Im Spiegel der Zeit

 

Im Spiegel der Zeit

Johannes Hertrampf – 15.11.2014

 

Leiden wir an der Unentschlossenheit der Klügeren, die den Weg wissen, aber nicht gehen? Leben wir in der Diktatur der Dummen, wie Brigitte Witzer meint (Brigitte Witzer: Die Diktatur der Dummen, Heyne Verlag, 2014), weil die Klügeren immer nachgeben? Warum dieser Mangel an Zivilcourage bei den Klügeren? Sind es wirklich die Klügeren, die nachgeben? Warum dann diese Ängstlichkeit, etwas zu tun, was sich als falsch erweisen könnte, wenn sie doch die Klügeren sind? Nach dieser Ansicht sind die  geistigen Voraussetzungen für eine Änderung der Verhältnisse vorhanden, sie werden nur nicht genutzt. Daher der moralische Appell.

 

Sehen wir davon ab, dass diese Auffassung eine Provokation sein könnte, um neuen Konfliktstoff zu erzeugen, betrachten wir sie als aufrichtige Meinung. - Unsere Geschichte hält uns dazu an, zwischen dem Besser-Wollen und dem Besser-Wissen sehr sorgfältig zu unterscheiden. Wo liegt die Grenze zwischen Wunschdenken und tatsächlichem Wissen? Wir erleben es bis in die Gegenwart, dass diejenigen, die das Bessere wollen, von sich behaupten, über das erforderliche Wissen zu verfügen. Sie stellen ihren Standpunkt nicht zur Diskussion, sondern sind über jeden Zweifel erhaben. Sich selbst in Frage stellen, kommt für sie nicht in Frage. Und viele Menschen mögen das. Sie sehen in dieser Überzeugtheit einen Ausdruck von geradliniger Wahrheit und politischer Führungsstärke. Doch genau diese naive Einfalt macht sie für demagogische Plattheiten anfällig. Zweifel ist in ihren Augen ein Zeichen von Schwäche. Ihre Ablehnung des Zweifels geht so weit, dass sie die Gleichschaltung des Bewusstseins bejahen, um einer Aussage Durchschlagskraft zu geben. Nicht der logische Schluss ist es, dem sie folgen, sondern der Hoffnung, endlich ihrer Ohnmacht ein Ende zu setzen. Die Massenpsychose ist ein Reflex der Enttäuschten, die eine Macht sein wollen, indem sie sich geistig uniformieren. Dabei ist es unerheblich, unter welcher Fahne sie marschieren.

 

Die politische Diktatur braucht die geistige Diktatur, sie hat einen geistigen Unterbau, die fehlende kritisch-sachliche Erörterung. Obwohl das zwanzigste Jahrhundert bewiesen hat, dass dieser Weg in die Irre führt, wird er heute von den Regierenden beschritten und von den Regierten geduldet. Deshalb müssen wir sagen, das Merkmal einer gut funktionierenden Demokratie ist die öffentliche Diskussion der Probleme, die die Menschen bewegen, nicht schon das Vorhandensein gewählter Körperschaften, es ist die ungezwungene geistige Atmosphäre im Staat, beruhend auf der Maxime: Jeder hat die Pflicht, seine Meinung zu sagen, aber niemand hat das Recht, zu erwarten, dass man ihm nicht widerspricht. Die so gewonnene Bürgermeinung kommt dem politisch Richtigen, dem  Maximum an Nützlichkeit für alle, näher, als jede Einzelmeinung. Deshalb ist es auch abzulehnen, wenn die heute Regierenden im Zweifelsfall das Bundesverfassungsgericht, eine nicht vom Volk gewählte Institution, anrufen und dessen Urteil für unantastbar erklären. Damit wird nur ein Schein von Rechtsstaatlichkeit erzeugt. Rechtsstaatlichkeit baut dagegen auf Demokratie auf.  

 

Es gibt keine Institution, die der politischen Wahrheit näher kommt, als der wissende aufgeklärte Volkswille. Nicht der Volkswille schlechthin. Man muss jedoch heute sagen, dass die öffentlichen Medien und die Meinungsforschungsinstitute sich nicht an diese Erkenntnis halten, sondern diese verhindern. Sie reden von Mehrheiten und Stimmungen, die keiner Prüfung standhalten. Leserbriefe wandern in den Papierkorb und Kommentarfunktionen werden abgeschaltet. Das Bild, das sie von der Welt zeichnen, unterliegt der Zensur und ist daher verzerrt. 

 

Diese Umfunktionierung der Demokratie zu einer Form von Herrschaft diskreditiert die Idee der  Demokratie und ebnet den Weg zur offenen Diktatur. Warum die demokratische Hülle, fragt sich mancher? Dann gleich den direkten Weg. Der Missbrauch der Demokratie verschließt den Ausweg. Mag der demokratische Weg aufwendig und mühselig sein, er führt, im Vergleich zu einer Entscheidung im elitären Zirkel, zu einer richtigen Entscheidung. Die gesellschaftliche Erneuerung entscheidet über den Weg. Der Weg ist also nicht beliebig. Am Weg erkennt man die Absicht. Die Geschichte wäre anders verlaufen, besonders die jüngere, wäre so gehandelt worden. Wir würden uns heute schon mitten in der gesellschaftlichen Erneuerung befinden.

 

Anstatt nun zu behaupten, dass die Nachgebenden die Klügeren sind, sollte eher gefragt werden: Ist das Bewusstsein, der Regierenden und der Regierten, auf der Höhe der Zeit? Ist es hinreichend für gesellschaftliche Veränderungen? Wir schließen in diese Frage das Bewusstsein der Regierenden ein,  weil es falsch wäre, sie von vornherein auszugrenzen. Der gesellschaftliche Standort ist nicht der Grund für richtiges oder falsches Bewusstsein, er erzeugt nur das Interesse an einem bestimmten Bewusstsein. Deshalb darf der Standort nicht maßgebend sein. Es ist nicht zu akzeptieren, dass das Interesse schon das Kriterium der Wahrheit sei. Auch nicht bezüglich der Gesellschaft. Die Erkenntnis der Wahrheit folgt der objektiven Logik und nicht dem Wunsch des Menschen. Nicht die Mehrheit entscheidet über die Wahrheit. Die Wahrheit wird erkannt. Wenn sich Menschenwunsch in die Wahrheitsfindung einmischt, wird diese abgelenkt. Das Ergebnis sind bestenfalls Halbwahrheiten, die sich irgendwann als Haken an der Sache offenbaren.

 

Die Tatsache jedoch, dass es keinen Erkenntnisvorgang gibt, bei dem der Wunsch völlig außen vor ist, darf nicht verhindern, einen solchen abstrakten Vorgang zu fordern, weil damit die Kritik gerechtfertigt wird. Sie richtet sich also gegen Wunschdenken und gegen logische Fehler. Ohne Kritik keine Wahrheit. Läge die Wahrheit auf der Hand, wäre die Kritik überflüssig. 

 

Es gibt kein motivloses Handeln des Menschen. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden, das Bedürfnis und das Interesse. Die Bedürfnisse dienen der biologischen Erhaltung und die Interessen  der sozialen Gestaltung. Beide ergeben das Handlungsmotiv des Menschen. In der Herrschaftsgesellschaft sind beide Funktionen voneinander getrennt, insofern die Bedürfnisbefriedigung als Impulsgeber der breiten Masse dient und die Interessensteuerung sich die jeweils Herrschenden vorbehalten. Auch die potentiell Herrschenden sagen ihren Anhängern, welche Interessen sie haben. Damit wird die Bedürfnisbefriedigung zu einem Mittel zur Interessendurchsetzung. „Panem et circensis“ war nicht interesselos, sondern machterhaltend. Die Stärke der Zivilisation liegt in dieser Trennung von Bedürfnis und Interesse, da sie in allen ihren Phasen die Mehrheit der Menschen von ihrer Interessenwahrnehmung ausschließt und sie über die Bedürfnissteuerung im Griff hat.

 

Der von seinem Bedürfnis getriebene Mensch ist noch nicht soziales Subjekt. Das Leben der Beherrschten ist ausgefüllt mit dem Überlebenskampf. Das Interesse wird ihnen vorgegeben durch den Staat, religiöse Institutionen und politische Führer. In der heutigen Gesellschaft aber auch durch die Werbung. Diese übt großen Einfluss auf die Art und Weise die Bedürfnisbefriedigung der Menschen aus. Ohne Werbung wusste die Mehrheit nicht, in welcher Weise sie ihre Bedürfnisse befriedigen soll, weshalb die Werbung zu einer fortschreitenden Selbstentfremdung führt. Sie ist nicht Resultat eines äußeren Zwangs, sondern gesteuerter Bedürfnisse, also eine bejahte Selbstentfremdung. Der Profit als treibende Kraft der Werbung dringt tief in das Individuum ein, wenn es sich der Mode hingibt.

 

Die Opposition bleibt theoretisch in diesem Zirkel stecken, insofern sie sich auf steigende Bedürfnisbefriedigung orientiert. Sie löst den Widerspruch nicht, sondern vertieft ihn. Sie kritisiert den Verlust an Bedürfnisbefriedigung durch die Interessenverfolgung der Regierenden. Mit anderen Worten, sie will mehr Bedürfnisbefriedigung und betreibt damit eine festere Anbindung an das System. Sie gibt sich als Interessenvertretung der Masse aus und richtet sich in Wirklichkeit nur auf  ein Mehr an Bedürfnisbefriedigung. Eine solche Opposition, egal ob links oder rechts, gehört zum westlichen System, ist eine Stütze und wird daher von diesem hofiert, sprich korrumpiert.   

 

Wo liegt nun der Ausweg aus diesem Dilemma? Die Lösung sehen wir in der Zusammenführung von Bedürfnis und Interesse, in der Subjektwerdung der Masse. Die Bürger haben nicht Vorgaben zu erfüllen, sondern zu formulieren. Sie müssen ihre Interessen formulieren und zur Maxime des politischen Handelns erklären. Das ist besonders im Vorfeld der Erneuerung schwer, da die demokratisch gewählten Regierenden noch nicht gewohnt sind, die Bürger ernst zu nehmen. Diese demokratische Maxime grenzt sich aber auch von allen elitären Lösungsvorschlägen aus den Reihen der Opposition ab, wonach Fachleute, ja sogar Fachparlamente, die Richtung zu bestimmen hätten.  Das läuft wieder auf eine Entmündigung der Bürger hinaus. Der Reiz besteht ja gerade darin, dass Nicht-Fachleute ihre Interessen anmelden, aus der Reihe tanzen und nicht eine Elite im eigenen Safte schmort, weil sie befangen ist. Die elitäre Variante, das Führer-Gefolgschaft-Modell, ist in jedem Fall eine Täuschung, es führt nicht über den heutigen Rahmen hinaus.

 

Damit haben wir einen Prüfstein, um den Wert einer Opposition zu beurteilen.

Reduziert man das Handeln auf die Bedürfnisse, dann bleibt die Erneuerung offen. Steht der Genuss im Vordergrund, dann gleitet der übergeordnete Zweck aus den Augen. Reduziert man dagegen das Handeln auf die Interessen, dann vernachlässigt man das biologische Sein des Menschen. Wird die Gesellschaft einem zukünftigen Zustand untergeordnet, wird sie genussarm. In beiden Fällen stirbt die Gesellschaft ab.  So oder so haben wir ein Herrschaftssystem, welches destruktiv wirkt. Wir brauchen folglich die Synthese beider Motive. Die Erneuerung kann nur gelingen, wenn in allen Bereichen die Mitentscheidung der Bürger gewährleistet ist. Anders kommt es nicht zum qualitativen Wandel und möge eine Partei sich mit noch so einer altruistischen Weihe umhüllen. Erst wenn die Bürger nicht mehr gesteuert werden, sondern selbst bestimmen, wie sie ihre Bedürfnisse befriedigen wollen, formulieren sie ihre Interessen, geben sie der geistigen, technischen und politischen Gestaltung neue Impulse, schaffen sie eine neue ökonomische Rationalität.

 

Das Individuum ist der Ausgangs- und Endpunkt des gesellschaftlichen Kreislaufs. Je differenzierter die Bedürfnisse des Individuums sind, desto größer ist die Vielfalt seiner Beziehungen. Die Individualitätsentwicklung ist ein Maßstab für gesellschaftliche Verflochtenheit (Diversität). Daher ist Individualitätsausbildung messbar und mit ihr der Grad gesellschaftlicher Entwicklung.

 

Die Angst, Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können, ist ein Grund für unterdrücktes Interesse.  Sie ruft menschlichen Verlust hervor. Sie hemmt die Ausbildung der Individualität. Der Mensch begnügt sich mit seinem biologischen Sein. Das ist auch in der heutigen Gesellschaft so. Die Angst dagegen, seine Interessen nicht befriedigen zu können, lässt die Bedürfnisbefriedigung zurücktreten. Sie äußert sich als existentielle Sinnlosigkeit, wo das eigene Bedürfnis nach Befriedigung nicht mehr als Motiv erlebt wird. Es fehlt die sinngebende zentrale Gestaltungsidee.

 

Wer Angst propagiert, der verleitet zum Nachgeben, zum Beharren. Angst ist das Bewusstsein von Nichtwissen. Es ist daher gar nicht so, dass die Klügeren nachgeben, sondern es sind die unwissenden Ängstlichen, die sich der Diktatur der unwissenden Mächtigen beugen. Die Aussage von B. Witzer, dass unsere Gesellschaft verblödet, weil die Klügeren immer nachgeben, gibt den  Nach-gebenden ein falsches Selbstbewusstsein, täuscht sie über ihren Zustand. Vielmehr sind beide, die Regierenden und die Regierten, Unwissende. Dieses Unwissen ist es, das den Zustand erhält. Das Wissen ist der springende Punkt. Die regierende Kaste weiß, dass die unwissende Kritik ihr nicht gefährlich wird, weil Unwissen die Kritik ins Leere führt.  

 

Die unwissende Kritik ist spekulativ. Ihre Prämissen sind apodiktisch. Im Gegensatz zu ihr steht die historische Kritik, die nach dem Systemablauf fragt. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen den Natur- und den Gesellschaftswissenschaften. Das Zurückbleiben der letzteren ist darauf zurückzuführen, dass sie von den Herrschenden bekämpft wird. Daher befindet sich die Erkenntnis der Gesellschaft im Vergleich zur Erkenntnis der Natur noch im vorwissenschaftlichen Stadium. Das ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass die gesellschaftliche Erneuerung nicht in Gang kommt. Die Gesellschaft wird zwar von vielen Seiten beleuchtet, aber nicht erklärt. Das hat zur Folge, dass sich ein gewaltiger Reformstau entwickelt hat, auch in den Ländern, die sich gegen die westliche Hegemonie richten.

 

Wer überlegen ist, der ist offen, der kann und muss offen sein. Wer unterlegen ist, der riegelt sich ab und begibt sich damit auf die Verliererstraße. Der Westen, der sich gern als offene Gesellschaft bezeichnet, riegelt sich gegenüber jenen ab, die ihn wirtschaftlich einholen und kritisieren. Er ist gar nicht offen, weil er seine Offenbarung fürchtet. Seine Führer wollen ihn retten und setzen dabei auf Chaos und Stagnation.

 

Johannes Hertrampf – 15.11.2014