Gegner oder Partner

 

 

Johannes Hertrampf - 15.05.2014

 

 

Die Welt steht vor einer erneuten Spaltung. Was bisher nur eine Möglichkeit war, wurde mit der Ukraine-Krise zu einer handfesten Tatsache: der unheilverkündende rhetorische Schlagabtausch als Vorbote einer Wiederauflage des Kalten Krieges zwischen der westlichen Welt und Russland. Auf der einen Seite der Westen, der  mit politischen, militärischen und finanztechnischen Institutionen einen weitreichenden internationalen Einfluss ausübt. Vor allem Nato, IWF, Weltbank und WTO sind hier gemeint. Aber auch die UNO mit ihren antiquierten Strukturen zählt dazu, die den größten Teil ihrer Mitglieder von den relevanten Entscheidungen ausschließt und damit sich selbst als Weltforum zu einem Schattendasein verurteilt. Diese Institutionen widerspiegeln die Welt von gestern, in der die USA die führende Rolle in der Welt beanspruchten und diesen Anspruch in ein dünnes freiheitlich-demokratisches Mäntelchen hüllten.

 

 

Auf der anderen Seite die Mehrheit der Staaten, die sich gegen die westliche Bevormundung wehren und mit wachsendem Erfolg ihre eigenen Interessen verfolgen. Ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht steht in direktem Verhältnis zu ihrem Verständnis als eigenständige Nationalstaaten.

 

Die genannten Institutionen sind westliche Konstruktionen, um die globale Opposition zu zügeln, zu kontrollieren und vor allem um den Zugang zu den globalen Ressourcen freizuhalten. Mit dem Wegfall der Sowjetunion und ihres Staatenblocks vergrößerte sich zunächst der Einflussbereich des Westens. Kurzfristig entstand eine überschwängliche Stimmung, nunmehr alle Gegenkräfte für immer ausschalten zu können. Der Zusammenbruch wurde als Sieg gefeiert. Bald hatte dieser Wahn jedoch ein Ende, da es dem Westen trotz gewaltiger Finanzspritzen nicht gelang, seine Positionen in den postkommunistischen Ländern dauerhaft zu stabilisieren. Sein größter Widersacher wurden die Kräfte der nationalen Selbstbehauptung. Es setzte ein Zustimmungsverlust der Menschen zu den Werten der westlichen Welt ein, der bis dahin durch die antikommunistische Gegnerschaft kompensiert wurde. Mit dem Wegfall des Kommunismus konzentrierte sich die Kritik auf die USA und den gesamten Westen. Unterstützt wurde dieser in den postkommunistischen Ländern von den korrumpierten Führungskräften, die ihre Staaten in die Nato und in die EU integrierten, weitgehend vorbei an ihren Völkern. Das Unverständnis und die Vorbehalte gegenüber dem Westen machen seitdem diese Länder zu konstanten Unsicherheitsfaktoren. Die Euphorie dauerte nur kurze Zeit, da  wurde dem Westen klar, dass der von ihm betriebene europäische Zusammenschluss ein fragiles Gebilde war und er einen fundamentalen Gegner brauchte.

 

Es schien so, als sei die bipolare Spaltung der Welt für immer verschwunden. Der Begriff der multipolaren Welt tauchte auf. Gemeint war damit, dass sich ein internationales Geflecht vieler Machtzentren herausbildet, bei dem auch aufsteigende Schwellenländer ihren Einflussbereich geltend machen. Doch diese Interpretation einer Neuaufteilung der Welt beruhte auf einer Fehldeutung der Tendenzen, denn die Zivilisation differenziert sich nicht, wird nicht durch Machtteilung verfeinert und stabilisiert, sondern sie bewegt sich in Richtung ihrer Auflösung. Innerhalb der Zivilisation als einem umfassenden Zustand der Menschheit bilden sich zwei Strömungen: die westliche Industriestaaten unter Führung der USA als privilegierte Führungsschicht und der nichtprivilegierte, größere Teil der Zivilisation, der sich gegen die Vorrangstellung der westlichen Industriestaaten wehrt. Auch ohne Kommunismus ist also die Zivilisation gespalten. Als Antwort auf diese Realität gibt es zwei Komponenten der westlichen Reaktion: Die Globalisierung als finanztechnische und handelspolitische Steuerung und die direkte kriegerische Unterwerfung. Die Länder, die zum nichtprivilegierten Teil der Zivilisation gehören, verfügen ihrerseits über kein globales Gegenkonzept und verfügen auch nicht vergleichsweise über globale Institutionen. Sie haben in der heutigen Zivilisation weiterhin keine Privilegien.

 

 

Die Globalisierung besagt, dass die Spaltung der Welt durch den technischen Fortschritt überwunden wird. Dieser würde daher gleichsam den führenden westlichen Industriestaaten in die Hände arbeiten, indem unter westlicher Dominanz die Verflechtungen aller Staaten zunehmen und sie sich wirtschaftlich-kulturell den westlichen Staaten anpassen. Die Globalisierung fordert die Anerkennung der führenden Rolle des Westens, was vor allem zur Folge haben soll - und das wird stillschweigend übergangen -, dass ein ständiger Kräftefluss in Richtung der westlichen Staaten erfolgt. Die nichtprivilegierten Länder sollen also die privilegierten Länder mit Ressourcen zu deren Herrschaftsausübung versorgen.  

 

 

Da dieses Globalisierungskonzept aber offensichtlich nicht in gewünschter Weise funktioniert, die Nichtprivilegierten rebellieren gegen die Privilegierten, es kommt immer wieder zu national ausgerichteten Gegenaktionen, wird das Nationale als eine störende Subjektform bekämpft. In der Praxis bedeutet das: Der Westen unterwirft militärisch national orientierte Staaten. Dieses Mittel ist gleichsam die harte Zuchtrute für sein geopolitisches Konzept. Übersehen wird dabei von den westlichen Vordenkern, dass der technische Fortschritt nicht frei interpretierbar und beliebig verfügbar ist, sondern notwendige Folgen hat. Der Siegeszug der Informationstechnik löst starke Freiheitsimpulse aus. Insofern sind beide Komponenten Teil eines Wunschdenkens, diktiert vom Machterhalt des Westens. Da aber die Wirklichkeit sich nicht nach dem Wunschdenken richtet, muss also mit diesem etwas nicht stimmen. Die Theorie der Globalisierung ist wie der Zweck des Machtgebrauchs für den Menschheitsfortschritt irrelevant. 

 

Diese gespaltene Welt erfährt in der Gegenwart eine epochale Veränderung, insofern die stärksten nichtprivilegierten Staaten zusammengenommen schon ein deutliches wirtschaftlich-militärisches Übergewicht gegenüber den sogenannten Industriestaaten erreicht haben, so dass diese ihre realen Führungsmöglichkeiten verloren haben. Der Westen kann noch so zornig mit dem Fuß aufstampfen, die Welt ist seinen Händen entglitten. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Ukraine-Krise. Die Putschisten-Regierung der Ukraine kann ihr Land nicht mehr in die EU und die Nato lenken, obwohl der Westen daran größtes Interesse hat. Diese Situation ist neu. Der Westen muss zur Kenntnis nehmen, dass seine machtpolitische Vorherrschaft zu Ende ist. Damit erhebt sich für ihn die Frage des Umgangs mit dieser neuen Situation.

 

 

Formal betrachtet ist der Niedergang eines Machtzentrums nicht neu. Die geschichtlichen Zentren wanderten seit jeher. Alte starben ab, neue übernahmen die Führung. Ist es heute wiederum nur eine Verlagerung? Diesmal von West nach Ost? Mit anderen Worten, erleben wir nur eine Verschiebung innerhalb der Zivilisation oder handelt es sich um ein Phänomen der Endkrise der Zivilisation? Diese Frage lässt sich nur beantworten mit Blick auf die Ursache der Krise. Eine Verschiebung verlief bisher infolge der Durchsetzung einer effizienteren Variante des vorhandenen technischen Typs. Zwischen dem ochsenbespannten Ackerpflug und einer modernen maschinellen Bodenbearbeitung liegen Welten, obwohl beide Pflugtechniken einem Typ angehören. Die bisherigen Wanderungen der gesellschaftlichen Machtzentren waren innerzivilisatorische Veränderungen auf Grundlage des gleichen technischen Typs.

 

 

Die Verlagerungen des wirtschaftlichen Schwergewichts in die Schwellenländer sind von dieser Art.

 

 

Diese Länder bieten der eigenen technisch-wirtschaftlichen Entwicklung genügend Freiräume, die sie nicht, aus Gründen der Selbständigkeit, den westlichen Staaten überlassen. Diese haben daher auf jene Länder als Absatzmärkte nicht mehr beliebigen Zugriff. Das verschärft die Krise in den westlichen Ländern, insofern sie sich auf Konkurrenzkampf einstellen und sich ungenügend auf die Entwicklung des neuen technischen Typs konzentrieren. In dieser technischen Orientierung liegt nämlich der Ausweg. Der Westen muss verstärkt den neuen technischen Typ entwickeln und einen entsprechenden inländischen Markt schaffen, durch umfassenden sozialen Umbau. Er muss für alle Bereiche sich selbst steuernde materielle Systeme entwickeln, besonders für die Gewinnung und Übertragung von Informationen der gesamten belebten Welt. Damit kann er für die Menschheit neue Impulse auslösen. Er vor allem kann und muss technische Innovationen hervorbringen und damit Impulse für eine neue Gesellschaft auslösen. Bei der Globalisierung soll durch den technischen Fortschritt eine Einbindung in die westliche Welt erfolgen. Nach unserer Auffassung muss sich aber infolge des technischen Fortschritts die westliche Welt selbst wandeln, indem sie die Zivilisation verlässt. Der Verlust der Führungsrolle des Westens scheint auf den ersten Blick ein Abstieg zu sein, aber in Wirklichkeit ist er seine größte Herausforderung.

 

 

Die neuen Machtzentren bewegen sich auf der Linie der westlichen Industriestaaten. Und damit steuern sie in die ähnliche Krisensituation wie der Westen. Sie sind noch keine Lösung des Problems. Aber sie sind eigenständige Zentren. Wenn sie sich nicht in Richtung Erneuerung bewegen, dann würden sie einfach westliche Kopien werden. Andererseits sind sie für einen neuen Weg besonders prädestiniert, weil sie im Widerspruch zur westlichen Welt stehen.

 

 

Die westlichen Länder haben bei der Entwicklung des neuen technischen Typs gegenwärtig die Nase vorn, aber sie sind erstarrt - die Widerstände gegen Veränderungen sind groß, deshalb brodelt es bei ihnen ständig. Dieser latenten Unruhe wollen sie durch Ausbau ihres Machtapparates Herr werden, wodurch sie gegenüber den Schwellenländern an Boden verlieren. Der neue technische Typ in den westlichen Ländern stimuliert deshalb permanent Konflikte, die sie auf Grund ihrer politischen Erstarrung immer tiefer ins Abseits treiben.

 

 

Gesunden kann die Zivilisation nicht mehr, denn sie hat in den westlichen Ländern ihre Grenzlinie erreicht, da innerhalb des Herrschaftssystems sich ein neuer technischer Typ mit gewaltiger Sprengkraft entwickelt. Der Druck der Schwellenländer verstärkt die Konflikte in den westlichen Ländern. Diese hängen faktisch am Tropf der Länder, die sie früher schrankenlos ausgeplündert haben. Der Ausweg für den Westen ist der eigene gesellschaftliche Wandel und die Hilfe für die aufstrebenden Länder, die Erneuerung einzuschlagen. Diese Hilfe ist eine geschichtliche Pflicht, deren Erfüllung im Interesse aller liegt. Die aufstrebenden Länder sind nicht lediglich Abnehmer der Waren des Westens, Impulsgeber für die westliche wirtschaftliche Konjunktur, sondern Partner.    

 

 

Das ist die potentielle Situation. Weil sie vom Westen nicht begriffen wird, ist er besonders aggressiv, ist die Erhaltung des Friedens eine Bedingung der Erneuerung der Welt. Frieden und Erneuerung der Gesellschaft sind zwei Seiten einer Medaille. Diese Sicherung des Friedens geht über den  Pazifismus hinaus, denn er versteht sich als eine Bedingung zur Rettung der Zivilisation.

 

 

Angesichts des globalen Gegensatzes ist eine neuerliche Blockbildung nicht ausgeschlossen. Wie würde sich aber eine solche Blockbildung auf den weiteren Fortschritt der Menschheit auswirken? Durch die Blockbildung würde die opponierende Welt sich gegen die andere Seite abkapseln, was  Stagnation zur Folge hätte. Aber vor allem würden neue Konflikte aufbrechen, weil der technische Fortschritt solche Abschottungen unterläuft. Der gesellschaftliche Aufwand, derartige untergründige Bewegungen zu unterdrücken wäre enorm und letzten Endes vergeblich. Das, was der technische Fortschritt fördert, darf nicht unterdrückt werden.

 

 

Die Blockbildung ist also ein Irrweg, der zu einem sinnlosen Kräfteverbrauch führt. Sie verwischt auch die eigene Verantwortung, da die Verantwortung für Abwehrhandlungen der anderen Seite zugeschoben wird. Jede Seite wäscht ihre Hände in Unschuld, was die eigene Rolle verschleiert. Die Blockbildung scheint zwar naheliegend zu sein, weil sie der historischen Erfahrung entspricht. Aber genau sie wäre die falsche Schlussfolgerung. Das entscheidende Gegenargument gegen sie ist der technische Fortschritt. Sie muss den anderen Weg gehen, indem sie sich generell für technische Innovationen öffnet, von welcher Seite sie auch kommen. Wer die Blockbildung befürwortet, der hemmt die Kooperation, der hemmt den Wandel.

 

 

Dieser Wandel wird von der ganzen Menschheit vollzogen, bei Betonung der Partnerschaft als Leitidee. Das wird in dem Maße gelingen, in dem man sich auf grundlegende Gemeinsamkeiten konzentriert: das Geldsystem, das Sicherheitssystem und den Naturhaushalt. 

 

Das Geldsystem ist das stärkste Bindemittel zwischen den Völkern, denn es ermöglicht den Austausch von Gütern und Leistungen. Dazu bedarf es eines internationalen Geldsystems, das die internationalen Geldströme als Tausch- und Kreditmittel gewährleistet, nicht jedoch als Ausbeutungsmittel. Internationale Geldinstitutionen sind dafür eine Bedingung, die gleichzeitig dafür sorgen, dass kein Wertabfluss in die Hände einiger Staaten erfolgt. Damit sind die absaugenden Geldblasen, die heute die Menschheit plagen, ausgeschlossen.

 

 

Das Sicherheitssystem ist eine Voraussetzung vertrauensvoller Kooperation. Es beruht auf der Ablehnung der Gewalt der einen gegen die anderen. Mit dem Bekenntnis zur gemeinsamen Zukunft stabilisiert sich die Sicherheit auf der Welt, was wiederum zu einer enormen Reduzierung der Staatsausgaben führt. Es fällt vor allem die scheinbare Effizienz der Rüstungsindustrie weg. Denn Rüstungsgüter sind nicht nur todbringende Güter, sondern tote Güter. Sie stehen den Völkern nicht zum kreativen Gebrauch zur Verfügung. Die Rüstungswirtschaft ist ein Hemmschuh für die Völker. Ihre zivilwirtschaftlichen Effekte stehen in keinem Verhältnis zu ihrem Aufwand.

 

 

Die Stabilisierung des Naturhaushaltes liegt ebenfalls im Interesse beider Seiten. Je gestörter der Naturhaushalt ist, desto aufwendiger ist die menschliche Existenz. Der Schutz der Natur ist nur die erste Stufe eines neuen partnerschaftlichen Naturverhältnisses. Die zweite Stufe ist das partnerschaftliche Zusammenwirken zwischen Mensch, Tier und Pflanze, das dem Menschen neue Energien zuführt und Perspektiven eröffnet. Die Idee der Partnerschaft zwischen den Menschen und zwischen diesen und der gesamten belebten Natur ist eine fundamentale Säule einer neuen Gesellschaft.   

                   

 

Die Ukraine-Krise hat gezeigt, dass die Welt schnell in einem tödlichen Konflikt enden kann. Neue praktische Maximen, wie die Selbstbestimmung der Völker, stoßen im Westen auf Unverständnis. Sollte man deshalb darauf verzichten? Diesmal hat der Westen auf Russland völlig verständnislos reagiert, als dieses sich nicht provozieren ließ. Dem Westen wurde vor Augen geführt, dass sich die Situation geändert hat. Ihm fällt es schwer, seine bisherige Rolle abzulegen. Sanktionen, Drohungen und Kriegsgeschrei in den Medien waren jedenfalls die falschen Signale.

 

 

Die Selbstbestimmung ist nicht das Privileg einer Seite, sondern gilt für alle. Man darf die Erneuerung nicht parteiisch sehen, denn noch gibt es keine Kraft, die sie verkörpert. Daher muss die Kritik sich auf alle Staaten beziehen. Sie muss die Bereitschaft zur Erneuerung als auch die praktischen Schritte analysieren. Diese Bereitschaft ist sicher bei den westlichen Staaten und den aufstrebenden Ländern unterschiedlich vorhanden, aber besonders stark ausgeprägt ist sie bei den Völkern, im Unterschied wieder zu den Staaten. Die Regierenden werden heute hier wie da zuerst ihre Machtstellungen im Auge haben. Wer heute für die Selbstbestimmung ist, kann schon morgen dagegen sein, weil sein eigenes Gefüge davon betroffen ist.

 

 

Die Erneuerung ist eine Notwendigkeit, der sich alle heutigen Staaten stellen müssen. Die Zivilisationskritik steht dabei über den heutigen Parteien. Sie wendet sich vor allem an die Völker,  den Regierungen nicht das Regieren zu überlassen, sondern selbst in den Entscheidungsprozess einzugreifen. Je mehr die Selbstbestimmung im weitesten Sinne Fuß fasst, desto schneller wird es mit der Erneuerung vorangehen.

 

Russland hat der Geschichte einen starken Impuls verliehen.

 

                                                    

 

Johannes Hertrampf - 15.05.2014