Die Schwäche der demokratischen Opposition

 

 

Die Wahlen sind vorbei, doch die Probleme bleiben und nicht nur das, sie werden sich verschärfen, da ein politischer Kurswechsel nicht in Sicht ist. Eine kritische Bilanz der Tätigket von Bundestag und Bundesregierung der letzten vier Jahre wird es nicht geben, also keinen Neuanfang. Es war die interne Übereinkunft aller im Bundestag vertretenen Parteien, die Bildung der neuen Regierung den Händen der CDU zu überlassen. Daraus resultierte auch die Empfehlung der Wahlverweigerung, denn es war klar, dass die Wahlen nichts verändern werden. Die Beteiligung von kleinen Parteien konnte nur den Zweck erfüllen, einen demokratischen Schein zu verbreiten und das wirkliche demokratische Selbstbewusstsein zu schwächen. Die Forderung nach einem Systemwechsel bleibt auch nach dieser Wahl im Raum und wird immer zwingender.

 

 

Die stärkste Bewegung unter den Wahlberechtigten, über die so gut wie gar nicht gesprochen wird, hat es von den Wählern zu den Nichtwählern gegeben, von 77.7 % im Jahre 2005 auf 70,8 diesmal. Das ist ein Anstieg um 6,9 %. Zählt man zu den 29,2 % Nichtwählern die 1,5 % ungültigen Stimmen hinzu, so sind das 18 774 900 Wahlberechtigte, die diesem Wahlsystem die Rote Karte gezeigt haben. Diese Nonkonformisten sind der Kern der Opposition gegen den Regierungskurs. Sie haben nicht taktiert, sondern klar und unmißveständlich gehandelt. Sie sind die soziale Basis der demokratischen Alternative. Und jeder, der sich zu demokratischen Opposition zählt, muss sich zu ihnen bekennen, muss sich als ihr Vertreter verstehen, ihre Stimme und ihr Wille sein.

 

 

Die soziale Basis ist also da, doch es fehlt die Führung. Die demokratische Opposition befindet sich in einer schweren Krise. Es ist ihr in all den Jahren nicht gelungen, sich konzeptionell festzulegen, geschweige denn, sich organisatorisch zu formieren. Bei aller Aktivität im einzelnen sind ihre Bemühungen vergeblich gewesen. Die Resonanz bei den Bürgerinnen und Bürgern ist gering. Die Herrschenden haben Schritt für Schritt ihre Ziele erreicht. Resignation und Mißstimmung unter den Aktivisten breitet sich aus. Es scheint so zu sein, als wäre kein Kraut gewachsen, um die verderbliche Politik der herrschenden Kreise zu durchkreuzen. Besonders das zurückliegende Jahr machte die Ohnmacht der demokratischen Opposition deutlich.

 

  1. In der kritischen Literatur wurde seit langem die Finanz- und Wirtschaftskrise angekündigt. Und dennoch kam ihr Ausbruch für die meisten überraschend, im Gegensatz zur Bundesregierung, die darauf offensichtlich vorbereitet war. Während die Öffentlichkeit sich noch im Schockzustand über die verheerenden Meldungen der Bankenzusammenbrüche befand, machte sie den Weg frei, um unter dem Vorwand, einen allgemeinen Zusammenbruch des Weltfinanzsystems abzuwenden, kurzfristig die BRD in eine bis dahin unbekannte Neuverschuldung zu stürzen. Im Eilverfahren wurde am 17.10.2008 vom Bundestag das „Finanzmarktstabilisierungsgesetz“ beschlossen, mit dem den Banken 470 Mill. Euro zu Verfügung gestellt wurden. Damit waren die Dämme gebrochen. Die Bürger waren fassungslos und die demokratische Opposition schwieg. Das Argument des drohenden Zusammenbruchs des internationalen Finanzmarktes weckte Erinnerungen an die Weltwirtschaftskrise 1929 und erzeugte den Eindruck der Unvermeidlichkeit des von der Regierung eingeschlagenen Weges. Jetzt machte sich das Fehlen eines alternativen Konzeptes schmerzlich bemerkbar. Die demokratische Opposition hatte die heraufziehende Gefahr zwar oft genug analysiert, aber mehr eben nicht. Sie war auf diesen Tag nicht vorbereitet. Die Regierung konnnte also ohne den geringsten Widerstand ihren Coup im Bundestag durchziehen.

 

 

 

2. Seit vielen Jahren herrscht unter großen Teilen der Bevölkerung Unmut über die von der Bundesregierung betriebene EU-Politik. Die finanziellen Aufwände und und die tatsächlichen Resultate stehen in einem eklatanten Widerspruch. Die EU als europäischer Staatenbund hat nicht den wirtschaftlichen Aufschwung des Kontinents gebracht, den die Eurokraten den Völkern versprochen hatten. Dagegen öffneten Militarisierung und bürokratische Regulierung den Bürgern mehr und mehr die Augen über die unheilvolle Zukunft dieses Staatenverbundes. Infolgedessen entwickelte sich eine breite Gegenstimmung gegen den EU-Vertrag, zugleich aber auch ein Gefühl der Ohnmacht, da es der Bundesregierung gelang, eine Volksabstimmung der Deutschen über den  über den EU-Vertrag zu verhindern. Diese Haltung von Bundestag und Bundesregierung ist ein ungeheuerlicher Affront gegenüber dem Souverän des Landes.

 

     Als der EU-Vertrag durch die Franzosen und Holländer zu Fall kam, wurde das von den Bürgern allgemein mit Erleichterung aufgenommen. Einen unmittelbaren Anteil daran hatten sie aber nicht. Die Wiederbelebung des EU-Vertrages in Gestalt des Lissabon-Vertrages löste in der BRD zwar parlamentarische und juristische Widerstände aus, aber es kam wiederum nicht zu großen Massenprotesten in der Öffentlichkeit. Bleibt jedoch der Protest im parlamentarischen Rahmen, dann wird das Volk um seine Hoffnungen betrogen. Mit dem Urteil des BVG wurde die Opposition getäuscht, denn es erweckte den Eindruck, als seien ihre Vorbehalte berücksichtigt worden. Eine „Sternstunde der Demokratie“, wie P. Gauweiler glaubte, war das Urteil ganz und gar nicht, sondern ein Schachzug, durch den die Opposition entscheidend verunsichert wurde. Dass das dem BVG gelang, ist letztlich auf die ungenügende Fundierung der EU-Kritik seitens der demokratischen Opposition zurückzuführen. Auch die Vertröstungen auf die Abstimmung der Iren, auf die mögliche Verweigerung der Unterschriften durch den tschechischen und den polnischen Staatspräsidentenmuss man als schädliche ideologische Initiativen aus den Reihen der demokratischen Opposition bezeichnen. Wer den Blick auf die anderen Länder richtet, anstatt im eigenen Land den Widerstand zu mobilisieren, der arbeitet der Bundesregierung in die Hände.

 

 

3. Die zunehmende Verstrickung der BRD in die von den USA geführten Kriege und Militäraktionen ist einer der dunkelsten Züge gegenwärtiger deutscher Politik. Die grosse Hoffnung, dass sich unter dem US-Präsidenten Obama daran etwas ändern würde, hat sich nicht erfüllt. Die Mehrheit der Deutschen lehnt diese Söldnerdienste kategorisch ab und erwartet von den im Bundestag vertretenen Parteien eine entschiedenen Widerstand gegen die unverschämten Forderungen der USA. Immer unhaltbarer wird die heuchlerische Behauptung von dem friedenssichernden und humanitären Anliegen dieser Einsätze, wenn dabei sogar deutsche Kriegsverbrechen begangen werden. Mit Menschenrechten und Geld lässt sich nicht begründen, dass deutsche Soldaten für korrupte Statthalter ihr Leben einsetzen, deren blosse Existenz, wie im Falle Karsais in Afghanistan, die friedliche Selbstbestimmung der Völker verhindern. Die demokratische Opposition muss sich nicht nur entschieden gegen die militärische Nötigung der BRD wenden, sondenr sie muss positiv die aktive Neutralität fordern. Doch so eindeutig ist diese Haltung bei den kleinen Parteien nicht. Militärische Stärke wird, wenn sie der eigenen Vorteilssicherung dient, häufig als zulässig angesehen, ebenso der militärische Einsatz gegen den Terrorismus. Die Auflösung der Nato bzw. der Austritt aus der Nato, dieAuflösung der amerikanischen Stützpunkte in der BRD und der Abzug der amerikanischen Soldaten mitsamt den Atomraketen sind keineswegs allgemein anerkannte Forderungen. Die oft gehörte Behauptung „Im Grunde genommen wollen wir alle das gleiche, wir brauchen uns also bloss zusammenzuschliessen“, erweist sich auch hier als eine völlige Fehlbeurteilung der realen Lage. Mangelnde Initiative hat eben etwas mit mangelnder geistiger Klarheit zu tun.

 

 

 

4. Wahlen sind Höhepunkte in der bürgerlichen Demokratie. Bei aller Ausrichtung des Wahlsystems auf die Erhaltung der gegebenen politischen Zustände geben sie der demokratischen Opposition die Möglichkeit, ihre Forderungen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und als Interessenvertreter der Bürgerinnen und Bürger aufzutreten. Theoretisch besteht diese Möglichkeit. Doch wie wurde sie praktisch genutzt? Der Ruf nach einem alternativen Zusammenschluss wurde von verschiedenen oppositionellen Gruppen lange vor der Bundestagswahl erhoben, aber am Ende gelang es nicht, eine gemeinsame Wahlplattform aufzubauen, so dass wieder keine einheitliche Kraft zustande kam. Das war für viele Aktivisten und vor allem auch für viele Bürger, die seit langem  einen Ausweg surchen, eine schwere Enttäuschung. Diejenigen, die sich ihnen als Alternative vorstellen, sind zahlenmäßig zu schwach und entsprechen von ihren politischen Forderungen her nicht seinen allgemeinen Erwartungen. Parteien, die lediglich einzelne Seiten in den Vordergrund stellen und Korrekturen am System anbieten, können die Skepsis der Bürger nicht überwinden. So neigen sie mehrheitlich dazu, den bekannten Parteien ihre Stimme geben, in der Hoffnung, dass es nicht ganz so schlimm kommt, wie allgemein befürchtet wird. Nicht nur, dass die demokratische Opposition zu keiner gemeinsamen Organisation gefunden hatte, selbst in ihren Empfehlungen zum Wahlverhalten war sie uneins. Sie war noch nicht mal in der Lage, eine gemeinsame Empfehlung zu geben und liess über 18 Millionen Bürgerinnen und Bürgern ohne Unterstützung. Nur zwei Gruppierungen stellten sich offen auf die Seite dieser Bürger.

 

Ungeachtet aller Erfahrungen, unterliegt die Mehrzahl der kleinen Parteien noch immer dem Irrtum, dass eines Tages jede für sich die große Wende erleben wird. Und so werden immer aufs Neue Enthusiasten in die Wahlkämpfe geschickt, in denen ihre Ideale zu Asche verbrennen. Der Vorwurf darf nicht den Bürgerinnen und Bürgern gemacht werden, die die politischen Angebote der kleinen Parteien nicht annehmen, sondern denen, die mit viel Hochmut erwarten, die Menschen müssten ihnen mit fliegenden Fahnen folgen. Es gilt für die kleinen Parteien nach wie vor der Satz: Gewogen und zu leicht befunden. Noch fehlt die inspierende Idee. Wenn das Angebot vom Bürger verschmäht wird, dann liegt der Grund nicht bei ihm. Seine richtige Entscheidung hängt nicht von der Größe seiner Unzufriedenheit ab. Diese kann sogar die vernünftige Entscheidung behindern.

 

Alles, was an Opposition entsteht, aber nicht die Kraft hat, das Programm einer grundlegenden Erneuerung zu entwickeln, wird zurückfallen und sich nach dem Beispiel der Grünen in der alten Gesellschaft wieder einrichten. Es geht nicht darum, Wünsche zum politischen Programm zu erheben. Vielmehr müssen die Forderungen der geschichtlichen Tendenz entsprechen, sonst ist die Niederlage vorprogrammiert. Politik in bisheriger spontaner Weise geht nicht mehr. Das Resultat kann nicht mehr das Ergebnis blinder Kräfte sein. Politische Aktion muss wissenschaftlich begründet werden. Ihr müssen Erkenntnisse zugrunde liegen. In jedem anderen Bereich verhält sich der Mensch so, nur im eigenen gelingt es den Gegnern der Erneuerung die Vernunft zu unterdrücken. Die Zeit der Willkür ist aber zu Ende. Eine neue Politik ist unaufschiebbar.

 

Die demokratische Opposition heute ist noch keine demokratische Alternative. Sie wird wie die systemtragenden Parteien von der Krise geschüttelt. Im Unterschied zu diesen, die absolut reformunfähig sind, hat sie eine Zukunft, wenn sie ihre bisherigen Halbheiten überwindet. Ihre Unzulänglichkeiten resultieren nicht aus Privilegien, sondern aus theoretischen Inkonsequenzen. Wie lange das Land weiter zurückfällt, anstatt sich für die Zukunft zu öffnen, hängt massgeblich von der Fähigkeit der Oppsosition ab, ihre geistigen Grundlagen neu zu bestimmen. Die Analyse der Zustände ist das eine. Aber es fehlt das gemeinsame Programm und damit das, was den Bürger eigentlich interessiert: „Wie soll es weiter gehen?“ Die Zahl derjenigen, die darauf eine Antwort wollen, ist größer als die Zahl der Wahlverweigerer. Und diese Antwort muss auch nicht erst zur nächsten Wahl gegeben werden. Der Souverän hat das Recht, den Zeitpunkt selbst festzulegen. Er ist in dieser Hinsicht völlig frei. Wenn die Herrschenden den materiellen und psychischen Druck erhöhen, wenn die demokratische Alternative die Richtung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels für jeden verständlich formulieren kann, dann ist der Zeitpunkt des Handelns gekommen.

 

 

Johannes Hertrampf Oktober 2009 
Vorsitzender der Freiheitlichen Partei Deutschlands