Das Denken ist zwar wirklich, aber das bedeutet nicht, dass das, was gedacht wird, auch dadurch wirklich ist. Der wirklich denkende Mensch kann Unwirkliches denken. Ganz so verhält es sich mit der sozialen Marktwirtschaft, heute ein Glaubensbekenntnis bundesdeutscher Systemparteien, quer durch alle Farben.
Als Ideologie war die „soziale Marktwirtschaft“ eine kleinbürgerliche Reaktion auf den Konflikt zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft. Diese Positionsbestimmung wurde von CDU und CSU in den „Düsseldorfer Leitsätzen“ 1949 eindeutig vorgenommen. Damals wurde die „soziale Marktwirtschaft“ von beiden Parteien zum Wirtschaftsmodell erklärt, einerseits „im scharfen Gegensatz zum System der Planwirtschaft, die wir alle ablehnen“ und andererseits „aber auch im Gegensatz zur sogenannten ’freien Wirtschaft’ liberalistischer Prägung.“ Damit bekannten die beiden Parteien sich zu einer Variante des Dritten Weges, zugeschnitten auf die Auseinandersetzung in Deutschland, ein Konzept, das eine Alternative zum Kapitalismus und zum Sozialismus sein sollte. War es auf internationaler Ebene eher der Versuch, sich als „Blockfreie“ aus den Muskelspielen der beiden Weltmächte herauszuhalten, ja, vielleicht sogar noch davon zu profitieren, so war das Motiv eines solchen alternativen Konzepts in Deutschland dafür gedacht, das westdeutsche kapitalistische Wirtschaftssystem von dem traditionellen Bild des Kapitalismus als des brutalen „Manchester-Kapitalismus“ abzugrenzen, bei gleichzeitiger Beteuerung der festen Zugehörigkeit zur transatlantischen Gemeinschaft und im Vergleich zur sozialistischen Variante, auch die SPD bekannte sich nach dem Krieg zu einem sozialistischen Wirtschaftssystem, speziell zur DDR-Wirtschaft, sich als die bessere Lösung wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg auszugeben. So sollte der alte Kapitalismus ein für allemal der Vergangenheit angehören und der moderne Kapitalismus sozial und frei sein und allen Bürgern ein Leben in Wohlstand und in Sicherheit gewährleisten. Noch im Wahlkampf Mitte der siebziger Jahre gab die CDU die Parole aus: „Freiheit statt Sozialismus!“ So tief sass der Schock.
Mit dem Programm „Düsseldorfer Leitsätze“ waren also für die beiden die bundesrepublikanische Gesellschaft prägenden Parteien, CDU und CSU, die Würfel gefallen und man hatte sich mit dem Begriff „sozialer Marktwirtschaft“ aus der Verlegenheit gezogen, in die man sich, in Ermangelung eigener Ideen, 1947 im Ahlener Programm gebracht hatte. Dieses Programm war noch nicht vom scharfen Gegensatz gegen sozialistisches Gedankengut gekennzeichnet, es war noch nicht vom Geist des Kalten Krieges geprägt. In ihm wurde eine gemeinwirtschaftliche Ordnung als Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem und die Bedarfsdeckung des Volkes als oberstes Wirtschaftsziel gefordert. Deshalb wurden Planung und Lenkung der Wirtschaft als unerlässlich angesehen, an der sogar die breite Masse der Arbeitnehmer und Konsumenten zu beteiligen sei. Die persönliche Freiheit sollte auf der wirtschaftlichen und der politischen Freiheit beruhen. Nun hat die CDU zwar damals nicht den Sozialismus gefordert, auch nicht den christlichen Sozialismus, aber mit diesen Forderungen lag sie völlig auf der Linie des kapitalismuskritischen Zeitgeistes unmittelbar nach dem Krieg, zumal sie gleich im ersten Satz feststellte: “Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Allerdings hielt sich diese antikapitalistische Ausrichtung nicht lange. Sie verschwand kurz darauf auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung, denn sie war für eine von den Besatzungsmächten favorisierte bürgerliche Systempartei – und das sollte die CDU sein – nicht akzeptabel. In dem Wirtschaftsprogramm „Düsseldorfer Leitsätze“ ist keine Spur mehr von Kapitalismuskritik. Anläßlich der 50. Jahrestages der Ahlener Tagung nannte Klaus Gotto die „Düsseldorfer Leitsätze“ deshalb auch eine „Fortentwicklung und Ergänzung des Ahlener Programms“, was aber nur eine verschämte Umschreibung der Tatsache war, dass die Leitsätze eine ganz fundamentale Korrektur enthielten, denn die CDU und CSU bekannten sich in ihnen zu einer Neuordnung auf „feststehenden ethischen Grundsätzen“. Das bedeutete die Kehrtwende zur Marktwirtschaft, wenngleich nunmehr nicht als freie, sondern als soziale Marktwirtschaft. Aber damit war die Kernidee gerettet. Damit konnte man getrost auf den Begriff Kapitalismus verzichten. Damit konnte man leben und beruhigt in den ersten Wahlkampf ziehen. Im Ahlener Programm kannte man noch nicht den Begriff sozialer Marktwirtschaft, aber das Programm war sozialkritisch und sozialorientiert. In den Düsseldorfer Leitsätzen gab man diesen Begriff als großen Leitgedanken aus, aber in den Leitsätzen schimmerte schon anderes durch, die wirtschaftspolitische Umorientierung war – und das hatten damals schon die Kritiker gemerkt – liberal orientiert. Doch was sollte hier ein Streit um sozial oder liberal? Angesichts dessen, was jetzt geschichtlich zur Entscheidung anstand, waren diese Attribute doch von zweitrangiger Bedeutung. Das waren doch nur Schattierungen von ein und derselben Sache. Jetzt stand vielmehr die Entscheidung an: Marktwirtschaft oder Planwirtschaft. Für Adenauer und Erhard war der Streit um liberal oder sozial von zweitrangiger Bedeutung. Sie erkannten sehr wohl, dass ein solcher Streit zu einem prinzipiellen Konflikt führen musste, der von ihrem politischen Motiv nur ablenkte. Deshalb stellten sie das Bekenntnis zur Marktwirtschaft ganz obenan.
Es ist schon bezeichnend, wie Adenauer die Widersacher in die Schranken wies und die Entscheidung politisch zuspitzte: „Nun wollen wir die Dinge mal gut auseinanderhalten. Ich habe eben schon gesagt, Herr Albers(dieser sah in der Befürwortung der Marktwirtschaft eine Abwendung vom Ahlener Programm – d. V.) , alle solchen Programme und programmatischen Sätze haben keinen Ewigkeitswert, sondern sollen sich mit den Dingen beschäftigen, die jetzt akut sind. Akut ist beim kommenden Wahlkampf die Frage: Planwirtschaft oder Marktwirtschaft.“ Nannte man sie soziale Marktwirtschaft, dann konnte sie auch von Arbeitnehmern akzeptiert werden, die sonst mehr nach links tendierten. Wies sie liberale Züge auf, dann trug sie auch den Erwartungen der Arbeitgeber Rechnung. Für keinen gab es ein Risiko, alle wurden bedient. Jetzt ging es doch nicht mehr um Prinzipien, es ging um die Macht, denn die Prinzipien waren bei der christlich-konservative Spitze zu dem Zeitpunkt längst entschieden. Man wollte also möglichst viele Wählerschichten erreichen. Mit dieser Haltung brachte Adenauer die Partei auf eine Linie. Bei den ersten Bundestagswahlen konnten CDU und CSU mit 31% die absolute Mehrheit erreichen. Das war viel, wenn man bedenkt, dass die CDU innerhalb kurzer Zeit ein neues wirtschaftspolitisches Programm aus dem Boden gestampft hatte. Die SPD mit ihren langen Traditionen kam dagegen nur auf 29,2%. Geschickt hatte die CDU mit der sozialen Marktwirtschaft als Gegenstück zur drohenden Planwirtschaft diese Wahlentscheidung herbeigeführt.
Die geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft, von denen hier Walter Eucken und Alfred Müller-Armack genannt werden sollen, letzterer gab diesem Wirtschaftsmodell auch den Namen, verstanden sie als eine sozial gesteuerte Marktwirtschaft. Sie waren sich im klaren darüber, dass das Soziale in der auf Privateigentum beruhenden Wirtschaft sich nicht einfach und spontan aus den Mechanismen des Marktes ergeben kann, dass es hierfür vielmehr ständiger korrigierender Eingriffe des Staates bedarf, die nicht allein auf die Wirtschaft beschränkt bleiben sollten, sondern auch die Bereiche Bildung, Verkehr, Kultur, Gesundheitswesen, Raumordnung, Außenhandel u.a.m. einbegriffen. Um diese steuernde Einflussnahme des Staates zu sichern, forderte Müller-Armack die „Verstärkung des öffentlichen Sektors“. Der regulierende Eingriff des Staates wurde als eine unerlässliche Voraussetzung angesehen. Die soziale Funktion der Wirtschaft war ihres Erachtens nicht einfach als ein Ergebnis zu erreichen, welches sich durch ein Mehr an blindem Spiel von Angebot und Nachfrage einstellte. Diese Einsicht ergab sich unmittelbar zwingend aus den alltäglichen Erfahrungen. Aber in ihr ist auch eine ganz allgemeine Handlungsmaxime des Menschen festgehalten, nämlich die, dass der Mensch immer Techniken einsetzt, um Ziele zu erreichen und der Marktmechanismus eine solche vom Menschen angewandte Austausch- und Verteilungstechnik ist. Stets bestimmt der Anwender der Technik den Zweck ihres Einsatzes. Und je nachdem, wer der Anwender ist, unterscheiden sich auch die Ziele.
Die kapitalistischen Zielen unterworfene Marktwirtschaft, auch freie Marktwirtschaft genannt, ist dem alles beherrschenden Ziel des größtmöglichen Profits der einzelnen Kapitalisten unterworfen, mit all den positiven, aber eben auch negativen und letztlich zerstörenden Begleitumständen für die Menschen. Soll die Marktwirtschaft dagegen auf das Wohl der ganzen Gesellschaft ausgerichtet sein, auf den sozial gerechten Anteil aller am Ergebnis der Volkswirtschaft, kann sie daher nicht vom kapitalistischen Profitinteresse gesteuert werden, sondern braucht es eine darüber stehende Institution, die den Erhalt des Ganzen im Auge hat. Und diese Institution ist der Staat. Doch nicht schon der Staat schlechthin gibt die Gewähr, nicht der von den kapitalistischen Interessen bestimmte Staat, woher sollte dieser Sinneswandel kommen, sondern es muss ein Staat sein, der sich allen Angehörigen der Gesellschaft verpflichtet fühlt. Soziale Marktwirtschaft könnte also nur unter konsequent demokratischen Verhältnissen funktionieren. Und je konsequenter die Demokratie gehandhabt wird, desto wirksamer könnte der ganzen wirtschaftlichen Tätigkeit diese soziale Absicht und Verantwortung aufgetragen werden. Doch eine solche Demokratie hat es in der BRD nie gegeben.
Aber ist nicht unter Ludwig Ehrhard als Wirtschaftsminister in der Adenauer-Regierung die Idee der sozialen Marktwirtschaft dennoch erfolgreich praktiziert worden? Wurde damit nicht das von den Unionsparteien vertretene Wirtschaftsmodell in einem System der parlamentarischen Demokratie, also ohne Vorhandensein einer starken volkssouveränen Demokratie, gesellschaftliche Realität? Dieses Märchen wird beharrlich verbreitet. Erhard als Wirtschaftsminister war Politiker. Die von den Besatzungsbehörden vorgesehenen deutschen Handlanger erkannten die Faszination, die von dem Begriff der sozialen Marktwirtschaft ausging. Dieser Begriff half ihnen aus der politischen Klemme. Mit ihm konnten sie sich sowohl gegen den unpopulären Kapitalismus und gegen den verhassten Sozialismus abgrenzen, als auch das Interesse der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf sich richten. Gerechte Teilhabe an den wirtschaftlichen Ergebnissen für den Arbeitnehmer, Entscheidungsfreiheit für den Arbeitgeber, Mitbestimmung für den Arbeitnehmer und keine hinderlichen Machtkonzentrationen und Zugangshürden für den Unternehmer – in einer solchen idyllischen Neuordnung kann es ja nur Wohlstand und Zufriedenheit geben, zumal von staatlicher Seite aus Zurückhaltung versprochen wurde. Stattdessen sollten Systemregelungen geschaffen werden, mit denen sich der soziale Ausgleich weitgehend automatisch einstellen würde. „Wohlstand für alle!“ Und das auf ständig steigendendem Niveau. Welch eine phantastische Perspektive nach den Jahren des Krieges, der Entbehrungen und des Hungers. Adenauer und Erhard und mit ihnen die gesamte CDU machten sich die von biederen Ökonomen entwickelten Ideen zu eigen und verkündeten sie als wirtschaftspolitisches Erfolgsrezept, das den Wünschen aller Schichten entsprach. Das war die Ideologie, die man brauchte, mit der man leicht alle anderen Regungen oder gar Kritiken mundtot machen konnte. Damit war man obenauf.
Das war die geistige Atmosphäre des einsetzenden sogenannten westdeutschen Wirtschaftswunders, welches offensichtlich die praktische Bestätigung lieferte. Und da es in der Tat in den fünfziger Jahren zu einem dynamischen Wirtschaftswachstum kam, scheinen rückblickend hier Wort und Tat überein zu stimmen. Doch mehr und mehr drängt sich die Frage auf, ob der Wirtschaftsboom wirklich eine Folge dieser wirtschaftspolitischen Verkündigung war, also tatsächlich aus ihr heraus zu erklären ist? Besteht hier ein kausaler Zusammenhang oder liegt nur eine Gleichzeitigkeit vor, die den Anschein einer inneren Ursächlichkeit erweckt? Dabei soll auf zwei Gesichtspunkte verwiesen werden. Erstens ist der Aufschwung als Wiederaufbauleistung der im Krieg zerstörten Wirtschaft anzusehen, die anders als nach dem Ersten Weltkrieg nicht durch die Siegermächte behindert wurde. Hinzu kommt, dass in großem Umfang ausländische Arbeitskräfte angeworben wurden. Ferner hat sich die Hauptmasse der ostdeutschen Flüchtlinge und Vertriebenen sowie der Spätheimkehrer Mitte der fünfziger Jahre im Westen Deutschlands angesiedelt. Der kriegsbedingte Verlust an Arbeitskräften wurde auf diese Weise in der BRD weitgehend kompensiert. Unter diesen Bedingungen konnte, unter Ausnutzung vorhandener Wirtschaftserfahrungen, das kapitalistische System innerhalb kurzer Zeit bedeutende expansive Kräfte entfalten. Und zweitens wurde die Wirtschaftsentwicklung durch steigende Neuverschuldung hoch getrieben, um die Überlegenheit des kapitalistischen Systems über das sozialistische auf deutschem Boden zu manifestieren.
Man darf nie aus den Augen verlieren, dass es das gespaltene Deutschland war, und hier wieder im besonderen das geteilte und vor allem missbrauchte Berlin, wo die Machtblöcke hart aufeinander prallten, wo der Wettbewerb der beiden Weltsysteme um den Überlegenheitsnachweis mit größten Kraftanstrengungen geführt wurde. Aufschlußreich ist in dem Zusammenhang, was Hans Jörg Müllenmeister in seinem Beitrag „Die Schuldenberg-Predigt“ schreibt: „Der Schuldenstand steigerte sich von 1950 bis 1970 zuerst moderat auf 2,7 Mrd. Euro pro Jahr, steiler verlief die Kurve zwischen 1971 bis 1989 mit einer Verschuldungsgeschwindigkeit von 21,6 Mrd. Euro, also um den Faktor 9. Zwischen 1990 und 2004 stieg die Jahresverschuldungexponentiell um 61,5 Mrd. Euro (Faktor 20).“ Auf diese Weise wurde das Wirtschaftswunder gewissermaßen zu einem Dauerbrenner gemacht, indem man vor allem in den siebziger Jahren zu einer Verschuldungspraxis überging, die man heute mit der saloppen Bemerkung abtut, dass man eben über die Verhältnisse gelebt habe. Es dürfte aber eine nicht zu bestreitende Feststellung sein, dass eine sich verschuldende Volkswirtschaft mit sozialer Marktwirtschaft nichts gemein hat, denn ein Wohlstand auf Pump und zu Lasten der späteren Generationen kann ja wohl nicht eine wirkliche Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zur sozialistischen Planwirtschaft sein. Gerade an dieser hemmungslosen Verschuldung zeigt sich, dass die politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik ganz andere Ziele verfolgten, als den Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft.
Zwischen dem als Wirtschaftswunder deklarierten Wirtschaftsboom und der verkündeten Sozialen Marktwirtschaft besteht also kein kausaler, sondern nur ein ideologischer Zusammenhang, indem hier eine wirtschaftliche Realität in ein ideologisches Gewand gehüllt wurde. Die Entschuldigung, dass man einfach über die Verhältnisse gelebt habe, ist insofern irreführend, als damit die wahren Gründe verschleiert werden und die Schuldigen gar nicht als Schuldige herausgestellt werden, sondern das Volk als Nutznießer sich vielmehr selbst schuldbewusst an die Nase greifen soll. Nicht zu unrecht wurde die BRD als Schaufenster des Kapitalismus bezeichnet, eine Funktion, die sie mit viel Geschick und Rafinesse bis zum Zusammenbruch des Sozialismus erfüllte. Der DDR war in diesem Systemwettbewerb die Luft ausgegangen. Und wie sah es bei der BRD aus? Hans Wolff Graf kommt in seinem “Plädoyer für ein neues Steuer-, Wirtschafts- und Sozialkonzept in der Bundesrepublik Deutschland“ zu folgender Einschätzung: „Künftige Historiker können den 9. November 1989 als den „day of no return“, als „Tag des Erwachens“ in der Geschichte markieren.
Mit dem Tag der Wiedervereinigung begann sich nämlich innerhalb kürzester Zeit das bundesdeutsche Sozialstaats-Wesen als das zu entlarven, was es tatsächlich längst war: Ein durch und durch verrottetes spseudo-demokratisches wie auch pseudo-soziales Politkartell, das sich wirtschaftlich übernommen und politisch selbst zerfressen hat.“
Einzig die Banken haben an diesem Wettbewerb der beiden Systeme gut verdient und sie haben nach der Eingliederung der DDR in die BRD wieder gut verdient, denn das Schuldenmachen nahm schwindelerregende Dimensionen an. Doch jetzt fehlt die Kraft, um die Zinsen zu zahlen, geschweige denn, die Schulden zu tilgen. Müllenmeister rechnet deshalb mit einer Währungsreform. Die Schulden zu streichen oder wenigstens ein zehnjähriges Schuldenmoratorium, ist dagegen die demokratische Variante der Problemlösung. Welche Variante zum Zuge kommt, wird dann vom realen Kräfteverhältnis abhängen, vom Zustand der Demokratie.
Doch das Märchen von der sozialen Marktwirtschaft ist noch immer eine anziehende Geschichte. Mit dem Zusammenbruch der DDR und als Konsequenz aus den Folgen der skandalösen Verschuldung und der einsetzenden Politik der Globalisierung erfolgte eine schrittweise Abkehr von der Politik der sozialen Korrumpierung. Praktisch verließ man damit ein bei der Bevölkerung populäres Terrain. Allmählich begann der Wind wieder aus einer anderen Richtung zu blasen, der kalte Wind aus der Richtung der freien Marktwirtschaft. Das ist der Grund, weshalb man aus der Erinnerung an die goldenen Jahre eine ebenso bestimmte Zuversicht auf die goldenen Jahre in die Zukunft projiziert. So wird der Begriff soziale Marktwirtschaft aufpoliert, diesmal nicht als Beweis gegen den Sozialismus, sondern als angeblich historisch begründetes Leitbild einer globalisierten freien Marktwirtschaft. Allerdings fehlt im Vergleich zu damals das permanente praktische Erfolgserlebnis einer boomenden Volkswirtschaft. Damals diente die soziale Marktwirtschaft der Deutung eines Zustandes, heute ist sie Zukunftsmusik, in beiden Fällen also Manipulation.. Freilich fehlt heute eine solche Persönlichkeit wie Ludwig Erhard. Aber ist das der Grund mangelnder Überzeugungskraft? Nein, der Boden, auf dem die Neue Soziale Marktwirtschaft aufgehen soll, ist ohne Humus. Und die Körner sind taub. Nirgends gibt es eine Bestätigung im Alltag. Die soziale Marktwirtschaft steht nur in der Überschrift. Selbst eine Rückbesinnung auf die Väter der Idee fehlt, weil das, was heute gesagt wird, sich gar nicht aus dem, was sie damals gesagt haben, ableiten ließe. Die Neue Soziale Marktwirtschaft ist ein dreister Etikettenschwindel, der genauso unverfroren begangen wird, wie alle anderen Schwindeleien in dieser Gesellschaft auch. Weil Ludwig Erhard damals mit seinem Konzept der sozialen Marktwirtschaft recht hatte, deshalb müssen auch ihre Verfechter in der CDU und CSU und in den Wirtschaftsverbänden heute recht haben, so die Logik, denn schließlich berufen sie sich auf dieses Konzept. Nach diesem absurden Schema verfahren sie, ohne die Begründer, mehr noch, ohne deren Ideen auch nur eines Blickes zu würdigen. Welch eine Irrationalität!
Ungeschminkt werden die Elemente der freien Marktwirtschaft als neue Münze ausgegeben, mit der man sich die soziale Marktwirtschaft eintauschen kann. Sie übergehen einfach die Tatsache, dass im Lande der Protest gegen diese Neue Soziale Marktwirtschaft wächst, weil die Leute das Soziale vermissen. Der Hinweis auf die Vergangenheit kann die Erfahrung der Gegenwart nicht verdrängen. Der Trick gelingt nicht. Der Missbrauch hat einmal geklappt, ein zweites Mal nicht. Aber noch immer glauben viele, dass wenigstens damals die Sache sich tatsächlich so verhalten hat, wie man es ihnen darstellt. Dieser Glaube muss zerstört werden, damit die Menschen dieses System von Anfang an und ohne Wenn und Aber als das erkennen, was es immer war und ist – betrügerisch. Die Ideologie war falsch und der Wohlstand erzeugte den Anschein ihrer Richtigkeit. Er stieß sie immer tiefer in das geistige Dunkel, aus dem es schwer ist, sich zu befreien. Gift ist das Materielle dann, wenn es uns vernebelt. Wohlstand, der dem Betrug dient, ist nicht mehr Wohl-stand, sondern Laster. Wer ihm verfallen ist, nimmt alles in Kauf, auch die Selbstverleugnung, und sei es aus Angst vor der Wahrheit des Erwachsens. Wirklichen Wohlstand gibt es nur bei freien, selbstbewussten Bürgern.
Aber zurück zur Neuen Sozialen Marktwirtschaft. Die von ihr vertretenen Reformen werden als Bedingung für einen „Aufbruch ins zweite Wirtschaftswunder“ hingestellt, als „effiziente Selbstregulierungskräfte“, die wirksame Gegenmittel gegen die wirtschaftlichen Wachstumsprobleme sind. Es gelte endlich alle Schranken niederzureißen, wie Kündigungsschutz, Flächentarifverträge, Wettbewerbskorrekturen, Subventionen usw., also alles das, was gegenwärtig den kapitalistischen Wildwuchs noch behindert. „Soziale Marktwirtschaft braucht nur ein Minimum an Ethik und Regeln…“, ist ihre Überzeugung, denn alles, was Arbeit schafft, das sei auch sozial. Es fehlt bloß noch der Zusatz, das mache auch frei. Dieses neoliberale Wirtschaftskonzept wird nun auf verschiedenen Wegen in das geistige Leben der Gesellschaft eingeschleust, in Schulen und Universitäten, in Presse, Rundfunk und Fernsehen, ja bis in die künstlerischen Prozesse hinein. Es handelt sich also um eine stabsmäßig geführte Manipulierung, eine zweite Umerziehung der Deutschen, treffender vielleicht, um die geistige Vorbereitung auf die Entseelung als Volk und Individuum. Zur Unterstützung dieser Initiative wurde dann 2005 ein „Förderverein Initiative Neue soziale Marktwirtschaft“ gegründet, zu dessen Mitgliedern unter anderem gehören: Florian Gerster, der verkrachte Leiter des Bundesarbeitsamtes, Friedrich Merz, der glücklose Erfinder des Bierdeckelsteuerklärung und Hans Tietmeyer, einer der geistigen und praktischen Wegbereiter der Neuen Sozialen Marktwirtschaft.
Auf der Grundlage dieser Vorgaben aus der Wirtschaft haben CDU und CSU ihre programmatischen Vorstellungen zur Neuen Sozialen Marktwirtschaft niedergelegt, gleichsam als populäre Übersetzung der Vorgaben, um den Einfluss auf die Masse der Wählerschaft nicht ganz zu verspielen: das Versprechen und die Ablehnung des Sozialstaates in einem Atemzug. Das, was die Wirtschaftsverbände, in plumper Herr-im-Hause-Manier ankündigen, die Lieblingspose von Herrn Hundt, die Minimierung des Kostenfaktors Arbeitskraft gegen Null, wird von den Politikern in mehr Freiheit für persönliche Leistungsbereitschaft übersetzt. Gemäßigter im Ton, aber identisch in der Sache. Was nützt die Warnung vor Egoismus und Ausgrenzung, die Vorbehalte gegen Deregulierung als Selbstzweck und Privatisierung und die Warnung, Marktergebnisse zu verabsolutieren, was nützt das alles, wenn man sich auf die Fahnen schreibt: „Weniger Staat, mehr privat“? Blenden wir noch einmal zurück: die Väter der sozialen Marktwirtschaft setzten auf staatliche Steuerung. Die eben genannte Formel wäre ihnen nie in den Sinn gekommen. Man kann überhaupt sagen, dass die großen Ökonomen der Vergangenheit immer auch die soziale Verantwortung der Wirtschaft für die Gesellschaft betonten und den Staat dabei in die Pflicht nahmen. Die Verkünder der Neuen Sozialen Marktwirtschaft sehen das gerade andersherum, für sie ist der Staat geradezu ein Hindernis für die Wirtschaft bei der Erfüllung ihrer sozialen Verantwortung. Sie folgen hier dem früheren US-Präsidenten Reagan: Wir hielten bisher den Staat für die Lösung und erkennen nun, dass er das Problem ist. Die Ökonomen aus den deutschen Wirtschaftsinstituten heute stehen längst nicht mehr in der Tradition der aufrichtigen Pionierarbeit von einst.
Es dürfte unbestritten sein, dass die sozialorientierte Steuerung der Wirtschaft eine starke Demokratie voraussetzt. Doch was ist unter starker Demokratie zu verstehen? Die Demokratie als Umsetzung des Willens des Souveräns auf die Wirtschaft wird sich immer in zwei Richtungen zu orientieren haben:
a) die Sicherung der materiellen Lebensbedingungen einschließlich der Erhaltung und Verbesserung der Lebensumwelt, also das, was im allgemeinen unter dem Begriff sozialer Absicherung verstanden wird.
Und b) die wirtschaftliche Erneuerung, die Hinlenkung der Wirtschaft auf den neuen Gegenstand menschlicher Tätigkeit, sprich, die ganzheitliche Gestaltung des natürlichen Reproduktionsprozesses. Dieses Anliegen ist keineswegs zweitrangiger Natur, denn seine Umsetzung ist die Voraussetzung des Fortbestandes des Menschen. Es ist ja gerade die Schwäche gegenwärtiger Wirtschaftspolitik, dass von ihr gar keine Führungsimpulse ausgehen, sondern dass sie sich von der Wirtschaft und den Banken und den globalen Finanzinstitutionen gängeln lässt. Sie hat keine Wirtschaftsphilosophie,geschweige denn ein strategisches Konzept. Als Beispiel kann hier das mit Russland eingegangene Erdgasgeschäft angeführt werden. So etwas bringt uns nicht nach vorn bei der Erneuerung, sondern hält uns zurück. Die demokratische Steuerung der Wirtschaft ist also vor allem als inhaltliche Zielvorgabe zu verstehen und nicht als Reglementierung unternehmerischen Handelns. Bei einer solchen Betrachtungsweise ist das unmittelbare Eingreifen des Staates eher ein Notbehelf. Wirtschaftliche Erneuerung wird nicht über eine die Einzelinitiative ausschaltende Kommandowirtschaft erreicht, aber eben auch nicht über das willkürliche privatkapitalistische Unternehmerinteresse. Neben diesen gesamtgesellschaftlichen Lenkungsimpulsen werden die regionalen und kommunalen Lenkungsimpulse eine immer größere Rolle spielen, um den jeweiligen Besonderheiten besser Rechnung zu tragen. Die Rücknahme der Wirtschaftsmonopole und die Schaffung dezentraler Wirtschaftsformen schafft Freiräume für ökologische Ziele und für unternehmerische Initiativen.
Die soziale Marktwirtschaft war ein Wunschbild ihrer Zeit, mit dem Politiker Menschen für ihre Zwecke manipuliert haben. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand für alle reicht für die Gestaltung der Zukunft nicht aus. Die wirtschaftliche Tätigkeit der Zukunft muss auch einen natürlichen Zweck verfolgen. Sein Erreichen bestimmt ganz maßgeblich die soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Bei der Neuen Sozialen Marktwirtschaft fehlt dieser Hinweis auf inhaltliche Neuausrichtung. Sie ist herkömmliches Denken, welches unter den heutigen technischen Bedingungen einen höheren Grad von Hemmungslosigkeit einfordert.
J. Hertrampf