Eine Welt - zwei Weltbilder

 

 

Johannes Hertrampf – 02.04.2014

 

 

War die Krim ein Machtpoker, bei dem der Westen den Kürzeren zog? Putin hätte durch die Annexion der Krim den Konflikt mit der Ukraine verschärft. Selbst Oppositionelle, wie die „Alternative für Deutschland“ gehen auf diesen Leim, obwohl diese Aussage zwei Fehler enthält. Erstens war es keine Annexion und zweitens hat das Vorgehen Russlands die Bildung eines gefährlichen Krisenherdes verhindert. Umgekehrt also!

 

Die Propagandamaschine des Westens hält unvermindert an ihrer Option fest. Sie ignoriert einfach,  dass ukrainische Terroristen an der Strippe der USA und der EU Janukowitsch gestürzt haben. Dass diese Fremdsteuerung das Selbstbestimmungsrecht der Bürger der Ukraine nicht respektierte, wird mit keiner Silbe erwähnt. Die deutschen Medien, die sich vor allem mit der Rolle Deutschlands bei diesem Bruch des internationalen Rechts auf staatliche Souveränität befassen müssten, blenden völlig die Wühlarbeit deutscher Parteistiftungen und speziell den Eifer des deutschen Außenministers bei diesem Staatsstreich aus. Sie werden auch in diesem Falle, wie schon bei früheren Völkerrechtsverletzungen ihrer demokratischen Verantwortung nicht gerecht.

 

 

Ihr ganzes Denken dreht um solche Unterstellungen, wie: „Ist Russland wieder auf dem Wege zu einer Weltmacht? Träumt der russische Präsident von einer Neuauflage der Sowjetunion?“ Mit Blick auf die Vergangenheit werden hier Ängste geschürt und Vergleiche zur deutschen Expansionspolitik in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts angestellt. Es wird gar nicht in Erwägung gezogen, dass Russland aus der Geschichte grundsätzliche Schlussfolgerungen gezogen haben könnte, sondern es wird als ganz selbstverständlich erachtet, dass es sich von früherem Großmachtstreben leiten lässt und das Entstehen eines gefährlichen Terrorstaates an seiner Grenze zu dulden hat. Wäre es so, dann hätte Russland tatsächlich nichts gelernt.

 

Es ist noch gut in Erinnerung, dass Merkel in der Anfangsphase der Ereignisse in der Ukraine mit gespielter Verwunderung feststellte, dass Putin die Welt nicht versteht. Sie wollte damit klar machen, dass der russische Staatspräsident noch in der Vergangenheit lebt, während sie, als Wortführerin der EU, auf der Höhe der Zeit steht. Hier ist anzumerken: Das Rätsel des anderen liegt in der eigenen Unfähigkeit, ihn zu verstehen, was wiederum voraussetzt, die eigene Sicht zu überprüfen. Niemand darf daher sagen, er habe den ein für alle Mal richtigen Standpunkt. Merkel sollte sich fragen, inwiefern sie mit ihrem Weltbild einer Selbsttäuschung unterliegt, warum sie die entscheidenden Veränderungen nicht erfasst. Diese dringende Empfehlung beschränkt sich nicht auf ihre Haltung im Konflikt um die Ukraine, sondern gilt auch für solche  Politikbereiche wie Energiepolitik, EU-Politik, Klimapolitik. In all diesen Bereichen hat sie nachweislich unhaltbare Ansichten vertreten (siehe dazu unter anderem www. buergerbewegung-pro-sachsen.de) und schwerwiegende gesellschaftliche Schäden angerichtet. Sie wird sich zum gegebenen Zeitpunkt nicht herausreden können, dass sie es nicht besser wissen konnte. Ihre Beurteilung der russischen Haltung zu den Vorgängen in der Ukraine ist absurd. Wer nicht Herrschaftsallüren an den Tag legt, der ist geradezu von einem anderen Stern.

 

Der Gegner wird eben so zurechtgestutzt, dass er in das eigene Interpretationsmuster passt. Natürlich kann dieser simple Trick die Wahrheit nicht verhindern. 

 

Der Bruch mit der Vergangenheit ist nicht einfach ein Unterschlagen der Vergangenheit, sondern ihre immer währende kritische Reflexion als eine Bedingung der Weichenstellung in der Gegenwart. Insofern ist der Bruch das Normale, sichert er die Entwicklung. Wichtig ist, den Stellenwert der Bruchpunkte zu bestimmen, von der Erscheinung in die Tiefe zu gehen. Der grundlegende Mangel im zwanzigsten Jahrhundert war die allseitige Unfähigkeit, im Gegensatz zum Herrschaftsprinzip über die Selbstbestimmung der Völker eine Erneuerung der Gesellschaft einzuleiten. Zu stark waren die alten Herrschaftsstrukturen und zu illusionär die vermeintlichen Auswege, so dass sich gewaltige Zerstörungswerke inszenierten, die bis in unsere Tage wirken. Man kann also die Gegenwart unmöglich loslösen von den Vorgängen im vergangenen Jahrhundert. Dann würde man ein wichtiges Mittel der politischen Bewertung und  Kursbestimmung vergeben.

 

Dabei muss vor allem die Analyse der eigenen Vergangenheit im Vordergrund stehen, der eigene Anteil am europäischen Irrweg, weil sonst die Notwendigkeit nicht als zwingend begriffen wird. Die Notwendigkeit des anderen ist nicht die eigne, aber aus der Vielzahl aller, ergibt sich die gemeinsame als neue solidarische Initiative, als gesellschaftlicher Synergieeffekt.

 

 

Die Katastrophen im zwanzigsten Jahrhundert waren die Folge fehlender Selbstbestimmung, unabhängig davon ob es sich um die bürgerlich-kapitalistische oder um die sozialistische Ordnung handelte. Nicht dieser Unterschied, sondern die Gemeinsamkeit, Herrschaftsordnung zu sein, war ausschlaggebend. Von hier aus muss sich auch in Russland die kritische Distanz zur sowjetischen Vergangenheit ableiten. Unter dieser Voraussetzung rückt die Betonung des Selbstbestimmungsrechts in der russischen Politik in ein neues Licht, ist sie nicht ein willkürlich genutztes Werkzeug, sondern ein fundamentaler Baustein der eigenen Politik. Konsequent zu Ende gedacht, kann und darf es keine Ausnahmen geben. Künftige Politik wird dadurch nicht einfacher, sondern komplizierter. Aber sie befindet sich in jedem Fall in Übereinstimmung mit den Interessen der Bürger. Und darauf kommt es an.

 

 

Bislang hat die russische Führung keinen Anlass gegeben, daran zu zweifeln, dass sie einen neuen Politikstil verfolgt. Sie trat nie als Aggressor auf. Ihre heutigen Kritiker können kein Beispiel für russische Annexionspolitik nennen. Stattdessen orakeln sie über Putins frühere KGB-Tätigkeit. 

 

 

Die ehemalige Außenministerin von Obama, H. Clinton, verglich ihn gar mit Hitler. Auch Schäuble hat sich auf dieses Niveau begeben, indem er die Eingliederung der Krim in die russische Föderation auf die Stufe der Annexion des Sudetenlandes durch Hitler-Deutschland stellte. Obama spottete über Russland als Regionalmacht. - Statt auf Fakten zu verweisen, bedient sich der Westen eines antirussischen Stimmungsbildes, um seine mehr oder weniger offene Feindschaft gegenüber Russland berechtigt erscheinen zu lassen. Seine vorgetragenen Argumente sind auch diesmal nicht stichhaltig. Wir deuten das so, dass die russische Führung den westlichen Umtrieben rechtzeitig auf die Spur kam und sie zu jedem Zeitpunkt den Ton angab. Russland hat sich in dem vom Westen angezettelten Konflikt nicht provozieren lassen, sondern es hat korrekt und entschlossen gehandelt.

 

 

 

Der Westen hat aus dem zwanzigsten Jahrhundert keine grundlegenden Schlussfolgerungen gezogen. Er  geht davon aus, dass sich sein System ständig verändern kann, dass er eine permanent offene Gesellschaft verkörpert. Und tatsächlich, trotz schwerer Erschütterungen ist sein System bisher nicht zusammengebrochen. Der Grund hierfür ist: es gibt keine tragfähige Alternative. Noch fehlt der geistige Vorlauf, der für diese weltgeschichtliche Zäsur erforderlich ist. Ja, noch fehlt es an der allgemeinen Erkenntnis, dass ein großer Umbruch überhaupt bevorsteht. Der Westen gibt sich alle erdenkliche Mühe, ein solches Zukunftsbewusstsein zu verhindern. Daher tritt er noch selbstbewusst auf und leugnet generell, dass es zu ihm eine Alternative gibt. Gleichzeitig spürt er aber Gegenkräfte, die ihn hellhörig und vorsichtig machen, Russland und China, bei denen er an seine Grenzen stößt. Er spürt, dass sich hier etwas entwickelt, für das ihm die Gegenmittel fehlen. Deshalb seine heuchlerischen und giftigen Reaktionen. Würde er nach den Gründen der gesellschaftlichen Entwicklung fragen, ginge es ihm wie Belsazar. Aber er fragt nicht und hofft, sie damit verdrängen zu können. Hinter seiner geschichtlichen Oberflächlichkeit verbirgt sich Existenzangst, gepaart mit empirischer Arroganz. Für den Westen gilt der für die ganze Zivilisation zutreffende Satz: Die Menschen handeln auf dem Gebiet der Gesellschaft nicht nach freier, sondern nach erzwungener Vernunft. Ohne Not keine Einsicht. Aber selbst diese ist nicht gewiss. 

 

 

Der Sozialismus ist Geschichte. Er war als Alternative gedacht und scheiterte, weil er keine Alternative war. Seine geistigen Väter hatten die Tragweite der Aufgabe unterschätzt. Sie waren der Überzeugung, dass die Lösung innerhalb der Zivilisation liegt. In ihrem Denken war zwar der Ansatz zur Rationalität, sie versuchten ihre Kritik theoretisch zu untermauern, aber insgesamt gelang es ihnen nicht, die menschliche Geschichte wissenschaftlich zu erklären. Daher musste ein Handeln, das sich davon leiten ließ, scheitern.

 

Helmut Schmidt hängt an der alten Welt, aber er denkt folgerichtig. Und diese Fähigkeit schafft Perspektive. Hier liegt der Grund für seine Sympathie, die er bei den Deutschen genießt. Mit ihm lassen sich Brücken bauen. Es reicht nicht aus, miteinander zu sprechen, es muss um sachliche Inhalte gehen, d.h., es muss um Sachen gehen, denn alle sozialen Beziehungen haben einen sachlichen Untergrund. 

 

 

Ein neuer Kalter Krieg als ideologische Verbalschlacht wäre Ausdruck des Unvermögens, einen konstruktiven Weg zu gehen. Wer Sanktionen fordert, der geht genau in Richtung des Kalten Krieges. H. Schmidt hat Recht, wenn er Sanktionen als „dummes Zeug“ bezeichnet. Halten wir fest: bisher haben die Politiker des Westens keinen Beitrag geleistet, das Problem um die Ukraine zu entspannen. Es hat sich erneut gezeigt, wie schon in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, dass der Wirtschaft eine hohe konfliktlösende Funktion zukommt - Wandel durch Handel, Annäherung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Wirtschaft stellt sich gegen die Ideologie, gegen die führenden Politiker des Westens. Russland und China haben längst erkannt, dass sie in der Wirtschaft ihren verlässlichsten Partner im Westen haben.

 

 

Die Idee der Selbstbestimmung ist nicht neu. Neu ist, dass wir erkennen, dass die Selbstbestimmung Voraussetzung für vernünftige Politik ist. Die Wirtschaft ist ein Mittel, aber sie führt nicht automatisch zur Erneuerung der Gesellschaft. Die Selbstbestimmung der Menschen steckt den Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung ab. Wem die Bürger sich anschließen und von wem sie sich trennen, bestimmen sie und nicht eine Organisation über ihnen. Im herkömmlichen Sinne ist damit ein Land nicht mehr regierbar. Daher der Kassandra-Ruf der Herrschenden. Sie lehnen die Selbstbestimmung als zentrales Ordnungsprinzip ab, weil sie dann überflüssig sind.

 

Die russische Führung hat sich für die Selbstbestimmung entschieden. Nun muss sich zeigen, wie konsequent sie daran festhält. Wenn dieses Prinzip das oberste ist, dann verliert der Staat seinen Charakter als Regierung und wird zum Verwalter des Volkswillens. Diese Lektion musste sich Gauck in der Schweiz anhören.

 

 

Der Westen hatte die Absicht, die Ukraine in seinen Einflussbereich zu ziehen und damit Russland zu schwächen. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Der Konflikt um die Ukraine wirft Fragen auf, wie die internationalen Beziehungen neu geregelt werden müssen, damit sie dem Menschheits-fortschritt besser Rechnung tragen. Noch sind es zwei Weltbilder, die aufeinander prallen. Gebraucht wird aber eine gemeinsame Sicht bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen.

 

                                                                              

 

Johannes Hertrampf – 02.04.2014