Nach der Wahl ist vor der Prüfung

 

Johannes Hertrampf – 18.09.2014

 

Nun ist das eingetreten, was sich seit langem abzeichnete: die Isolierung Deutschlands in Europa. In der Privatsphäre ist das eine bedrückende Situation. In den Beziehungen zwischen den Staaten ist das eine höchst gefährliche Situation, insofern Deutschland umso leichter zum Spielball ausländischer Interessen wird. Das zeigte sich beim jüngsten Geschacher um Spitzenämter in der EU. Deutschland ist als Geldgeber gefragt, aber bei der Besetzung von Spitzenfunktionen steht es nur am Rande. Diese Tatsache richtet den Blick auf das Wesen deutscher Nachkriegsgeschichte, die  Entmündigung Deutschlands. Diese geschieht nicht gegen den Willen und ohne Zutun deutscher Politiker. Ganz an der Spitze Bundeskanzlerin Merkel. Sie ist für die Richtlinien deutscher Politik  verantwortlich und hat alle Warnungen in den Wind geschlagen. Wenn sie von den europäischen Völkern wegen ihres Spardiktats an den Pranger gestellt wird, dann muss die konsequente deutsche  Opposition sich dem internationalen Protest anschließen, denn dieser europafeindliche Kurs ist auch deutschfeindlich.

 

Deutschland ist der wichtigste Vasall der USA. Die gesamte amerikanische Politik im Zwanzigsten Jahrhundert war darauf ausgerichtet, die Führung in Europa zu übernehmen. Das setzte voraus, vor allem Deutschland in Griff zu bekommen. Gelungen ist das den Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst über die Institution der westdeutschen BRD und seit 1990 über das vereinigte Nachkriegsdeutschland in der heutigen BRD. Im Gefolge des Zusammenbruchs des Ostblocks konnten die USA die Ostgrenze ihrer Einflusssphäre darüber hinaus weiter nach Osten verschieben, Weißrussland nicht eingerechnet. Der letzte große Erfolg, die Unterwerfung Russlands, gelang ihnen jedoch nicht. Seitdem richtet sich hierauf ihr Hauptaugenmerk in Europa. Deutschland und die EU sind angehalten, diesem Anliegen bedingungslos Folge zu leisten. 

 

Wer gehofft hatte, dass sich unter Präsident Obama daran etwas ändern würde, musste inzwischen seinen Irrtum längst einsehen. Spätestens mit dem von den USA inszenierten Putsch in der Ukraine wurde deutlich, dass es für die EU und Deutschland gleichgültig ist, ob die Republikaner oder die Demokraten den Präsidenten stellen. Die USA sind heute entschlossen, selbst um den Preis der Zerstörung Europas, die Ukraine in ihren Einflussbereich zu ziehen. Sie haben der Ukraine eine politische Führung übergestülpt, die ihnen auf Gedeih und Verderben ausgeliefert ist. Poroschenko und Jazenjuk würden keine Stunde überleben, wenn sie auch nur einen Deut selbständige Politik machten.

 

Mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU wurde der Konflikt weiter angeheizt. Der nüchterne Schluss hieraus lautet: der Westen ist an einer paritätischen Beilegung des Konflikts mit Russland nicht interessiert. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Putschistenregierung in Kiew und die aufgeheizte Medienhetze gegen Russland muss man vielmehr als Vorbereitung für einen Angriff auf Russland werten.

 

Russland wird den Völkern Europas als Gefahr für die Zukunft des Westens hingestellt. Diese Propaganda hat eine erschreckende Übereinstimmung mit der national-sozialistischen Propaganda. Damals ging es gegen den „russischen Bolschewismus“. Und heute? Das gleiche Modell wird aufgelegt. Russland ist für den Westen nicht einfach Russland, sondern Russland ist das sich „wiedererrichtende Sowjetimperium“. Mal wird Putin mit Stalin verglichen, mal mit Hitler, je nachdem, welchen historischen Bezug die Propaganda benutzt. Es wurde sogar schon von einer faschistischen Diktatur in Russland gesprochen.

 

Doch eine geistige Tiefenwirkung bleibt aus. Die Bürger spüren die Fadenscheinigkeit und Heuchelei der Worte. Und vor allem: die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sind bei ihnen nicht vergessen. Ein Krieg Westeuropas gegen Russland würde im Handumdrehen globale Ausmaße annehmen. Im Gegensatz zur Absicht der USA, den Krieg auf Europa zu begrenzen, würden sie diesmal direkt betroffen sein. Er wäre verheerender als der Zweite Weltkrieg. Den Medien gelingt es daher nicht, in Deutschland eine Russland-feindliche Stimmung zu erzeugen. Selbst Kritiker der russischen Politik stellen sich nicht auf die Stufe der Hasstiraden aus Kiew und Washington. Statt einer antirussischen Stimmung entwickelt sich eine antiamerikanische Stimmung. Aus der Erinnerung an das Zwanzigste Jahrhundert und infolge der unmittelbaren Betroffenheit entsteht eine tiefe Ablehnung der amerikanischen Kriegshysterie, die bis in die Medien dringt, besonders in die Diskussionsrunden und Kommentarfunktionen im Internet.

                                                                                                              Die Sanktionen gegen Russland stießen von Anfang an auf den Widerstand der Wirtschaft. Allerdings beschränkt er sich bisher auf den Protest und den Verweis auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Noch fehlen diesem Widerstand die politischen Aktionen. Die Bürger verfolgen ihn aber aufmerksam und mit Zustimmung, denn die Wirtschaftsvertreter warnen vor den negativen Folgen für Wirtschaft und Wohlstand. Erst die Finanzkrise mit ihren Milliardenschulden und nun noch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland - das wird von den Menschen nicht mehr hingenommen. Das Protestpotential ist auf jeden Fall größer als die gegenwärtig geäußerten Proteste. Der Grund für diesen Widerspruch liegt darin, dass keine Partei, keine Gewerkschaft und keine sonstige Organisation die Bürger zum Widerstand aufrufen, so dass auf die Regierung noch kein gefährlicher Druck entsteht. So kann sie den Protest aus der Wirtschaft abbügeln und die Ängste der Bürger ignorieren.   

 

Die Opposition in Deutschland leidet an verschiedenen Gebrechen. Eines ist, dass sie zwar Kritik übt, aber über keine durchdringenden alternativen Ideen verfügt, weshalb sie, zur Sprache gestellt, keine Antwort für die Zukunft geben kann. In den  entscheidenden Fragen wird sie kleinlaut und unsicher. Sie relativiert die herrschende Politik, verschiebt Aspekte, weicht aber der Forderung nach einem politischen Wandel aus.

 

Am 17.07.2014 wurde im Europa-Parlament die Sanktionspolitik der EU gegen Russland befürwortet. Von den sieben AfD-Parlamentariern nahmen fünf an der Abstimmung teil. Vier von ihnen, Lucke, Henkel, Starbatty und Kömel stimmten dafür. Einer, Pretzell, stimmte dagegen. Dieses Abstimmungsverhalten löste in der AfD einen Sturm der Entrüstung aus, zumal es einen gegenteiligen Parteitagsbeschluss gibt. In einem Interview der Zeitung „Junge Freiheit“ vom 12.09.2014, S.7, wird Bernd Lucke, Partei-Sprecher, gefragt, ob damit nicht der Parteitagsbeschluss ausgehebelt wurde, in welchem Sanktionen gegen Russland abgelehnt werden. Und nun beginnt der Schlingerkurs des Parteisprechers, indem er die Ablehnung der Sanktionen nicht grundsätzlich sieht, sondern im Hinblick auf die Situation unmittelbar nach der „Annexion“ der Krim durch Russland. Falls Russland die Situation weiter destabilisiere, so Lucke, und „in bestimmtem Maße tut Russland das ja schon“, sind für ihn Sanktionen angebracht. Lucke folgt hier dem Denkmuster der Bundesregierung, die ihre Sanktionspolitik mit dem angeblichen Völkerrechtsbruch durch Russland begründet. Dabei wird verschwiegen, dass ein Völkerrechtsbruch eindeutig vom Westen begangen wurde, indem dieser den Sturz des gewählten Staatspräsidenten, Janukowitsch, inszenierte. Ferner wird das Referendum auf der Krim unterschlagen, bei dem sich 96% der Krimbewohner für einen Anschluss an Russland aussprachen, wobei sicher das Bedürfnis eine Rolle spielte, sich der gewalttätigen Putschistenregierung in Kiew zu entziehen.

 

B. Lucke war 33 Jahre Mitglied der CDU. Er ist von ihrem Geist geprägt. Sein Bruch mit dieser Partei war nicht grundsätzlich, sondern aus Erwägungen über eine ineffiziente Methodik der Durchsetzung neoliberaler Optionen. Um den Schein der Opposition jedoch zu wahren, kritisiert er die Anwendung, aber nicht ihre Substanz. An anderer Stelle sagt er in dem Interview ganz fundamental: „Völkerrechtsverstöße rechtfertigen Sanktionen.“ Wenn man diesen Satz ernst nimmt, dann wäre die Welt ein permanentes Chaos und der Welthandel würde unter dieser Willkür zu Boden gehen. Gerade die westliche Politik, im besonderem die der USA, ist voll von Völkerrechtsverstößen. Es ist schon eigenartig, wenn Lucke sagt, dass die Ukraine weder in die Nato, noch in die EU gehört und dann hinzufügt: „Jedenfalls so lange nicht, wie sie nicht ein stabiler, tadellos demokratischer Staat ist.“ Wenn man ihn hier beim Wort nehmen würde, müsste man von ihm erwarten, dass er morgen seiner Partei empfiehlt, die Auflösung von Nato und EU zu fordern, denn diesen Anspruch erfüllt keines der Mitgliedsländer.

Die Westbindung der BRD und damit die Mitgliedschaft in der Nato ist für ihn ein innerparteilicher Grundkonsens. Aber - und nun kommt die Einschränkung: „ … wir müssen innerhalb der Nato von den USA als ein ebenbürtiger Partner behandelt werden ...“ Welch eine Illusion! Hier kann man nur sagen, dass die USA sich niemals das Oberkommando der Nato aus den Händen nehmen lassen werden. Der Zweck bestimmt die Hierarchie.

 

An dem Interview nahm auch Partei-Vize A. Gauland teil. Seine Äußerungen waren überlegter und schlüssiger. Er nahm eine kritische Beurteilung der Politik des Westens gegenüber Russland vor, im Besonderen den Wortbruch des Westens, die Nato nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nach Osten zu verschieben und damit die Sicherheitsinteressen Russlands zu verletzen. Bei Gauland spürt man eine tiefere konservative Verwurzelung, die aber in der Substanz mit den Grundansichten von Lucke übereinstimmt. Dieser verfolgt den Duktus, dass Russland sich der politischen Linie des Westens beugen muss, die westliche Politik muss quasi Russland zur Räson bringen. Bei Gauland hört man einen anderen Tenor heraus: der Westen muss mit Russland gemeinsam nach Lösungen suchen. Und das geht nicht über Druck, auch nicht über Sanktionen, sondern über freimütige partnerschaftliche Verhandlungen.

 

Es ist voreingenommen und falsch, Russland Großmachtpolitik zu unterstellen, bei der es letzten Endes um eine Neuauflage der Sowjetunion geht. Das verletzt das russische Volk und schafft Misstrauen, weil es die tiefen geistigen Erschütterungen und Läuterungen, die dieses Volk durchgemacht hat, ignoriert. Deutsche Politiker sollten lieber Putins Pochen auf die Verträge und das Völkerrecht positiv sehen und ernst nehmen. Wir können jedenfalls nicht ausmachen, dass Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion gegenüber Deutschland oder anderswo auf der Welt Großmachtallüren an den Tag gelegt hätte und auch nur für eine Untat der letzten fünfundzwanzig Jahre für schuldig befunden werden könnte. Die Konflikte gehen nicht von Russland aus, sondern vom Westen. Er ist es, der sich mit den globalen Veränderungen nicht abfinden will, ständig von neuen Herausforderungen und sich verschärfenden Wettbewerbsbedingungen spricht und sein Wertekanon anderen Staaten und Völkern aufzwingen will. Das Erstarken anderer Länder darf nicht als Bedrohung verstanden werden, sondern als Entstehen neuer Bedingungen, in die sich alle Staaten und Völker einordnen müssen.   

 

Russland hat eine kritische Einstellung zum Westen. Aber liegt das nicht an der feindlichen Haltung des Westens? -, an den hämischen und respektlosen Tönen, gerade auch aus Deutschland? Die letzten 25 Jahre haben da an den Zuständen während der Zeit des Kalten Krieges nichts geändert. Lucke stimmt in dem Interview Gauland zu, „dass Russland sich von der Nato schlecht behandelt fühlt“. Er hängt aber gleich den Satz daran: „Aber das ist kein legitimer Grund, ein kleines Land zu destabilisieren, das der Nato gar nicht angehört. Die Ukraine hat ein Selbstbestimmungsrecht ...“ Bloß welche Kräfte in der Ukraine sehen sich als Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes an? Sind sie demokratisch legitimiert? Nach Auffassung von B. Lucke wurde das Selbstbestimmungsrecht von den Russen gebrochen usw. usw. Luckes Haltung ist die des Reiters  auf dem Hohen Ross, der die Welt belehrt, wie sie zu ticken hat. Dieser Anspruch verbaut Chancen, einen offenen, vorurteilslosen Dialog zu führen. Damit lässt sich keine Alternative zur gegenwärtigen Außenpolitik der Bundesrepublik nicht aufbauen.

 

In dem Interview werden zwei Denkweisen erkennbar. Der verknöcherte herrische und der selbstkritisch-tolerante Stil. Hier gibt es Unterschiede zwischen Lucke und Gauland im Interview und hier liegt offensichtlich Zündstoff in der AfD. Aber auch der selbstkritisch-tolerante Stil reicht noch nicht für eine Alternative aus. Beide Spitzenvertreter stehen fest auf dem Boden der westlichen Welt, der Welt, die gerade ins Wanken gerät. Wir meinen aber, dass der elastisch-vernünftige Weg neue Umgangsformen und Einsichten ermöglicht. Verkrampfte Haltungen blockieren auf jeden Fall die Wirklichkeitswahrnehmung.   

  

Wenn wir aber eine Alternative zur gegenwärtigen politischen Linie der BRD suchen, dann müssen wir die Probleme noch grundsätzlicher anpacken. Dann brauchen wir Maßstäbe für eine inhaltliche Neuausrichtung. Über diese verfügt gegenwärtig noch kein Staat auf der Welt, auch nicht Russland. Zweifellos kann aber nach unserem Ermessen ein verknöchertes Festhalten an einem überholten Selbstverständnis diese Alternative gar nicht finden.

 

Überschrieben ist das Interview mit dem Satz: „Wir sind keine Einheitspartei“. Gemeint ist damit,  dass nicht alle dasselbe sagen müssen. Aber das ist wieder so eine überzogene These, denn strenggenommen hat es so etwas auch noch nie gegeben. Selbst früher in der DDR nicht. Das Problem bestand damals nur darin, dass eine andere Meinung nicht zugelassen oder gleich in die Verbannung geschickt wurde. Lassen wir die Frage beiseite, wie das heute mit der Toleranz aussieht. Stellen wir nur fest, dass Lucke etwas anderes im Auge hat, nämlich die Rechtfertigung seines Abstimmungsverhaltens im Europaparlament. Und weiter, dass er auch künftig seinem von der CDU geprägten Gewissen folgen wird und nicht den Beschlüssen einer alternativen politischen Partei, die gerade die CDU-Domäne in Deutschland brechen will.

 

Aus dem Interview lassen sich noch keine neuen Eckpunkte einer Alternative herauslesen. Quo vadis? also. Wird das die AfD packen, wenn sich die CDU zur AfD wie der große Bruder zum kleinen Bruder verhält? Merkel hat Konfrontation angesagt. Andere lehnen diese ab, weil sie zum Erstarken der AfD führen könnte. Unabhängig davon wie das mit dieser Partei läuft, die öffentliche Diskussion über die Existenzfragen Deutschlands und Europas wird in Gang kommen. Das ist der Angelpunkt. Die Bürger werden jedenfalls schnell merken, ob es nur Parteiengezänk ist, bei dem es um das Wie der Durchsetzung neoliberaler Ziele geht, oder ob ernsthaft um die Zukunft Deutschlands und Europas gestritten wird, um die Erneuerung der Gesellschaft. 

 

Johannes Hertrampf – 18.09.2014