Geben wir Deutschland eine Perspektive

 

 

 

Eine derartige Zuspitzung der politischen Krise hat es in Deutschland noch nie geben. Entnervt stehen die Politiker vor dem von ihnen heruntergewirtschafteten Staat. Auf die Forderung der Bürger, endlich ein brauchbares Konzept für die Gesundung der Gesellschaft zu entwerfen, reagieren sie mit Schulterzucken oder mit dem Hinweis auf den Coronaeinbruch, daß dieser gegenwärtig das dringendste Problem sei. Und das sagen sie, ohne einen überzeugenden Eindruck zu erwecken, wie das geschehen soll. Nur soviel ist jedenfalls schon sicher: Deutschland wird ihrer Meinung nach einen gigantischen Aufschwung erleben. Die von Merkel und Macron vertretene Idee, einen EU-Hilfsfonds in Höhe von 500 Mrd. Euro aus Spenden von zahlungsfähigen EU-Staaten einzurichten, um aus ihm Geldgeschenke an disziplinierte EU-Länder zu geben, wird den Auflösungsprozeß der EU vertiefen. Hier kommt ein weiteres Mal zum Ausdruck, wie dilettantische Spitzenpolitiker sich ihre Rolle bei der Krisenbewältigung vorstellen. Geld regiert die Welt, glauben sie. Deshalb muss man neue Geldströme organisieren, damit die Weltwirtschaft wieder an Fahrt gewinnt. Aber ohne notwendige Ideen und Motive kommt keine nachhaltige Veränderung zustande. Hat die EU nicht schon genügend Gelder investiert, ohne die Erwartungen zu erfüllen?

 

 

Auffallend ist, daß nicht über Gründe der Krise gesprochen wird, weil man sie nicht weiß, bzw. sie auch nicht wissen will. Am Ende käme dann heraus, daß hier kein unglücklicher Zufall von Naturprozessen vorliegt, sondern menschliches Versagen die Pandemie ausgelöst hat. Denn dann wäre es offenkundig, daß die heutigen politischen Lenker die Verantwortung für das ganze Unglück tragen. Anstatt sich um die existentiellen Gefahren zu kümmern, verplempern sie die Zeit mit nutzlosen militärischen Ränkespielen, um die Völker nach Belieben gefügig zu machen. Und so wird die Aufklärung der Ursachen mehr und mehr verfälscht, bis nur eine ideologische Meinungsbildung übrigbleibt. Es gibt auch hier eine Grenze, an deren Einhaltung alle Herrscher interessiert sind: die Vertuschung der Wahrheit. Dieses Anliegen ist das gemeinsame Ziel aller herrschaftsorientierten Funktionsträger. Die öffentliche Diskussion hat bekanntlich diese „rote Linie“ noch nicht überschritten, was z. Z. die größte Hürde für weiteren Bodengewinn der demokratischen Opposition ist. Die intellektuelle Erosion ist dennoch nicht mehr aufzuhalten.

 

 

Die Menschen kommen nicht mehr zur Ruhe. Im produktiven Bereich und auf dem Gebiet der Kommunikation hat der technische Fortschritt Sachlagen geschaffen, in denen der Mensch, anders als bisher an den Prozessen teilnimmt. Im vollautomatisierten Produktionsprozeß überwacht er die Wertschöpfung der eingesetzten Produktionsmittel. Spezialwerkzeuge verändern Zusammensetzungen und schaffen Produktformen, die neuartig sind.

 

Im Kommunikationsprozeß überwacht er die Suche und Verbreitung logischer Prozesse zum Zwecke der technischen und wissenschaftlichen  Wahrheitsfindung, wobei ihm das gesamte Wissen der Menschheit zur Verfügung steht, soweit es zugänglich ist. Erstmals in der Geschichte erlebt sich der Produzent als Weltgestalter, der sein Produkt, die digitalen Wegbereiter, in beliebige Funktionsstrukturen einsetzen kann, ohne sie bei seiner Erfindung direkt in die Hände zu nehmen. Man kann sie als virtuelle Technik bezeichnen, die als Bindeglied irdische Realitäten mit außerirdischen Realitäten verbindet und dem Menschen Zugang zu ihnen verschafft. Mit dem neuen technischen Gegenstand ändern sich Weltbild und Welterfahrung bei jedem Einzelnen und werden neue Maßstäbe ökonomischer Rationalität gesetzt.

 

 

Um an diesen miteinander fest verwobenen Vorgängen teilzunehmen, bedarf es eines hohen Fachwissens und einer breiten Allgemeinbildung, sowie der Fähigkeit, aus den Gegenwartsinformationen für die Zukunft absehbare reproduktive Schwachstellen zu erkennen und prophylaktische Schritte einzuleiten. Der tägliche Umgang mit digital begründeter Technik ruft bei den Menschen eine zunehmende intellektuelle Sensibilität, Urteilssicherheit und subjektive Mobilität hervor. Will sagen: die geistige Kultur der Gesellschaft wandelt sich. Sie muss sich auf neue Gegenstände richten, wenn ihre höheren produktiven Potenzen zur vollen Wirkung kommen sollen. Diese Erweiterung der geistigen Kultur verläuft gegenwärtig spontan. Es fehlen der Überblick, die Schwerpunktsetzung und eine Nachhaltigkeitsbewertung, also welche technischen Varianten in ihr angelegt sind. Dadurch gehen wertvolle Impulse für die gesellschaftliche Erneuerung verloren. Diese wird sich in dem Tempo vollziehen, wie die Menschen den geistigen Wandel akzeptieren und erweitern.

 

 

Der technische Fortschritt ist, unabhängig vom Motiv der ihn bewirkenden Kräfte, die entscheidende Voraussetzung für den allgemeinen Bildungsgrad und das Selbstbewußtsein der Bürger. Das Interesse der Bürger am technischen Fortschritt ist die wichtigste subjektbildende Kraft, die durch nichts verhindert werden kann. Ihre Behinderung ist möglich, aber ihre Verhinderung nicht.  Auf der Grundlage dieses Zusammenhanges, dessen Priorität die Menschen wissen oder nicht wissen können, er wirkt unabhängig von ihrer Erkenntnis und Akzeptanz, entwickelt sich auch ihr Verhältnis zur Gesellschaft, denn der Zustand der Gesellschaft entscheidet über die Möglichkeit, seinen größer werdenden Freiraum in seinem Umgang mit der Natur  mehr oder weniger auszufüllen. Die Menschen benennen  und bekämpfen das, was sie behindert ihre Interessen wahrzunehmen. Jeder Protest gegen Entscheidungen der Regierung ist mit einer umfangreichen Kommunikation verbunden und erhöht die politische Bildung der Beteiligten.

 

 

In einem solchen geistigen Spannungsfeld befindet sich die Mehrheit der Menschen heute und nimmt Teil an gesellschaftlichen Protesten und Disziplinverweigerungen. Allen voran die Jugend, also der Teil der Völker,  der die meiste Zeit seines Lebens noch vor sich hat und nicht umsonst gelebt haben möchte. Die Unzufriedenheit mit den Regierungsmaßnahmen, die bei den Demonstrationen zum Ausdruck kommt, kann als Anlaß gedeutet werden, endlich den jahrelang aufgespeicherten Unmut über die Regierungspolitik mit ihren grundgesetzwidrigen Mißachtungen zum Ausdruck zu bringen.

 

 

Letztlich handelt es sich hierbei um einen ganz legitimen staatserhaltenden  Protest in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung, an dem sich die Vertreter aller politischer Richtungen beteiligen, von Rechts bis Links. Das entspricht völlig dem Demokratiebegriff, selbst wenn einige politische Führer aus den Parlamentsparteien das anders sehen und damit den politischen Unmut unter den Demonstranten nur anstacheln. Die Öffentlichkeit der politischen Auseinandersetzung sind eben nicht nur Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, sondern der Disput auf der Straße, auf dem Marktplatz, in den Wirtshäusern gemäß dem ursprünglichen Sinn von „res publika“.

 

Demokratische Politik hat ihren Hort nicht in Hinterzimmern, sondern im öffentlichen Raum, wo sie sich mit staatlicher Unterstützung frei äußern kann und am Ende eine Annäherung auf das politisch Notwendige erreicht wird. Leider ist dieses demokratische Grundverständnis bei einigen Politikern nicht ausgeprägt. Sie erheben vielmehr Anspruch, Demokraten per se zu sein und damit Kritik von sich abzuschirmen, ihre Meinung als einziges demokratisches Credo hinzustellen, was den Begriff bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das artet dann häufig in wilden Unterstellungen und Beleidigungen aus, wie sie für die Parteiendemokratie typisch sind, aber eben nicht mit den Ansprüchen gegenseitiger Achtung übereinstimmt. In solchen Situationen werden Bürgerproteste dem Gedankengut extremer Randgruppen zugeordnet, ihre Organisatoren als Randalierer disqualifiziert und  der Protest als staatsgefährlich abgestempelt, ohne dafür von irgendjemandem zur Rechenschaft gezogen zu werden.

 

 

Über eines dürfte Übereinstimmung bestehen: die Zahl der unzufriedenen Bürger ist größer als die Zahl der Protestdemonstranten. Jede Wahl bestätigt diese Aussage. Die Unzufriedenheit der Protestdemonstranten bringt also eine größer gesellschaftliche Unzufriedenheit zum Ausdruck. Das berechtigt sie zum Ruf “Wir sind das Volk!“

 

Obwohl der Bürger fähig ist, die komplizierten Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft in Gang zu setzen und steuernd zu beeinflussen, ist er bei der Zielbestimmung ausgeschlossen. Durch seine Anwesenheit bei den Prozessen, kennt er sich über andere Varianten aus, die für die Gemeinschaft nützlicher wären, die aber auf Grund der herrschenden Beschlußordnung tabu sind. Der Bürger hat im Staat, in der Wirtschaft oder im Bildungswesen immer vorgegebene Aufträge zu erfüllen, die von seinen Abgeordneten beschlossen wurden, an denen die Abgeordneten seine Leistung bemessen. Sein Leistungsvermögen ist jedoch viel größer als das, was von ihm gefordert wird.

 

 

Die über ihm stehenden Verantwortungsträger versuchen ihn von diesem Defizit abzulenken, ohne den Widerspruch zwischen dem gewachsenen subjektiven Vermögen der Bürger und seiner Mißachtung durch die Herrschenden aus der Welt zu schaffen. Dieser Widerspruch bleibt und weitet sich durch den technischen Fortschritt aus. Die fehlende Teilhabe bei der gesellschaftlichen Zielbestimmung macht den Bürger zutiefst mißmutig, denn er sieht, daß die Defizite bei der Zielbestimmung dem Fortkommen der Gesellschaft schaden. Er erkennt, daß er unter diesen Bedingungen Halbheiten hervorbringt und sein wachsendes schöpferisches Vermögen nie ausschöpfen kann. Das ist der tiefe Widerspruch zwischen den Herrschenden und den Beherrschten heute, der mit jedem technischen  Fortschritt das Kulturpotential der Technik einschränkt.

 

 

Der Beherrschte ist heute eine gebildete, verantwortungsbewußt eingestellte Persönlichkeit. Gedrosselt wird er von scheindemokratischen Festlegungen, von Auswertungen zurückliegender geschichtlicher Ereignisse, von unzähligen finanztechnischen Schlingen und Knoten. Kurzum: In den Forderungen derer, die heute protestieren, äußert sich der Protest einer wachsenden ungenutzten Subjektivität.

 

 

Das ist auch der Grund, warum gerade in den technisch hochentwickelten westlichen Staaten dieser Protest anschwillt und die Macht der Parteiensysteme zerfällt. Und das ist auch der Grund, weshalb in der alten Strukturen der BRD keine Lösung gefunden werden kann. Das ist der Grund, daß in diesen Ländern der Protest sich in der Mitte der Gesellschaft verfestigt. Und nicht nur das. Der Gegenstand des Protestes ändert sich.

 

Aus der Mitte kommt der neue Machtanspruch, nicht von den Rändern. Das subjektive Unbefriedigtsein tritt in den Vordergrund, was auch als abnehmende Lebensqualität empfunden wird. Mit Geld allein ist dieser Widerspruch volkswirtschaftlich nicht zu lösen. Die hohen Erwartungen, die zu Beginn der Coronakrise vom Staat geweckt wurden, hielten keiner sachlichen Prüfung stand. Sie wareneinfach unüberlegte Versprechungen.  Das Finanzkapital  interessiert sich nicht für moralische Grundsätze und ästhetische Vorlieben. Es will das Geld haben, mit dem mittelständische Schichten ihr Leben absichern. Es will den verschuldeten  Handwerker, Kleingewerbetreibenden und Bauern, der hoffnungslos in den Fängen einer Bank steckt, bis er im Ruin endet.

 

 

Die Dringlichkeit von Erneuerungen weist immer daraufhin, daß spezifische Funktionen mit weitreichenden Folgen ausfallen. Die Behebung des Mangels scheint simpel zu sein, weil die Klärung im alltäglich Bekannten liegt. Doch gerade das, was im Alltag selbstverständlich ist, setzt dem Widerspruch starken Widerstand entgegen.

 

Die Tatsache der Ausrichtung der technischen Politik bei Ausschaltung der Bürger wird als unveränderbarer Regelmechanismus angesehen, der auch künftig beizubehalten ist. Der Grundsatz der Gewinnerwirtschaftung war über Jahrtausende von ausschlaggebender Bedeutung in der herrschenden technischen Politik. Er war das Privileg der Herrschenden. Heute wissen wir, daß dieses Privileg für die Gesellschaft sehr zwiespältig ist und unerträglich wird, insofern auf den Steuerzahler die Folgekosten abgewälzt werden. Was da unter den staatlichen Fittichen sich eingenistet hat, muß den Adler, angesichts der steigenden Investitionskosten, zum Absturz bringen.

 

Mit der Frage nach der Perspektive Deutschlands wird der Blick auf die wissenschaftlich-technische Leistungsfähigkeit gerichtet.

 

 

22.05.2020 – Johannes Hertrampf