Mehr als eine Warnung I

 

 

Solange die Coronakrise in China ihr Unwesen trieb, blieben die Alarmglocken in Deutschland still und die Medien zählten auf, was die Chinesen alles falsch machten. Als dann das Virus in Europa sich einnistete, war für Deutschland noch immer keine akute Gefahr vorhanden. Erst als die Zahl der täglichen Neuinfektionen rasch größer wurde und die Wissenschaftler vom Robert-Koch -Institut regelmäßig Stellung nahmen, ging bei den Deutschen ein Licht auf, das sie selbst betroffen sind. Bald zeichneten sich zwei Linien bei der Gefahrenbewertung des Coronavirus ab. Die eine Linie, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird, sieht in der Krise ein Problem, das bei Vorhandensein von geeignetem Impfstoff relativ schnell beherrscht werden kann. Bis zu dem Zeitpunkt müssen die wirtschaftlichen Schäden behoben werden. Genau zu dem Zeitpunkt der Problementwicklung wurden die Politiker und Banken wach, denn nun hatten sie ihr Anliegen gefunden, mit dem sie sich in der Coronakrise ins Bild bringen konnten. Sie inszenierten die milliardenschweren Programmen zur Rettung von Wirtschaft und Volk, gemeint ist die Fortsetzung der bisherigen Politik, finanziert vom deutschen Steuerzahler. Die Coronakrise ist damit ein gewolltes Mittel einer neuen Stufe von Täuschung und Ausbeutung im nationalen und im Weltmaßstab.

 

Die andere Linie der Interpretation der Coronakrise, die bei einer Minderheit der Bevölkerung Unterstützung findet, besteht darin, daß die Krise ein Signal ist, mit dem auf die Naturfeindlichkeit der menschlichen Existenz am Ende der Zivilisation hingewiesen wird. Diese akute Konfliktsituation muss schnellstens durch effektive Maßnahmen behoben werden, die den Erhalt des Menschen sicher stellen, aber zugleich nicht auf die Rückkehr zur früheren Normalität lenken, sondern die Gefahr des Coronavirus durch Maßnahmen abbauen, die eine neue Normalität schaffen, von der eine Gefährdung des Menschen ein für alle Mal ausgeschlossen ist. Der Unterschied beider Interpretationen liegt nicht in der Interpretation der Gefahr für den Menschen, sondern im Ziel der Problemlösung und damit auch in der Art und Weise seiner Bearbeitung. Schlußendlich ist diese Problemlösung ein Stück einer menschlichen Lebensform auf einer neuen Kulturstufe.

 

 

Im Hintergrund der beiden Auffassungen geht es um die Erneuerung der menschlichen Lebensformen, um die Überwindung zu enger Ziele von Vorstellungen des Menschen, die ihn zunehmend in harte Bedrängnis bringen. Die Coronakrise ist ein Ausdruck der grundsätzlichen Lebenskrise des Menschen, die heutzutage sich auf allen Gebieten bemerkbar macht und zu prinzipiell ähnlichen Antworten führt.

 

 

Auf die Feststellung, daß gegenwärtig noch der kleinere Teil der Bevölkerung sich zur Interpretation der Coronakrise bekennt, ist zu sagen, daß die Bürger befürchten, auf dem anderen Wege die vorhandenen individuellen Freiheiten zu verlieren. In dem Zusammenhang kann man darauf verweisen, daß im Verlaufe der Geschichte sich auch die Freiheiten änderten, aber die Vielfalt und das individuelle Entscheidungsrecht deshalb insgesamt nicht kleiner wurden.

 

Mit jedem Tag wird der Abstand größer, der zwischen dem Begreifen des Ereignisses und der Fähigkeit liegt, maßvoll auf dieses zu reagieren. Warum? Die Bürger sind nicht bereit, sich auf die gegenwärtigen Erwartungen der Regierung einzustellen, ohne eine feste Zusicherung zum Erhalt der erreichten Lebensverhältnisse. Die von der Groko zugesicherten materiellen Vergünstigungen bis Jahresende 2020 sollen den Eindruck erwecken, als ginge in Deutschland die Bekämpfung der Krise für den Bürger, dank des sozialen Gewissens der Regierung, weitgehend glimpflich ab. Die von Regierung und Parlament beschlossenen Milliardenrettungsprogramme rücken damit die aufziehende Verarmung des Volkes in ein harmloses Licht, sind ein Stück angestrebter früherer Normalität. Sie sind das Gegenteil von dem, was die Regierenden vorgeben.

 

 

Die Zustimmung zur früheren Normalität durch die Bürger und die Zustimmung zu früherer Normalität durch die politisch Herrschenden sind also nicht identisch, haben unterschiedliche Beweggründe. Die Schuldfrage der Krise erübrigt sich jedenfalls nicht, wenn diese als eine Naturkatastrophe hingestellt wird, die uns herausfordert zu einer nationalen Verschuldung in bisher unbekanntem Ausmaß.

 

 

Der anfänglichen Gegenwehr gegen die Krise gelangen zwar positive Ergebnisse, die aber durch aufweichende Länderbeschlüsse paralysiert wurden. Die Regierung gab die Initiative aus den Händen. Die Befürchtungen vor einer zweiten Welle sind nicht aus der Luft gegriffen. Die potentielle Gefährdung des Urlaubs der Bürger wurde in den Vordergrund gerückt. Es begann die Umorientierung auf die ökonomischen Verluste und auf die möglichst schnelle Sanierung, ohne einen realistischen Weg dahin aufzuzeigen. Alles drehte sich um die Rücknahme der Einschränkungen der persönlichen Freiheiten und um die Herstellung der früheren Normalitäten. Es begann eine Phase der Abstriche an der anfänglich verkündeten prinzipiellen Gegenwehr. Das hatte zur Folge, daß in der Bevölkerung Zweifel laut wurden und sich eine gewisse Gleichgültigkeit breit machte. Es fehlt eine prinzipielle in sich gegliederte Gegenstrategie. Wenn dann noch solche Fehler wie bei dem fleischverarbeitenden Unternehmen in NRW dazu kommen, dann wird das Vertrauen der Bürger in den Staat schwer erschüttert, denn die Mißstände waren den zuständigen Staatsbeamten bekannt. Hier geht es nicht nur um das Ausmaß der Dimension der Coronakrise, sondern um die Qualifikation der staatlichen Organe zur Führung einer erfolgreichen Abwehr der lebensbedrohlichen Gefahr. Es verdichtet sich die Befürchtung, daß die zuständigen Organe ihren Pflichten fachlich und moralisch nicht gewachsen sind.

 

 

Das Suchen nach den Hintergründen der Krise ist nicht von zweitrangiger Bedeutung, nach dem Motto, Krisen und Hintergründe hat es in Wirtschaft und Gesellschaft immer gegeben. Irgendwie muss es auch heute weiter gehen. Sicher soll es weiter gehen, aber ohne diese raffgierigen Entgleisungen und ohne permanente Gleichgültigkeit des Staates. Die Scheu, sich mit den Hintergründen zu befassen, ist ein typisches Verhalten für die Anhänger der Spontaneität. Kritik ist zwar zulässig, aber bloß den Dingen nicht auf den Grund gehen. Alle Kritik hat an der Oberfläche zu bleiben.

 

 

Das Ergebnis eines solchen wegweisenden Wirkens der Spontaneität in der gegenwärtigen Gesellschaft ist eben auch die Coronakrise, die auf Zerstörung der heutigen Form des menschlichen Lebens ausgerichtet ist. Die Art und Weise der heutigen wirtschaftlichen Tätigkeit und die Unterdrückung volkssouveräner demokratischer Initiativen sind mit großer Wahrscheinlichkeit ein maßgeblicher Wegbereiter für das Entstehen und die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Coronakrise. Für alle Gesellschaftsbereiche besteht die Verpflichtung, die spezifischen Prozeßabläufe zu überprüfen, inwieweit sie coronavertiefende Effekte auslösen. Je komplexer die Wirkzusammenhänge erfaßt werden, desto mehr bildet sich eine neue Norm der staatlichen Tätigkeit heraus: die Leitung der Gesellschaft bei Umkehrung des bisherigen Verhältnisses von Spontaneität und Bewußtheit. Das Coronavirus ist hier nur ein Beispiel als Auslöser dieses Wandels.

 

 

Wir können unser Leben nicht wie bisher fortführen und gleichsam mit Links den Coronavirus – und ähnliche Erscheinungen – außer Kraft setzen. Wir müssen uns auf ihn einstellen, indem wir unsere Lebensweise verändern. Wir müssen zurücknehmen, wenn wir uns erhalten wollen. Der Angriff ist nicht in jedem Falle die beste Verteidigung. Erfolgversprechender – im genannten Zusammenhang – ist die offensive Verteidigung. Das bedeutet, das Wirkfeld des Virus einzugrenzen und zu verkleinern und nicht gleich seine Ausrottung zu fordern. Es ist schwieriger die Existenzbedingungen zu definieren, als die Ausrottung zu fordern. Die Erhaltung der Vielfalt beschränkt sich eben nicht nur durch die Nützlichkeit für den Menschen. Wenn wir die alten Zustände wieder herstellen und quasi alles beim Alten belassen und nur mit dickeren Befestigungen nachrüsten, tun wir das Gegenteil von dem, was getan werden muß.

 

 

Die finanziellen Aufwendungen wachsen ins Unermeßliche, weil ständig mehr Mittel bereitgestellt werden müßten. Auf dieser Ebene liegt z.B. das Krisenrettungspaket der Großen Koalition mit seinen 130 Mrd. Euro. Aber schon steht eine neue Kreditaufnahme von 218,5 Mrd. Euro zur Debatte. Es ist ein Novum in der menschlichen Entwicklung, daß der Mensch kurzfristig und radikal seinen Alltag umbauen muss, ihn durch eine Welle von Erfindungen erneuern muss, weil er sonst Kopf und Kragen verliert. Deutschland kann von Glück reden, daß es sich dabei auf eine fachlich zuverlässige Elite verlassen kann, einen erfolgversprechenden Weg zu finden. Diese direkte Zusammenarbeit von Staat und Wissenschaft ist ein Präzedenzfall für andere akute Problemfelder.

 

 

Der Mensch hat sich infolge seines technischen Könnens in eine Siegermentalität gesteigert, die einen Abbruch seiner Gegenwehr gegen eine natürliche Gewalt völlig ausschloß. Die Erkenntnis der Naturgesetze und ihrer Nutzung in der Technik führten zur Einbildung, er könne mit diesen Universalschlüsseln alles erreichen, wenn er nur will. Dieser übernatürliche Wahn setzte schon in der griechischen Antike ein. Und es hatte tatsächlich den Anschein, daß es so ist, daß er dem Weltenschöpfer gleich komme, ja, seine Welt der des Schöpfers überlegen sei, kurz, er könne alles, wenn er nur entschlossen handelt.

 

Und nun erleben wir den Einbruch dieser Nichtigkeit. Es ist verständlich, daß der Mensch völlig kopflos ist, weil keine der Weltbeglückungen eintreffen werden, denn er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Für Kapitalismus und Kommunismus gilt das gleichermaßen. Das Coronavirus eröffnet ihm, daß beide Utopien ansteuern, denn sie haben die unerbittliche Gesetzlichkeit der Natur nicht berücksichtigt. Die menschliche Kultur wurde eigensinnig über den Naturzustand gesetzt, als stünde der Mensch vor dem endgültigen Sieg seiner Zivilisation über die unberührte Natur. So verstand er die Zivilisation als Sieg der Kunstwelt über die natürliche Welt. Die ethischen Maßstäbe wurden seiner technischen Willkür unterstellt. Die technische Entwicklung wurde als Alternative zum Menschen verstanden, die den Menschen überholen wird. Die Möglichkeit genetischer Eingriffe wurde als Freibrief gedeutet, diesen jederzeit zu öffnen. Der Computermensch entpuppte sich als eine Konstruktion technischer Vorgaben, deren Berechtigung es sein sollte, die Konstruktion unbegrenzt über den Menschen zu stellen. Damit gerät dieser zunehmend in technische Abhängigkeit. Die Menschheit schien auf diesen vollendenden Schritt vorbereitet zu sein. Nur das Coronavirus machte nun dem Treiben ein Ende und verhinderte damit eine menschliche Fehlentwicklung. Eine technische Fremdsteuerung des Menschen würde ihn von seiner individuellen Selbststeuerung ablenken.

 

 

Die Reaktion der Natur, in dem Falle des Coronavirus, auf die falsche Aussicht des Menschen auf seine Zukunft ist in Wirklichkeit eine zukunftsbejahende, menschenfreundliche Aktion, zu der sich der Mensch bekennen muss. Der Widerstand ist die Folge in einem durch Notwendigkeiten verknüpftem Netz. Das Virus ist also kein Unhold, der dem Menschen absichtlich im Wege steht. Es ist ein Wesen, dem der Mensch ungerechtfertig günstigere Lebensbedingungen schafft, zuungunsten anderer. Eine solche Privilegierung dämonisiert das Virus und schafft neue Irrtümer.

 

 

Es sind zwei geistige Inhalte, die aufbereitet werden müssen. Zum einen die allgemeine Umstellung auf eigene philosophische Fundamente, die dem Menschen im Alltag Halt und Orientierung geben. Hierunter fällt die Abkehr von fatalistischen Deutungen und die ständige Vertiefung der Überzeugung, daß die gesamte Naturgesetzlichkeit der menschlichen Sinnfindung zur Verfügung steht. Und es sind zum anderen die konkreten Schritte, aus denen sich die Konturen der Zukunft abzeichnen: Der Wille zum Neuland und die Fähigkeit es zu schaffen. Die Erneuerung muss von allen Völkern erfolgen. Keinem Volk darf die Teilnahme verwehrt werden infolge seiner kulturellen Unterdrückung in der Zivilisation. Alle Völker haben das Recht, über ihre Lebensumstände selbst zu entscheiden und ihren Besonderheiten bei der Festlegung von Inhalt und Form nachzugehen. Die Zivilisation hat keine kulturellen Eliten hervorgebracht, die einen Anspruch auf Führung besitzen.

 

 

Wenn wir die Coronakrise konsequent zu Ende denken, dann eröffnet sie eine neue Ära der Rationalität und der Individualität, in der der Mensch sich noch umfangreicher und dichter in die Naturgesetzlichkeit einbindet und sich als Naturwesen erfährt, mit klaren Vorstellungen über Zweck und Antrieb seines Denkens und Tuns.

 

Den künftigen Generationen steht ein großer geistiger Schatz zur Aufarbeitung zur Verfügung. Es ist unmöglich, die Erneuerung zu wollen und zugleich die Vielfalt der Weltkultur zu mißachten. Ebenso unzulässig ist es, die Kulturgeschichte nicht als zwingenden Bestandteil der Bauelemente der neuen Kultur anzuerkennen.

 

 

Die großen Abweichungen von der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung waren keine Voraussetzungen des Geschichtsverlaufs, sondern zeigen vielmehr den riesigen Kraftaufwand einer Politik, die auf Herrschaft ausgerichtet ist. So ist Geschichte ein Stück Praxis, auf die man gratis zurückgreifen kann, die zugleich aber auch die notwendigen Zusammenhänge der Wechselbeziehungen enthält.

 

 

Ohne geschichtliche Prüfung, keine richtige Entscheidung in der Gegenwart. Diese Sichtweise ist heute den Herrschenden freilich abhanden gekommen. Entscheidungen werden schon lange nicht mehr historisch geprüft, sondern nach Zweckmäßigkeit und nach Vorteil bewertet. Geschichte ist dazu verurteilt, eine Beigabe zum Handeln zu sein, um das eigene Prestige zu erhöhen, aber eben nicht um Entscheidungen zu prüfen und zu lenken. Ein zwingendes Vetorecht hat sie nicht. Daher kam die Menschheit ab vom rechten Wege. Aus diesem Grunde erhebt sich die Forderung: gesellschaftliche Erneuerung muss sich auf geschichtlichen Einblick stützen. Geschichte, Gegenwart und Zukunft bilden ein Ganzes, sonst entstehen starke Entstellungen und am Ende wird sogar die Frage laut, „ Gibt es überhaupt eine Zukunft?“

 

 

Johannes Hertrampf – 08.07.2020