der technisch bedingten Globalisierung abgeleitet. Dabei wird behauptet, dass infolge des technischen Fortschritts die subjektive Formenvielfalt verloren geht, weil gigantische Lösungen viele Einzellösungen erübrigen, deren Ordnung schließlich zur Aufgabe des Nationalstaates gehört.  Mit dem technischen Fortschritt verschwinde also der Gegenstand des Nationalstaates. Der uniformierte Mensch werde zunehmend eine zu verwaltende Sache.

 

 

Es genügt hier der Hinweis, dass die Geschichte genau das Gegenteil belegt: der Formenreichtum des menschlichen Daseins nimmt mit dem technischen Fortschritt zu. Und man muss aus diesem allgemeinen Zusammenhang die begründete Annahme schlussfolgern, dass mit der Durchsetzung der Automatisierung (3. technischer Typ), vor allem im menschlichen Alltag neuerlich ein gesellschaftlicher Umbruch einsetzt, der nicht der globalen, formalen Leitung der Gesellschaft bedarf, sondern der differenzierten Organisation unter aktiver Einbeziehung der Staatsbürger. Wer dem nicht Rechnung trägt, der schafft Bedingungen für massenweise Spontanität und Destruktion, wie wir sie heutzutage erleben, da die Regierenden diesen Durchblick nicht haben.

 

Die Vorstellung der NWO, der Weltregierung, übersieht, dass Menschheitsfortschritt fortschreitende Freisetzung von individuellem subjektivem Vermögen ist, die ohne eigenständige Mitwirkung aller Subjekte nicht erfolgen kann. Auch der Nationalstaat ist nicht etwas Unveränderliches, sondern muss stets für die  subjektive Bereicherung offen sein, diese fördern. Er läuft also auf die stetige Selbstorganisation des Lebens der Menschen durch die beteiligten Menschen hinaus. Und das hat zur Folge, dass die heutigen Probleme der Welt sich nicht linear fortsetzen werden, sondern neue Probleme hinsichtlich der Beschaffenheit des technischen Fortschritts entstehen, mit gewollten und ungewollten Folgen. Die Gigantomanie ist ein Zeichen der technischen Entwicklung der Herrschaftsgesellschaft. Daraus dann resultieren die Verunreinigungen von Boden, Luft und Wasser mit ihren Existenz- und Gesundheitsbedrohungen, die sogenannten Zivilisationskrankheiten mit ihren Globalkrisen, globalen Verseuchungen. Wir sehen heute, dass deren Tempo höher ist als die erfolgreiche Behebung der Schäden. Wenn wir sagen, dass der technische Fortschritt die eigentliche treibende Kraft des Menschheitsfortschritts ist, dann ist die Technikfolgenabschätzung und die daraus folgende Steuerung dieses Antriebs eine der größten Zukunftsaufgaben. So wie es jetzt läuft, kann es nicht weiter gehen. Die Frage, „Was ist gesund und was ist krank?“, muss wieder beantwortbar werden.

 

 

Die Globalisierung ist nicht der Weg in die Zukunft. Sie folgt nicht aus dem Wesen der Technik, sondern ist eine Folge heutiger Technikpolitik, die gestoppt werden muss. Die Alternative zu dieser ist die vom Volkssouverän gesteuerte Technikentwicklung. Technischer Fortschritt bekommt dadurch eine andere Richtung. Er muss der subjektiven Differenzierung des Menschen Rechnung tragen und sogar noch die andere belebte Welt, Tier und Pflanze einschließen. Was heute an Revolutionen und Wenden verkündet wird, ist also mit Vorsicht zu genießen, um nicht in den alten Bahnen weiter zu fahren.

 

 

Die drei Argumente gegen den Nationalstaat halten einer Kritik nicht stand. Es drängt sich der Verdacht auf: Wer den  Nationalstaat beseitigen will, der will dem Volkssouverän das wichtigste Instrument der Erneuerung aus der Hand nehmen. Objektiv will er geschichtliche Notwendigkeit aufhalten und erzeugt damit Chaos und Zerstörung.

 

Die Kräfte, die nach einer echten Alternative suchen, müssen bereit sein, dieses Neuland zu betreten. Anders würden sie den Bürger irritieren, mit dem Beigeschmack, dass er wieder getäuscht wurde.

 

 

 

Johannes Hertrampf – 16.04.2016