Grüner Richtungswandel

 

 

 

Wir erleben das Ende der alten BRD und damit müßte aller Erfahrung zufolge ein neues Kapitel deutscher Geschichte beginnen. Aber die alte politische Führung, die noch das Heft in der Hand hat, kann kein neues Kapitel aufschlagen, sie hat keins. Krankhaft suchen die Altparteien nach Ideen, die beim Bürger ankommen. Sie wollen Wähler zurück gewinnen, aber warum soll der Wähler ihnen diesen Gefallen tun, wenn alles beim alten bleibt? Das ist der neuralgische Punkt. Eine neue Zeit klopft an der Tür, aber der Einlaß wird ihr verwehrt. Die alten Instanzen verstauben, der Bürger geht an ihnen respektlos vorbei. Sie müßten entsorgt werden, denn sie produzieren neue Probleme, ohne alte zu lösen. Aber davor schrecken die Parteien zurück. Eher sind sie bereit, ihr Personal  auszutauschen. Generationenwechsel ja, Politikwandel nein.

 

 

Die Parteien schicken ihre Vertreter zu Talkshows und Bürgergesprächen, sie lassen sich bei Umfragen bewerten. Sie wissen, wie die Stimmung im Lande ist. Sie möchten bürgernah erscheinen, kommen aber nicht wirklich ins Gespräch. Jeder Auftritt ist eine Zitterpartie, bloß um das Gesicht zu wahren. Ein ehrlicher Meinungsaustausch fällt selbst auf Parteitagen dem Machtgerangel zum Opfer.

 

 

Noch werden die Altparteien durch materielle Vergünstigungen ihrer Mitglieder zusammengehalten. Doch manches Mitglied  hält den Widerspruch zwischen Wort und Tat nicht mehr aus und legt seinen  Mitgliedsausweis auf den Tisch. A. Merkel ohne Bilanz und mit stehenden Ovationen zu verabschieden und gleichzeitig davon zu reden, daß das Landesinteresse vor dem Parteiinteresse steht, ist nicht nachvollziehbar. So wird der Abstand zwischen den Bürgern und den Parteien immer größer. Es bestätigt sich Jahr für Jahr, daß die Parteien hoffnungslos in der Sackgasse stecken, ungeachtet aller Beteuerungen der Funktionsträger. Doch Parteien ohne greifbare Hoffnung sind nicht lebensfähig, denn ihre Organisation erfolgte ja gerade wegen eines gemeinsamen Ziels. Wenn es heute dem  Parteiensystem der BRD so ergeht, wie es dem Parteiensystem der DDR erging, Verflüchtigung in eine Dunstwolke, deutet das darauf hin, daß bei aller Unterschiedlichkeit gleiche Mechanismen wirken.

 

 

Eine gewisse Außenseiterrolle spielen die Grünen, denn sie demonstrieren in der öffentlichen Wahrnehmung eine jugendliche Aufmüpfigkeit, einen Hang zum jugendlichen Sozialprotest. Sie wollen wirken und wahrgenommen werden. Sie handeln, während die anderen warten. Sie setzen die Fahnen auf Sturmwarnung. Sie haben wegen ihrer Vergangenheit keine Skrupel. Im Unterschied zu den „Volksparteien“, betrachten sie ihre Vergangenheit nicht als verschwiegenes Erbe, sondern als verständliche Reaktion auf für sie unerträgliche Zustände. Sie ziehen sich nicht zurück, sondern greifen auf und an. Insofern bewegen sie das politische Geschehen.

 

 

Der Grünen-Vorsitzende, Robert Habeck, macht sich nun Sorgen um die Zukunft des Landes. Mit jedem Schritt, den die Regierenden tun und mit jedem Schritt, den sie unterlassen, wird ihr Spielraum enger. Ein deutlicher Hinweis auf ihre Hinfälligkeit. Schon heute richtet sich ihr Blick ängstlich auf die Landtagswahlen 2019 in den östlichen Bundesländern. Wird es zum großen Einbruch kommen, zur Verdrängung der Altparteien aus den Sesseln der Macht?

 

 

Habeck sieht offensichtlich in den Grünen noch eine junge unverbrauchte Kraft. Ihr politischer Aktionismus erzeugt immer neue Energien, besonders bei Jugendlichen. Bestätigt in ihrem Selbstbewußtsein wurden sie durch ihre Spitzenergebnisse bei den Landtagswahlen 2018 in Bayern und Hessen. Von ihrer großen Mobilisierungskraft waren sie wohl selbst überrascht. Warum sollte es also nicht möglich sein, einen ähnlichen Stimmungswandel in ganz Deutschland in Gang zu setzen? Das Volk muß den Weg der Führung wollen, sonst wird es nicht da ankommen, wo diese es will. Das Volk muß geführt, es muß regiert werden, am besten, es muß regiert werden wollen, im Glauben an den Ausweg. Wer eine solche Stimmung erzeugt, der kann nach Habecks Auffassung verändern. Ist es möglich, daß den Grünen diese bahnbrechende Rolle gelingt, daß sie zum Hoffnungsträger werden?

 

 

Habeck vertrat auf einer Versammlung der thüringischen Grünen die Meinung, daß das Schicksal Deutschlands im Osten entschieden wird, eben bei den Landtagswahlen 2019. „Ich glaube, es ist kein Geheimnis, daß wir diese Wahlen gemeinsam gewinnen oder verlieren“ (siehe T-Online vom 23.11.2018, „Ostwahlen könnten Stimmung in Deutschland drehen“)  Wenn es „gute Wahlen“ werden, „dann dreht sich die politische Stimmung in Deutschland.“ Er stellte damit die Grünen vor eine historische Bewährungsprobe, bei der die Grünen mit den anderen Bundestagsparteien der AfD eine Niederlage zufügen. Unwillkürlich denkt der Leser an dieser Stelle an Frankreich vor der letzten Präsidentschaftswahl, als sich der Front National einem Parteienblock gegenüber sah und verlor. Wenn alle Parteien von CDU bis Die Linke, alle Medien und die Gewerkschaften sich verbünden, dann wäre das tatsächlich eine reale Gefahr für die Alternative. Es könnten im Sinne Habecks „ gute Wahlen“ werden, von denen deutliche Signale für Deutschland und Europa ausgehen.

 

 

Auch die Grünen profitierten bisher vom Verdruß über CDU/CSU und SPD. Eine Idee war es nicht, mit der sie in Bayern und Hessen Punkte sammelten. Es war auch nicht der scharfe Ton gegen die AFD, der ihnen den Zulauf brachte. Es waren vielmehr die Lähmungserscheinungen in den Koalitionsparteien, die Wankelmütigkeit der CSU-Führung, von denen sich viele Wähler abwandten. Die Bürger wünschen sich eine Partei mit Entschlußkraft, eine Partei mit starkem Willen, eine bürgernahe Partei, die nicht labert, sondern handelt und der man zutrauen kann, daß sie die Mißstände im Lande energisch angeht.

 

 

Gelingt es einer Partei von der verschütteten Zuversicht auch nur ein Quäntchen zu reaktivieren,  dann sind viele Wähler bereit, trotz vieler schlechter Erfahrungen, einen Vertrauensvorschuß zu zahlen. Allem Fatalismus zum Trotz lebt in den Menschen die Hoffnung auf eine politische Erneuerung fort.  Der Wähler, der die Nase voll hat, aber vor der AfD zurückschreckt, wählt Grün. Und der Wähler, der die Grünen nicht mag, wegen ihren exzentrischen Anwandlungen, die deutschfeindliche Einstellung unter den Grünen wird meist übersehen, der wählt AfD-Blau. Als weitere Auswahl kamen in Bayern die „Freien Wähler“ hinzu. Die politisch Unzufriedenen hatten in Bayern also ein Parteienangebot zur AuswahI, was CSU und SPD empfindlich zu spüren bekamen. Bezogen auf ganz Deutschland kann man sagen: In Deutschland gibt es zwei Parteien, die die Unzufriedenen anziehen und in einem Konkurrenzverhältnis stehen, die Grünen und die AfD. So erklärt sich, warum die Grünen sich scharf von den Blauen abgrenzen und auf einen gemeinsamen Gang mit den Altparteien hoffen.

 

Der Grünen-Chef sieht offenbar eine Chance, die AfD in den östlichen Bundesländern durch ein Komplott zu stoppen oder wie er sagt, die Stimmung in Deutschland zu kippen. Er ist sich offensichtlich im Klaren darüber, daß von den Altparteien kein Stimmungsumschwung für Aufbruch und Erneuerung zu erwarten ist. Mit permanenter Gleichsetzung von EU und Europa, die EU müsse eine weltpolitische Großmacht werden, von Personalverjüngung und mit einer Sprechhülse – Zusammenführen und zusammen führen – ist es eben nicht getan. In der CDU hat ja die innerparteiliche Auseinandersetzung noch gar nicht richtig begonnen. Und umgekehrt: Wer eine Aufbruchstimmung organisieren kann, offen und dynamisch, gepaart mit jugendlichem Elan, dem müßte es doch gelingen, sich in Ostdeutschland an die Spitze zu stellen. So jedenfalls ist die Rechnung von Grünen-Chef Habeck.

 

 

Doch ein solcher Erfolg muss vorbereitet werden, vor allem durch geistige Vorarbeit. Und in dem Zusammenhang sehen wir sein jüngstes Buch „Wer wir sein könnten“, in dem er sich nicht zur Wahlkampfführung äußert, sondern allgemein den Geist aufnahmefähig machen will für einen geistigen Aufbruch, gegen die Verknöcherung des heutigen Alltags, in dem jede Seite beharrlich ihre Ansichten verteidigt, ohne echten Widerhall zu finden. Schon der Titel ist verlockend, ohne am Ende eine Antwort zu geben, was der Leser einmal konkret sein könnte, beispielsweise wirklicher Souverän im Lande. Aber im Hintergrund des Konjunktivs steht immer, was er sein könnte, wenn er die Macht der Sprache bewußt einsetzen würde. Er will ein Weiterdenken anregen. Er will den Leser neugierig machen auf die Macht der Sprache, über die wir alle mehr oder weniger verfügen, die heute vielfach in Vergessenheit geraten ist. Die Sprache ist schon durch die Vielfalt der Gegenstände und die Individualitäten der Sprechenden unerschöpflich, jeder kann die Kommunikation – und sei es nur um Nuancen – bereichern. Daher ist die Sprache nicht nur Widerspiegelung, sondern ein Schöpfungsakt von Wirklichkeit, eine Entdeckung und eine Erfindung von Wirklichkeit. Gleich der erste Satz in seinem Buch lautet: „Sprache schafft die Welt. Sie ist nie nur Abbildung sondern bringt sie immer auch hervor.“ (S.9) Dieser Gedanke durchzieht sein Buch und gilt im besonderen Maße für die Politik. So heißt es bei ihm kurz: „Politik ist Sprache, und Sprache ist Politik“ (S. 117). Die Wirklichkeit, die sie schafft, hängt nicht nur von dem ab, was ein Mensch sagt, sondern auch davon wie er es sagt. Gerade für Politiker ist es wichtig, die Menschen durch das gesprochene Wort für sich zu gewinnen und in Bereitschaft zu versetzen. Die Sprache kann zynisch, populistisch oder auch verbittert sein und wirkt dadurch auf den Gegenüber. Mit der Sprache darf man sich nicht abschotten, sie muß offen, angreifbar, verletzlich und optimistisch sein, und kann dadurch den Gegenüber öffnen und in ihm Zuversicht wecken. Sprache muß den anderen erreichen.

 

 

Man kann aus der Problemwahl Sprache und Wirklichkeit entnehmen, daß Habeck der Sprachbeherrschung in der Politik, auch in den bevorstehenden Wahlkämpfen, eine zentrale Bedeutung beimißt. „Aber ich bin überzeugt, daß in der Reflexion über unsere Sprache und in der Kritik unserer politischen Kommunikation ein Schlüssel, ja vielleicht sogar das Geheimnis für die politische Praxis der Gegenwart liegt“ (S.126).

 

Habeck geht vom gegenwärtig unbefriedigenden Zustand in Deutschland aus und bekennt sich zu den strategischen Aufgaben Aufbruch und Erneuerung. Diese Absicht verdient Zustimmung und Unterstützung. “Wir sollten an einem Wir des Gesprächs arbeiten, nicht an einem der Ansage.“ (S.108) Das ist zweifellos richtig, gerade auch für Gespräche in der Politik, die stattdessen in der Regel auf Ab- und Ausgrenzung angelegt sind, kurz auf Besserwisserei, nicht auf Kompromiß, sondern auf Unterwerfung des anderen. Wieviel sinnloser Aufwand hätte in der Flüchtlingspolitik vermieden werden können, wenn man sich seitens der Regierenden um eine demokratische Gesprächskultur bemüht hätte. Es sollten wahrheitssuchende Gespräche stattfinden, nicht verbale Kampfeinsätze. Der anders denkende Gesprächspartner ist weder Feind noch Dummkopf. Die Teilung der Welt in Gut und Böse ist nicht mehr zeitgemäß, sie schafft Feindschaften, statt Partnerschaften. Damit ist der Weg in die Zukunft nicht freizulegen. Hier wirken Wertmuster nach, die für die ganze historische Spanne der Herrschaftsgesellschaften gültig waren. Wenn wir diese hinter uns lassen wollen, dürfen wir uns nicht auf deren Leitsätze stützen.

 

 

Aus den Reihen der Grünen hört man mitunter Töne, die eine krasse antideutsche Ansage sind. Es ist nicht bekannt, daß ein Parteitag oder die Parteiführung dazu Stellung genommen hätte. Auch Habeck geht in seinem Buch mit keinem Wort darauf ein. Welchen Sinn macht es aber, eine neue deutsche Zukunft zu fordern, wenn man das Lebensrecht des Volkes in Frage stellt? Was bezweckt dann ein solches Buch? Es ist doch verständlich, daß damit das vorgegebene Anliegen selbst in zweifelhaftem Lichte steht. Das Bekenntnis zum deutschen Volk ist die Ausgangsfrage aller Fragen. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit. Wenn aber diese Selbstverständlichkeit nicht zutrifft, dann erwartet der Leser, zumal der Autor einer der beiden Vorsitzenden der Partei ist, eine klare Aussage zu seiner Haltung. Ein national entwurzeltes Volk ist ein irrationaler Begriff, also ein testimonium paupertatis, mit dem man an der realen Notwendigkeit vorbeiredet. Das ist der Punkt, wo Interessen die Praxis umdeuten und an die Stelle der Kausalität die Willkür setzen.

 

 

Johannes Hertrampf – 15.12.2018