Erneute Selbsttäuschung

 

 

 

 

Dr. Johannes Hertrampf – Es scheint so, daß die Führer der Bundestagsparteien allmählich begreifen, in welcher ernsten Lage sie sich befinden. Es droht der totale Bankrott. Sie sollen Auswege aus der Krise zeigen und haben keine. So weichen sie auf Koalitionsvorstellungen aus, wodurch die Sache nicht besser wird. Denn wie viele Parteien eine Koalition bilden, macht die Sache nicht leichter. Wo nichts ist, ist nichts. Und wenn der Bürger merkt, daß nichts zu erwarten ist, läßt er die Parteien durchfallen und aus ist der Traum vom umjubelten Parteiführer.

 

Soweit das bei der widerstrebenden Berichterstattung erkennbar ist, wollen alle für den Parteivorsitz vorgesehenen Kandidaten eine Erneuerung der CDU, damit sie wieder als stärkste Volkspartei die staatstragende Rolle spielen kann. Die CDU soll also das werden, was sie einmal war. Und das deckt sich genau mit dem, was Herrn Gauland vorschwebte, der aber dafür von den CDU-Granden als eine bedrohliche Existenzgefährdung eingestuft wurde. Was heute als selbstverständlich angesehen wird, damit die Partei wieder zu alter Schönheit zurückfindet, war bis vor kurzem noch keine Neuerkenntnis, denn dieses Urteil kratzte am Lebenswerk von Frau Merkel. Die Bundeskanzlerin ging von der Annahme aus, daß die CDU schon über alle Voraussetzungen verfüge, eine historische Veränderung Europas zu bewirken. Doch das sehen die heutigen potentiellen Nachfolger im Amt von Merkel anders. Generell ist das richtig. Aber ob sie selbst schon den Ausweg wissen, ist fraglich, denn ihre Stellungnahmen enthalten nichts Neues. Das ist aber entscheidend, denn ansonsten wird Politik zur Geisterfahrt. Die Maßstäbe, nach denen bewertet wird, müssen einen Umbruch bewirken. Haß und Rache verzerren das Bild und sind deshalb für eine demokratische Aufarbeitung fehl am Platze. Nicht die rhetorische Frechheit schafft klaren Durchblick, sondern die nüchterne wissenschaftliche Untersuchung. Das schließt jegliche Vertuschung und Unterschlagung von Tatsachen aus. Ohne Rücksicht müssen die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Politische Arbeit ist nicht Wirken in einem rechtsfreien Rahmen, der dem Bürger wie ein Buch mit sieben Siegeln verschlossen bleibt. Wer gegen Pflichten verstoßen hat, muss mit Konsequenzen rechnen, zumal in einer Demokratie.

 

 

Der Zusammenbruch des Parteiensystems, etwas anderes ist es nicht, was sich vor unseren Augen abspielt, trifft die deutsche Politik überraschend. Nachdem die Parteiführer jahrzehntelang in fester Verbohrtheit die Realität und Zukunftsorientiertheit übergangen haben, weil sie sich fest davon überzeugt hielten, daß die westliche Welt keine Existenzkrise kennt, ist nun völlige Kopflosigkeit eingetreten. Es sind keine strategischen Konzepte vorhanden, es fehlt an Köpfen, die neue Wege in die Diskussion bringen. Hinzu kommt das irrsinnige Zerwürfnis mit den USA. Anstatt dieses anzuheizen, war es Aufgabe der Regierung Merkel, einen gesellschaftlichen Aufbruch vorzubereiten und einzuleiten. Spätestens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war es an der Zeit, die Weltgeschichte neu zu analysieren und die Richtung neu zu bestimmen. Was die Kritik der westlichen Welt anbelangt, so zeichnete sich schon damals die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Erneuerung ab und nicht ein Dumpfes „weiter so wie bisher“.

 

 

Die demokratische Opposition hat seit Jahren nicht mit Kritik an den Regierungsparteien gespart, immer in der Hoffnung, daß sich in Deutschland eine offene Diskussion über die deutsche Politik entwickeln wird. Das Gegenteil trat ein. Es begann eine Hexenjagd mit Verleumdungen und Unterstellungen, mit juristischen Verfolgungen und Berufsverboten, zum Hohn auf das allgemeine Recht, öffentlich seine Meinung zu sagen. Mit großem personellem und finanziellem Aufwand gelang es den neoliberalen Kräften, in vorderster Linie Bundeskanzlerin Merkel, in Deutschland eine tiefgreifende Spaltung zu inszenieren, bei der auf der einen Seite die Protagonisten des von den Parteien beherrschten Systems stehen, die sich für die Beibehaltung der westlichen Demokratie entschieden haben und auf der anderen Seite die Kräfte, die die historischen Grenzen dieses Systems und die Ursachen der Krise erkannt haben und für eine durchgehende Umgestaltung der Gesellschaft eintreten. Diese Spaltung, die man auch in anderen Ländern beobachten kann, die Krise und ihre Ursachen sind globaler Natur, hat den eigentlichen Zweck, die traditionell reaktionären Kräfte aufzustocken und auf diese Weise eine Systemänderung zu verhindern, denn das deutsche Volk wie auch alle anderen Völker haben an einer Spaltung kein Interesse.

 

 

Man muss sagen, daß die Überwindung der politischen Spaltung Deutschlands und ihre Fortsetzung in diesem neuen Widerspruch für die Ostdeutschen ein bitteres Erwachen in der neuen freiheitlich-demokratischen Ordnung war. Die nationale Wiedervereinigung sollte nach Verständnis der Ostdeutschen ein Schritt nach vorn in gesellschaftliches Neuland sein. Stattdessen drängte sich ihnen der Eindruck auf, daß die Wiedervereinigung von westdeutscher Seite aus vor allem als Möglichkeit verstanden wurde, die Ostgrenzen des westlichen Systems nach Osten zu verschieben und auf diese Weise den Einfluß des Westens auf das Weltgeschehen, besonders auf die Prozesse in Rußland und den ehemaligen Ostblockländern unter Kontrolle zu halten, zu erweitern und zu intensivieren. Unter dem Schirm einer massiven Verbesserung des Angebots an materiellen Konsumgütern wurde sukzessive eine Umpolung des historischen Sinns der Wiedervereinigung verfolgt, weg von der Befreiung der nationalen Selbstzerstörung Deutschlands, hin zur Deutung der friedlichen Revolution als Akt des Eintritts Ostdeutschlands in die westlich eingebundene Bundesrepublik mit Übernahme aller politischen, militärischen und wirtschaftlichen Verpflichtungen. Das war eine klare Verfälschung des Anliegens der Ostdeutschen. Dieser Sinneswandel wurde von Teilen der damaligen Opposition erkannt, konnte jedoch nicht verhindert werden. Die große Freude der Bürgerinnen und Bürger über den Mauerfall, über die kurzfristige Verbesserung der Versorgungslage und über den Rücktritt der Partei- und Staatsführung der DDR, aber auch die hetzerische Propaganda der westlichen Medien über die ehemalige DDR und die geheimdienstliche Unterwanderung der Opposition, ließen eine sachliche Analyse der politischen Vorgänge in Deutschland nicht zu.

 

 

Mit Befremden stellten viele Ostdeutsche in Pivatgesprächen fest, daß den Westdeutschen jeglicher Nerv fehlte, die Gesellschaft geschichtsphilosophisch zu analysieren. Was in dem Zusammenhang besonders auffiel, war die unnahbare Selbstüberschätzung und die strikte Ablehnung zur gemeinsamen Diskussion über die neue Lage nach dem Zusammenbruch des Kommunismus.

 

Eine Fortsetzung der bisherigen Regierungspolitik ist unmöglich, denn die Deutschen wie auch die anderen Völker Europas haben die politische Doppeldeutigkeit mehrheitlich durchschaut und wenden die demokratischen Mittel an, sich davon zu befreien, Massendemonstrationen und Parteienabwahl. Sie sind nicht bereit, sich dem Diktat der EU zu unterwerfen und an der kurzen Leine Deutschlands zu laufen. So bitter es ist, es muss ausgesprochen werden: Unter Führung der CDU hat sich Deutschland in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg erneut mit Schuld beladen, indem es unter dem Vorwand der Einigung Europas die europäischen Völker in das internationale Finanzsystem hineinmanövrierte und damit Europa an den Abgrund führte. Für Europa und Deutschland ist das Ende deutscher Parteienherrschaft von grundsätzlicher politischer Bedeutung, denn das Parteiensystem ist ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der politisch-ideologischen Führungsrolle Deutschlands in Europa.

 

 

Die Krise in Deutschland eröffnet der Freiheit Europas eine neue Chance. Das Kräftemessen in der EU wird sich weiter zugunsten der EU-kritischen Staaten verlagern. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist mit dem Zusammenbruch der europäischen Nachkriegsordnung bereits das zweite große Hindernis gegen die europäische Freiheit gefallen.

 

Ganz in diesem Sinne vollziehen sich die Veränderungen in weltgeschichtlicher Hinsicht, die zunehmende Vernunft der Großmächte China, Rußland und der USA bei der Steuerung globaler Prozesse. Deutschland verliert dabei seine vorgeschobene Rolle des Westens, weil es unfähig ist, die weltpolitischen Veränderungen in eine neue Außenpolitik umzusetzen. Es ist doch geradezu hanebüchen, in einer Hoch-Zeit des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker für Deutschland eine Sonderrolle zu fordern: die Entsagung deutscher Interessen, vorgetäuscht, um die eigene Vasallenrolle zu rechtfertigen.

 

 

Die Technische Revolution erzwingt den gesellschaftlichen Umbruch. Das ist die gesellschaftsstrategische Erklärung der gegenwärtigen Vorgänge. Diesen Inhalt können jedoch die gegenwärtigen politischen Eliten dem Volk nicht vermitteln, weil sie ihn ablehnen. Stattdessen spielen sie die verschiedensten Varianten einer möglichen Regierungskoalition durch. Für die herrschenden Eliten heißt Krisenlösung eben nicht Rücknahme der bisherigen politischen Schwerpunkte, sondern Umbesetzung der politischen Ämter, Besetzung der Ämter durch Politiker mit mehr politischem Geschick. Damit werden neue Irrwege gepflastert. Nicht die Opposition verlängert die Krise. Nicht die Opposition ist schuld an der Verschleppung der Krisenlösung. Die demokratische Opposition will einen möglichst baldigen Abschluß, weil die Verschleppung der Krise vom Volk große Belastungen abverlangt.

 

Die deutsche Politik muss umsteuern, denn sie ist völlig verfahren. Es geht um neue Prämissen der Politik, auf deren Grundlage ein Regierungsprogramm erarbeitet und die Wende praktisch eingeleitet wird. Glasnost und Perestroika sind allgemeingültige Normen von scharfen gesellschaftlichen Umbrüchen. Nach der Offenbarung der geistigen Leere bei der CDU, der staatstragenden Partei, herrscht Chaos. Nicht nur die Vorsitzende, sondern die gesamte Partei hat versagt. Wie tief der Wille nach Erneuerung bei den Mitgliedern wirklich sitzt, wird sich bald zeigen.

 

 

Gesucht werden Partei- und Staatsfunktionäre, die dem Volk noch gekonnter die wahre Situation verschleiern und die Auflösung Deutschlands voranbringen. Hier liegt der große Unterschied zu den deutschen Vätern des Grundgesetzes. Sie sahen im Grundgesetz eine vorübergehende Regelung bei der Schaffung eines demokratischen deutschen Staates. Die Führer der heutigen staatstragenden Parteien haben dagegen völlig sinnverdreht aus dem Grundgesetz einen Auftrag zur Abschaffung des deutschen Staates gemacht. Das Abdriften vom Grundgesetz ist für sie ein Vorgang außerhalb jeder Kritik.

 

 

Johannes Hertrampf – 01.03.2020