Europa in der Krise

 

Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben.
Macht Euch nur von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten
laden uns zu neuem Leben ein.
Chr. Morgenstern

 

Eine Umfrage des Forschungsinstitutes Demos & pi in den sechs größten
EU-Ländern hat ergeben, dass sich ein Meinungsumschwung bei der Bewertung der EU und des Euro vollzogen hat. Die Mehrheit der Befragten hat kein Vertrauen mehr.
Diese Tatsache wird von „Spiegel ONLINE“ (25.02.2015) in die fatalistische
Behauptung umgedeutet, „Europa glaubt nicht mehr an Europa“. Damit wird der Eindruck erweckt, dass die EU-kritische Mehrheit der Bürger Europa fallen gelassen hat, indem Europa mit der EU, mitsamt ihrem Euro, gleichgesetzt wird. Vielmehr verhält es sich andersherum. Die EU-Kritiker wollen Europa erhalten. Sie kritisieren die EU und den Euro, weil diese Europa zerstören. Die Versprechungen, dass EU und Euro den Wohlstand und die Wirtschaftskraft Europas langfristig sichern würden, haben sich als falsch erwiesen. Stattdessen ist die Verschuldung der EU-Staaten ins
Unermessliche gestiegen, der Wohlstand ist gesunken, Wirtschaft und Technik haben ihren Anschluss an die globale Dynamik verloren. Diese irrationale Politik macht die Völker psychisch krank.


Die von den Politikern beteuerten Absichten, die EU bürgernah zu machen, zu demokratisieren und die Einschränkungen der nationalen Souveränität
zurückzunehmen, wurden nicht umgesetzt. Mit solchen Versprechungen täuschen sie die Völker. In finanzpolitischer, rechtlicher und außen-politischer Hinsicht wurden die nationalen Befugnisse vielmehr eingeschränkt. In den gesellschaftlichen Kernbereichen wurde die nationalstaatliche Souveränität aufgehoben, an ihre Stelle trat eine europäische Zentralsteuerung. Vor allen möglichen Entscheidungen müssen die Staaten sich erst in Brüssel rückversichern. Das Leben in der EU wird zunehmend nivelliert. Das hat zur Folge, dass Europa auf dem Wege ist, seine nationale Vielfalt zu verlieren und damit die Voraussetzung seiner besonderen Kreativität. Verstärkt wird diese Tatsache durch den von der EU geförderten Massenzuzug von Nichteuropäern nach Europa.


Der von den USA diktierte Westen betreibt mit wachsender Selbstverachtung die Chaotisierung Europas, um aus Europa eine gefügige Masse gegen Russland zu machen. Wie im Falle der Ukraine erneut bewiesen wurde, scheren sich die westlichen Wortführer nicht um das Völkerrecht. Sie unterwühlen Staaten, sie hetzen gegen demokratisch gewählte Regierungen und unterstützen terroristische Kräfte mit
Waffen und Geld. Sie zwingen die EU-Völker in die Rolle von Hilfs-willigen ihrer Politik. Auf die Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses zu ihren Ungunsten reagieren sie mit volksverhetzendem Hass und militärischer Aufrüstung, mit Einschränkung der Bürgerrechte und Sozialabbau. So geraten sie immer tiefer in die Sackgasse, die in einer globalen Kriegskatastrophe endet.


Die westlichen Politiker besitzen die Frechheit, die Völker auf einen Weg zu zwingen, den diese nicht gehen wollen, die aber für eine Umkehr noch zu schwach sind. Viele Bürger in den europäischen Ländern fragen sich: Ist das drohende Unheil noch abzuwenden? Sie zweifeln an den Oppositionsparteien. Die Meinung, EU-kritische Parteien könnten im Europäischen Parlament einen Reformprozess einleiten, hat
sich als falsch erwiesen. Solche Parteien passen sich sehr schnell in das
vorgeschriebene, üppig privilegierte Parlamentsgeschäft ein, andere rücken von ihren ursprünglichen Positionen ab, wie das bei der „Alternative für
Deutschland“ festzustellen ist. Zudem hat das Europäische Parlament keine
maßgeblichen Befugnisse. Die Entscheidungen werden im Europäischen Rat getroffen, der sich aus den Regierungschefs der EU-Staaten zusammensetzt und der Europäischen Kommission Anweisungen zur Umsetzung erteilt. Das Europäische Parlament kann die EU nicht umkrempeln. Noch haben die nationalen Regierungen einen letzten Handlungsspielraum, eine Notbremse, indem sie sich der EU-Führung
verweigern. Das hat Griechenland bewiesen.


Die oben genannte Studie brachte weiterhin zum Ausdruck, dass viele Bürger bezüglich einer klaren Ablehnung von EU und Euro noch zögern, weil sie schwerwiegende negative Folgen befürchten. Im Mittelpunkt steht dabei die hohe Verschuldung. Die Staatsverschuldung ist in zweifacher Hinsicht bedrückend. Zum einen werden Schulden zu einem bestimmten Zeitpunkt fällig und müssen dann zurückgezahlt werden. Und zum zweiten müssen für die Schulden über ihre Laufzeit hinweg Zinsen gezahlt werden. Wenn also durch die Schuldenaufnahme eine Volkswirtschaft nicht spürbar gestärkt wurde, dann erweisen sich Schulden als eine in die Zahlungsunfähigkeit treibende Belastung. Und dieser Missstand ist generell für die EU-Länder typisch. Es wurden Unsummen an Steuermitteln und Krediten aufgebracht, um die EU einzurichten und attraktiv erscheinen zu lassen. All das Geld
wurde verbraucht, ohne einen entsprechenden Zuwachs an Wirtschaftskraft und technischem Innovationsschub zu erzielen. Man hat die Zeit mit anderen Dingen vertrödelt. In einer solchen Situation die Zahlungsschwäche dadurch kompensieren zu wollen, dass mit neu gedrucktem Geld Staatspapiere finanzschwacher Ländern aufgekauft werden, wie das die EZB derzeitig betreibt, befeuert nur die Spekulanten an den Börsen und führt immer tiefer in den Sumpf.


Der andere Weg ist, dass man durch Sparen und Sozialabbau Geld aus dem
Reproduktionsprozess absaugt, um den Schuldendienst zu bedienen. Von einem allgemeinen Sparzwang kann dabei nicht die Rede sein, denn der Staat spart nicht, vor allem nicht, wenn es um die Rüstung geht. So hat Griechenland trotz seiner hohen Schuldenbelastung jährlich Milliarden in die Rüstung gesteckt und wurde dafür von der EU-Spitze nicht kritisiert. Gemessen an der Bevölkerungszahl und dem Bruttosozialprodukt nimmt Griechenland sogar eine Spitzenrolle in der EU hinsichtlich der Größe seiner Armee, der Militärausgaben und der Waffenkäufe ein.


Auffallend ist: die exorbitante Aufrüstung Griechenlands findet als Grund seiner finanziellen Schieflage in den Medien kaum Erwähnung. Stattdessen richtet sich der Sparappell der EU vor allem an die Bürger Griechenlands und der EU, wobei die Staaten an der Steuer- und Abgabenschraube drehen und die Medien daraus eine allgemeine unvermeidliche Teuerungsrate machen, so dass bei den Bürgern der Eindruck entsteht, als handele es sich um einen ganz normalen Zeittrend.

 

 

Sozialabbau und Armut sind aber kein Gesetz der Zeit! Das mit aller Entschiedenheit abzulehnen und vielmehr an einem Programm der sozialen Sicherung festzuhalten, wie das die griechische Regierung tut, das ist ein Novum unter den Mitgliedsstaaten der EU.


Beide Wege, Geldflutung und Sparzwang, gehen zu Lasten der Realwirtschaft und zu Lasten des sozialen Standards. Wer die Schwächung der eigenen Volkswirtschaft und den Sozialabbau vermeiden will, muss also beide Wege ablehnen. Auf Grund der enormen Schuldenhöhe sind beide Wege nicht gangbar.


Sehr deutlich wurde die politische Sprengkraft dieses finanzpolitischen Problems durch den Wahlausgang in Griechenland. Das Linksbündnis „Syriza“ war mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen, mit dem Sozialabbau Schluss zu machen, sich nicht weiter dem Druck von EU, EZB und IWF zu beugen. Exemplarisch wurde diese Haltung bekundet, in dem der „Troika“, dem Exekutivorgan des internationalen
Finanzkapitals, der Stuhl vor die Tür gesetzt wurde und die griechische Regierung einen Schuldenschnitt forderte. Dieser Vorschlag stieß bei den EU-Führern, besonders beim deutschen Finanzminister, Schäuble, auf Widerstand. Unter vorgehaltener Hand wurden zwei Gesichtspunkte geltend gemacht. Erstens wurde befürchtet, eine solche Renitenz könnte Schule machen und zur Auflösung der EU führen. Und zweitens, ein griechischer Schulden-schnitt würde die verbleibenden Länder finanziell überstrapazieren, vor allem Deutschland. Deutschland müsste seine
griechischen Kredite abschreiben und seine Bürgschaften einlösen. Schäuble sprach in dem Zusammenhang von ca. 60 Mrd. Euro, um die Deutschland von heute auf morgen ärmer sein würde. Angesichts des Widerstands gegen weiteren Sozialabbau wäre die politische Aussicht der Bundesregierung also alles andere als rosig. Ein griechischer Schulden-schnitt würde den EU-kritischen Bewegungen neuen Auftrieb
geben. Deswegen vermied man eine Zuspitzung der Konfrontation mit Griechenland und kehrte die versöhnliche Seite heraus. Die griechische Regierung ging darauf ein, hielt aber dennoch an ihrer ursprünglichen Position des Schuldenschnitts fest.


Faktisch ist die Sache nicht entschieden, sondern nur verschoben. Und das besorgt natürlich die Bürger in Deutschland und in anderen betroffenen Ländern. Die Entlastung der Griechen würde 1:1 eine Neubelastung der Bürger in anderen Ländern bedeuten. Der Schulden-schnitt hätte unmittelbar negative Folgen für die Bürger in den anderen Ländern. Zumal es ja nicht bei Griechenland bleiben würde.


Der Zahlungskräftige müsste reihum für die Zahlungsschwächeren aufkommen. In Anbetracht dieser Drohkulisse erhoffte sich Schäuble Rückendeckung für seine schroffe Ablehnung der griechischen Haltung, die er dann auf Druck aus den eigenen Reihen hin aufgab.


Unseres Erachtens ist es richtig, dass die griechische Regierung sich nicht in die Mangel nehmen lässt, sondern am Schuldenschnitt festhält. Wir unterstellen ihr nicht, dass es ihr gleichgültig ist, ob ihre Ausrichtung zu nachteiligen Folgen in anderen Ländern führt. Aber es wird deutlich, dass das Problem so nicht gelöst werden kann.


Zumindest wirft es Fragen auf, die die gesamte EU betreffen. Durch die griechische Beharrlichkeit werden die Menschen in allen EU-Ländern zum Handeln gezwungen. Sie können eben nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und sich den Gegebenheiten fügen, in der Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang. Dann ist ihnen ein böses Erwachen sicher. Wie sollten sie sich also verhalten?

 

 

Die haushohe Verschuldung ist allbekannt, doch niemand spricht darüber, wie sie beseitigt werden kann. Dabei hat Europa mit ihr keine Zukunft. Warum macht man um sie einen Bogen? Liegt es nur daran, dass diejenigen, die sie aufgetürmt haben, das Eingeständnis scheuen, sie nicht beseitigen zu können? Oder liegt es daran, dass sie das gar nicht wollen, weil sie nicht auf die Zinsen verzichten wollen, die dieser Schuldenberg jährlich abwirft? Weil die Herrschenden versagen, muss die
demokratische Opposition die Entschuldung auf die Tagesordnung setzen und zugleich eine Lösung fordern, die nicht zu Lasten der Völker geht.
Der Schuldenberg ist auf „normalem“ Wege nicht mehr zu tilgen. Soll er beseitigt werden, bleibt als einzige Möglichkeit der Schuldenschnitt, der Nehmer- und Geberländer erfasst, bei dem die Schulden des Geberlandes um den Betrag gestrichen werden, um den die Schulden des Nehmer-landes gestrichen werden.


Rein theoretisch ist das eine Variante des Nullsummenspiels, bei dem keine Seite auf Kosten der anderen einen Vorteil hat. Es entstehen auf keiner Seite Belastungen, die von der anderen Seite getragen werden müssen. Die Verluste, die dem Geber entstehen, weil ihm vom Nehmer keine Zinsen zufließen, werden kompensiert durch den Zinswegfall für eigene Schulden.
Dass EZB-Präsident Draghi und die internationale Finanzwelt nicht auf die Idee kommen, einen solchen paritätischen Schuldenschnitt als Problemlösung zu favorisieren, ist verständlich, denn ihnen werden mit einem solchen Schuldenschnitt die Fäden aus der Hand genommen, mit denen sie das ganze Spiel dirigieren - und mit dem sie die Völker im Finanzjoch halten. Für die Völker wäre er eine Erlösung, die ihnen nicht geschenkt wird, sondern die sie sich gemeinsam erkämpfen müssen.


Wenn die griechische Regierung auf dem Schuldenschnitt beharrt, was nicht nur ihr gutes Recht, sondern ihre demokratische Pflicht ist, dann muß diese Forderung nun auch in den anderen EU-Ländern erhoben werden. Darin findet die Solidarität mit dem griechischen Volk seinen Ausdruck, die gleichzeitig im Interesse eines jeden Volkes liegt. An dieser Forderung scheidet sich die echte alternative Opposition von der opportunistischen Opposition, die sich starker Worte bedient, aber dann umfällt,
wenn sie sagt, die jetzige griechische Regierung soll sich mal an die Verträge der Vorgängerregierungen halten. Die Motive der Befürworter bei der letzten Abstimmung im Bundestag um die Verlängerung der Griechenland-Hilfe bis Mitte des Jahres mögen verschieden gewesen sein, aber objektiv waren sich CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke einig, sie stimmten dafür und damit gegen den deutschen Steuerzahler. Wie das die Linke mit ihrem sozialen Gewissen vereinbart, bleibt ein Geheimnis.


Was über viele Jahre an internationaler verflochtener Schuldenmasse angehäuft wurde, kann nicht von heute auf morgen aufgelöst werden. Die Abwicklung der Verschuldung wird einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Wichtig ist aber, dass der Wille dazu da ist und die Verpflichtung, die Beseitigung des Schuldenberges nicht auf dem Rücken der Bürger auszutragen.


Es ist an der Zeit, dass die EU endlich einen Schritt im Interesse ihre Bürger tut und eine Kommission zur Entschuldung bildet. Schäuble würde sicher überfordert sein, eine solche Aufgabe zu leiten. Aber er hat sich ja sehr anerkennend über den Charakter und die Fähigkeiten des griechischen Finanzministers Varoufakis geäußert. Möge die EU ihn als Vorkämpfer des Schuldenschnitts an die Spitze dieser dringenden Aufgabe stellen. Dann wäre das griechische Wahlergebnis nicht nur ein gutes Omen für Europa, sondern der Auslöser einer Neugestaltung.


Der Schuldenschnitt, zwischen den Staaten ausgehandelt, würde den Ländern verlorene finanzpolitische Verantwortung zurückgeben und die verkrampfte Situation in Europa, für die es keinen Ausweg zu geben scheint, beenden.

 

 

Dr. Johannes Hertrampf

5.3.2015