Die erzwungene Schuld

 

Johannes Hertrampf  -  02.05.2014 

 

 

Man darf die Ausgangssituation nicht aus den Augen verlieren.

 

Deutschland hat von allen EU-Staaten die größte Beihilfe zum Ukraine-Konflikt geleistet. Vergessen wir nicht, dass es Außenminister Steinmeier war, der den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch in die Ecke gedrängt und damit die Terroristen in den Sattel gehoben hat. Und das, nachdem dieser das Assoziierungsabkommen mit der EU abgelehnt hatte. Nun ließ man kein gutes Haar mehr an ihm und sein politischer Sturz wurde eingefädelt. Steinmeier war also der rechte Mann zu rechten Zeit am rechten Ort, der im Auftrag der USA und der EU einen europäischen Brandherd legte. Deutschland hat damit bis in die jüngste Zeit eine Linie fortgesetzt, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann: Erfüllung von Aufträgen ausländischer Mächte. Zu der Mitschuld an den beiden Weltkriegen kommt die Schuld, die es danach auf sich geladen hat.                                         

 

Betrachten wir die Nachkriegsperiode, die ja noch immer anhält, so hat sich in der politischen Zielsetzung ein qualitativer Wandel vollzogen. War bis zum Zusammenbruch des Sozialismus der Ost-West-Konflikt der bestimmende Widerspruch, so ist es nach diesem der Widerspruch zwischen der Erhaltung der westlichen Zivilisation und den Kräften, die gegen diese Sturm laufen. Im Ost-West-Konflikt dominierten Konkurrenz und Rivalität der beiden Großmächte die Auseinandersetzungen. Jedes System wollte seine geschichtliche Überlegenheit unter Beweis stellen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei dem Gegensatz um einen Ausdruck der Krise der ganzen Zivilisation handelte.

 

Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus entfiel dieser Antrieb zum Kalten Krieg, aber die Welt wurde nicht friedlicher. Es setzte ein neues Stadium der Zivilisationskrise ein. Der Westen brauchte ein neues Konfliktpotential, um seine militärische Machtpolitik zu rechtfertigen. Alles, was seinen Werten widersprach, wurde mit dem Stempel des Bösen versehen, das es auszumerzen galt. Damit sah sich der Westen neuen Herausforderungen gegenüber gestellt, die ihn nicht weniger bedrängten, als seinerzeit das sozialistische Weltsystem. Es wurde der asymmetrische Krieg erfunden, der sich seitdem weltweit als Kampf gegen den Terrorismus abspielt. Die Ereignisse vom 11. September 2001 waren das Signal für einen neuen Weltkrieg, als ein Dauerzustand der Menschheit am Ende der Zivilisation.

 

 

Für die ganze Epoche der Zivilisation war der Krieg ein effizientes Mittel, den eigenen Völkern ein Handlungskonzept aufzuzwingen, das sie in Gefolgschaft und Abgabenzwang hielt. Der Krieg hatte also nicht nur die Stoßrichtung gegen einen äußeren Gegner, sondern - vor allem mit seiner nationalen Rechtfertigung - richtete er sich stets gegen das eigene Volk. Sieg und Niederlage banden die Beherrschten an ihre Beherrscher. Dass diese personell ausgetauscht wurden, ändert nichts am Wesen der Sache. Insofern war und ist der Krieg für die Zivilisation unverzichtbar. Die jeweiligen Kriegsgründe wechselten, aber die Wirkstrukturen änderten sich nicht. Dabei wurden alle ethischen Werte herangezogen, um das wahre Wesen des Krieges als Herrschaftsmittel zu verbergen. Kriege waren daher „heilig“, „gerecht“ und „revolutionär“, aber immer Machtmittel nach außen und innen.

 

 

Die Konfliktstrukturen verloren nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ihre bis dahin klaren Umrisse. Die Formen der Kriegsführung wandelten sich durch den technischen Fortschritt. Kampfautomaten und ferngesteuerte Drohnen sind ein bezeichnendes Beispiel dafür. Gleichzeitig wird der Krieg zu einer normalen, permanenten Begleiterscheinung des Lebens erklärt, die dem einzelnen in den westlichen Ländern Freiheit und Wohlstand sichert. Das ist das unsinnige Grundmuster der westlichen Argumentation, das selbst von großen Teilen der Opposition akzeptiert wird. Deshalb floriert das Rüstungsgeschäft trotz finanzieller Engpässe. Der ständige waffentechnische Vorsprung scheint so dem Westen eine unbegrenzte Existenzdauer zu sichern. 

 

 Die Kräfte, die sich gegen den Westen erheben, sind sich ihrer neuen Rolle nicht bewusst. Sie stehen  in scharfem Gegensatz zu den westlichen Hauptmächten, kopieren aber in vielen Bereichen die westlichen Wege. Sie verstehen sich als zugehörig zur Zivilisation, deren hauptsächliche Vertreter sie bekämpfen. Sie greifen selbst zum Mittel des Krieges, obwohl gerade seine Verhinderung ein wesentliches Element einer wirklichen Alternative ist. Auf den Punkt gebracht: sie haben kein alternatives Konzept. Ihr Zukunftsbild von der Gesellschaft ist imaginär. Ihnen ist nicht klar, dass sie nicht einfach Gegenspieler des Westens sind, sondern dass ihnen eine zivilisationskritische Aufgabe zukommt. Dieses Nicht-Bewusstsein behindert ihre Aktionsfähigkeit. Es besteht die Gefahr, dass sie infolge dieser Unkenntnis sich in Streitigkeiten und Aktionen einlassen, die ihrem objektiven Charakter widersprechen. Damit erschweren sie ihre Profilierung und verfehlen ihre Überlegenheit. Um den richtigen Weg einzuschlagen, müssen sie selbst den Ton angeben, ihre Zielpunkte formulieren. Die historische Initiative muss von ihnen ausgehen. Aber dazu müssen sie ein alternatives, strukturiertes Handlungsbewusstsein besitzen.  

 

Unabhängig von diesem Stand der geschichtlichen Einsicht muss man den objektiven Inhalt der Auseinandersetzungen betonen, ohne dabei die Meinung zu tolerieren, die Erneuerung könnte sich gleichsam hinter dem Rücken der Menschen vollziehen. Sie wird immer nur soweit reichen, so weit sie von den Menschen abgesteckt wird. Sie steht auf der Tagesordnung, auch wenn das nicht begriffen wird, wie im Zwanzigsten Jahrhundert. Real hat dieses Jahrhundert kein Beispiel für Erneuerung hervorgebracht. Dass es deshalb ein nutzloses Jahrhundert gewesen wäre, kann nicht gesagt werden, unter dem Vorbehalt jedoch, dass die Versäumnisse erkannt, analysiert und korrigiert werden. Umso dringender ist es, sich gerade mit diesem Jahrhundert zu beschäftigen, nicht bloß bekannte Aussagen zu wiederholen, sondern dieses Jahrhundert in den weltgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen, um seinen besonderen Stellenwert zu erkennen. Da wird man sehr schnell die Kräfte ausmachen, die an weltgeschichtlicher Bewegung gar kein Interesse haben. Das ist aber heute die übliche Interessenlage des Westens und speziell der BRD nach dem Zusammen-bruch des Sozialismus. Dem ahistorischen Charakter des Herrschaftsdenkens liegt die Furcht vor dem geschichtlichen Ablauf zugrunde.

 

Der Inhalt der Konflikte hat sich tiefgreifend gewandelt und er wird, entgegen aller Widerstände, als Handlungsabsicht den Menschen bewusst werden. Es bleibt ihnen keine andere Wahl, soll das menschliche Leben erhalten bleiben. So wird die große Aufgabe, die Erneuerung, im Verlaufe der Zeit in den Vordergrund treten - Profilierung durch Aktionismus.

 

Dass die westliche Zivilisation zu einem weltweiten Kampf gegen das „Böse“ angetreten ist, hat zur Folge, dass sie sich einen weltweiten Gegner geschaffen hat, dem sie unterliegen muss. Diese Dimension des Gegners ist zahlenmäßig und geistig übermächtig. Daher versucht der Westen, seine Kräfte durch internationale Verflechtungen, wie internationale Institutionen des Währungssystems, aufzustocken. Um dem Kräfteabfluss vorzubeugen, muss die antiwestliche Welt-Opposition ihre eigene internationale Kooperation entwickeln. Damit bleibt dem Westen nur ein sukzessives Eingeständnis seiner Niederlage übrig. Das Schiff zerbricht an seiner eigenen Bugwelle. So dämmert mehr und mehr die Erkenntnis, dass diese vom Westen heraufbeschworene weltweite Opposition sein eigentlicher Totengräber ist, nicht der seinerzeit gefürchtete Kommunismus, der nur eine Spielart der Zivilisation war. Der Konflikt um die Ukraine hat hier einen neuen Akzent gesetzt. Der Abstand zwischen der bösen Tat und der öffentlichen Verurteilung wurde geringer. Es wurde sehr schnell deutlich, dass der Westen auf tönernen Füßen steht, obwohl die gesteuerte Propaganda auf Hochtouren lief. Der Sturz der alten ukrainischen Regierung gelang, nicht zuletzt durch deren eigene Fehler, doch der Triumphzug blieb aus. Zu offensichtlich war, dass man mit dem Terror-Klüngel keinen Staat machen konnte. Das Fiasko folgte also auf dem Fuße.  

 

 

Wenn wir heute weltpolitische Ereignisse beurteilen, der Konflikt um die Ukraine gehört dazu,  müssen wir sie unter dem Gesichtspunkt des neuen geschichtlichen Inhalts betrachten. Wir müssen sie auf das Wesentliche untersuchen, weil wir sonst nicht ihren historischen Beitrag beurteilen können. Eine Kritik, die nicht davon ausgeht, erzeugt Kopflosigkeit, verliert sich in Details. Sie deckt weder die Schwächen des Westens auf, noch hilft sie den oppositionellen Kräften, die sich selbst im Lernprozess befinden. Es wäre völlig falsch, diese unter eine Schutzglocke zu stellen, weil sie gegen den Westen Stellung beziehen.    

 

 

Putin begründet die russische Haltung im Ukrainekonflikt mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, ihrem Recht, die ihnen gemäße Staatsform zu wählen, sich aus einem Staat auszuklinken, einen eigenen zu bilden oder sich einem anderen anzuschließen, überhaupt, sich als politisches Subjekt zu artikulieren. Diese Art der Begründung hat eine Perspektive. Sie gibt Sicherheit, nicht auf das Niveau alten Rivalitätsdenkens zurückzufallen oder aus der eigenen Macht Rechte abzuleiten. Sie ist eine aktuelle Begründung, die nicht auf die Wiederherstellung vergangener Zustände gerichtet ist. Sie ist ein schöpferischer Vorgang, dessen Ergebnis nicht vorausgedacht werden kann, wohl aber seine Funktionsprinzipien.

 

Die Selbstbestimmung der Völker ist das Kernproblem der Gegenwart, nicht nur hinsichtlich der staatlichen Wahlfreiheit, sondern als Grundzug der gesamten Lebensgestaltung. Der Westen meidet  diesen Begriff. Die Geschichte belegt aber auf Schritt und Tritt: Je mehr einer Partei, einem Staat oder einer Person eine Führungsrolle zugeschrieben wurde, der sich alle unterzuordnen hatten, desto verheerender waren die Folgen. Eine sich selbstbestimmende Gesellschaft muss also von daher eine führerlose Gesellschaft sein, an deren Organisation jeder teilnimmt. 

 

Die Deutschen befinden sich auf Grund ihres Vasallenstatus in einer zwiespältigen Lage. Einerseits beugen sie sich dem von den USA ausgehenden Gefolgschaftszwang, wodurch sie ständig in Widersprüche verstrickt werden, die sie in Zweifel stürzen. Sie sehen mit eigenen Augen, dass ihre andauernde politische Instrumentalisierung zu einem allmählichen Verfall ihrer Kräfte führt. Deutschland wird abgeschafft - Deutschland schafft sich ab, weil die deutschen Politiker willfährige Erfüllungsgehilfen sind. Andererseits sehen sie, wie besonders die aufstrebenden Völker und Staaten, die sich der westlichen Welt nicht unterordnen, einen wachsenden wirtschaftlich-technischen und kulturellen Beitrag zur menschlichen Entwicklung leisten. Und da soll  Deutschland zurückbleiben, weil es zunehmend ins Abseits der Geschichte gerät? Die Deutschen empfinden diesen Verlust an weltgeschichtlicher Teilhabe, dieses auf der falschen Seite Stehen, als ein nationales Unglück. Die Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesellschaft war ein heißer Funke, der im ganzen Zwanzigsten Jahrhundert im deutschen Volke brannte, der aber nicht zu einem Fanal wurde.

 

Um das Schicksal zu wenden, müssen wir aussprechen, was falsch gemacht wurde, warum diese Absicht so ganz und gar misslang. Vor zwei Extremen muss gewarnt werden: Erstens, dass die weltgeschichtlichen Bedingungen uns keinen anderen Weg zuließen. Und zweitens, dass wir Deutschen allein Schuld waren und daher das Sühnekreuz auf alle Ewigkeit tragen müssen. Auch heute ist die Verantwortung differenziert. Aber der Schwerpunkt muss in unserem eignen Tun liegen, in der unmittelbaren und ständigen Selbstbestimmung unseres gesamten Tun und Handelns. Dann ist die erzwungene Schuld zu Ende, die den Deutschen durch die eigene Regierung aufgeladen wird.

 

Russland scheint die richtigen Schlussfolgerungen aus den Zwanzigsten Jahrhundert gezogen zu haben: Hinwendung zu einer zivilisationskritischen Gesellschaftsrichtung. Auch das dürfte ein Grund sein, warum es vom Westen gehasst wird. Der Westen - und obenan die Bundesregierung - fürchten die Selbstbestimmung wie der Teufel das Weihwasser.

 

Es ist ein gutes Omen für die Zukunft, dass in dieser Hinsicht zwischen der Mehrheit der Bürger und der Regierung ein trennender Graben verläuft.

 

 

 

Johannes Hertrampf  -  02.05.2014