Deutschland in der Zange

 

 

Johannes Hertrampf – 31.07.2016

 

 

Warum ein neues Geschichtsbild des Zwanzigsten Jahrhunderts?

 

 

Warum geht es mit der Opposition so schleppend voran?

 

 

Wie wahrscheinlich ist es, dass hier ein Zusammenhang besteht?

 

 

Die Geschichtsbilder sollen Zeiten erklären, charakteristische Tendenzen aufdecken. Sie gehen in die Gegenwart ein, insofern Vergleiche gezogen und Auswirkungen festgestellt werden. Aus der Geschichte soll gelernt werden, heißt es. Mit der Geschichte leben, anstatt sie zu verdrängen. Aber wie lebt man mit der Geschichte? Je näher das vergangene Ereignis dem Heute ist, desto einleuchtender ist der Gedanke, nicht zweimal den gleichen Fehler zu machen. Also gab es bei allen politischen Umbrüchen den Großen Kehraus. Heute zeigen die Regierenden auf die Türkei und haben es zur Wende im östlichen Teil der BRD ähnlich getrieben. Demokratischer Umgang sieht anders aus. Er schafft Konsens nicht durch Verbote, sondern durch Gedankenaustausch. Er reißt nicht nieder, sondern lässt den Geist sich entzünden an den Zeugnissen der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist nur eine Gefahr, wenn sie nicht gründlich aufgearbeitet wurde. Und das ist die Regel in der Herrschaftsgesellschaft. Deshalb die Verfolgungen, Verbote und Vorschriften. Die Geschichte wird nach den gleichen Regeln definiert wie die Gegenwart.

 

Zu jeder Zeit achten die Regierenden darauf, dass das systemtragende Geschichtsbild verbreitet wird. Sie verstehen sich als Resultat der Entwicklung. Und schon die Tatsache, dass sie regieren, soll anderen Beweis genug sein, dass sie historisch berechtigt sind. Das ist zwar keine zwingende Logik, aber Realität und daher naheliegend. Auf die zu ihnen führende Geschichtslinie kommt es ihnen an, die sie als Zweck der ganzen Entwicklung erscheinen lässt. Wer sich auf dieser Linie bewegt, der steht auf ihrer Seite. Wer ihr Herkommen nicht so sieht, der gehört nicht nur nicht zu ihnen, sondern überhaupt nicht zur Gemeinschaft der Staatsbürger. Staat und Politik werden von ihnen fälschlicherweise als ein und dasselbe verstanden. Wenn die Politiker das Ergebnis der Geschichte sind, glauben sie, dann verkörpern sie die geschichtliche Tendenz. Alles, was sie sagen, hat eine tiefe Bedeutung. An dieser Stelle kann dann das Denken der von ihnen Geführten aufhören, weil der gegenwärtige Staat der beste aller Zeiten ist, ganz im Sinne der Hegelschen Anbiederung: das Vernünftige ist wirklich und das Wirkliche ist vernünftig. So wird das Befassen mit der Geschichte zur bloßen Selbstbestätigung. Das herrschende Geschichtsbild ist dann der Klotz am Bein der Opposition. Es lässt keine abweichende Sicht zu.

 

Die Regel sollte sein, dass das Geschichtsbild im Volk verwurzelt ist. In Bezug auf Deutschland verhält es sich anders. Das deutsche Geschichtsbild des Zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht deutsches Werk, weil die Siegermächte kein Vertrauen zu Deutschland hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter ihrer Regie das obligatorische Geschichtsbild fertiggestellt, das den Verlust der politischen Selbständigkeit Deutschlands rechtfertigte und sogar forderte. Um diesem Geschichtsbild die öffentliche Akzeptanz zu sichern, bedurfte es eines langen und intensiven Umerziehungsprozesses durch Medien, Schulen, Parteien und Verbände. Wenn es heute weitgehend unangefochten ist, beweist das, dass der Umerziehungsprozess den deutschen Geist diszipliniert hat und der verordnete Verlust des nationalen Eigenwertes von den meisten Deutschen hingenommen wird. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es verwurzelt ist. So leben die Deutschen im Widerspruch zwischen offizieller Akzeptanz und privatem Zweifel über das, was über sie gesagt wird.

 

Zwischen den Siegermächten bestand, obwohl sie erbitterte Konkurrenten waren, in dieser Hinsicht Übereinstimmung: Deutschland ist die Inkarnation des Bösen in der Geschichte. Und wie die Zeit   nach dem Ersten Weltkrieg bewiesen hätte, ist es unfähig, sich selbst zu analysieren und zu korrigieren. Demnach leiden die Deutschen an einer Erbkrankheit, die bis in germanische Vorzeiten zurückreicht. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Bundespräsident Gauck, der an dieser manischen Depression leidet, Volksabstimmungen in Deutschland ablehnt. Wie kann man ein Volk abstimmen lassen, das geistig-charakterlich so völlig aus der Reihe geraten ist? Nur eine andauernde politische Entmündigung durch die Siegermächte kann nach dieser Einschätzung die Gewähr geben, dass Deutschland nie wieder die Welt in Schrecken versetzt. Ganz in diesem Sinne wurden Pläne entworfen, die sogar seine völkische Zerstörung vorsahen und nie völkerrechtlich verurteilt wurden.

 

Ihre eigenen Kriegszwecke unterschlugen die Siegermächte. Es reichte ihnen aus, sich entschieden von Deutschland als Aggressor zu distanzieren. Sie übergingen stillschweigend die Rolle Deutschlands bei der Durchsetzung ihrer eigenen Machtansprüche, denn das hätte Fragen nach ihrer Aufrichtigkeit aufgeworfen. Deutschlands militärische Aggressivität und Perversität war angeblich so offensichtlich, dass für besondere deutsche Interessen künftig kein Platz mehr sein durfte. Die Kriegsziele der Siegermächte waren dagegen auf die höchsten humanistischen Werte ausgerichtet. Somit standen die Siegermächte außerhalb jeder menschlichen Kritik. Bis heute wird der Gedanke  verschwiegen, dass diese Haltung neue Gefahren in sich barg, denn wenn Mächte aus einem Konflikt gestärkt hervorgehen, dann steigen mit ihnen auch neue Gefahren auf. Die Welt wird dadurch nicht sicherer. In der Zivilisation gilt: Die Lösung eines Konfliktes ist der Anfang eines neuen Konfliktes. Daran wurde damals nicht gedacht, obwohl es auf der Hand lag, denn schließlich spielte sich noch alles im Dickicht der Herrschaftsordnung ab.

 

Das Geschichtsbild reproduziert nicht die Geschichte. Es ist Deutung vom Standpunkt der Herrschenden. Und diese ist immer eine Fälschung. Der frühere US-Außenminister H. Kissinger drückte das mit folgenden Worten aus: „Es ist nicht von Wichtigkeit, was wahr ist, entscheidend ist, was als wahr verbreitet wird“. Einer solchen Willkür steht das demokratische Geschichtsbild entgegen, das nicht Deutung ist, sondern jeweils die Übereinstimmung von gesellschaftlicher Notwendigkeit und gesellschaftlicher Realität feststellt.

 

Die demokratische Geschichtsbetrachtung geht vom Souverän aus. Sie bemisst Ereignisse und Entscheidungen nicht anhand abstrakter Werte, Ideale, sondern inwiefern dem Interesse des Volkes entsprochen wurde. Abstrakte Ideale sind aufgrund ihrer Abstraktheit nicht geeignet, als Kriterien für konkrete Entscheidungen zu dienen. Werden sie herangezogen, dann verbirgt sich hinter der Abstraktion eine spezielle Absicht, sie werden interpretiert. Deshalb verbirgt sich hinter solchen  Schlussfolgerungen alles andere als eine edle Absicht, sondern ein spezieller Zweck. Eine Begründung mit abstrakten Begriffen erzeugt den Schein einer unanfechtbaren Wahrheit. Eine solche Vorgehensweise ist für die Herrschaftsgesellschaft typisch. Die demokratische Geschichtsbetrachtung muss diese Täuschungen aufdecken. Anstatt sich auf allgemeine Begriffe zu beziehen, muss sie fragen, inwiefern eine Entscheidung den objektiven Freiraum vergrößert und den Menschen zugute kommt. Damit bringt sie das Volksinteresse auf den Punkt. Von hier aus muss sie weiter fragen, wie unter den gegebenen Bedingungen jedoch eine bessere Entscheidung ausgesehen hätte? Erst dadurch werden die ganzen Irrungen und Wirrungen der Geschichte und das ganze Ausmaß der Schwächen spontaner Entscheidungen sichtbar. Man lernt nicht aus der Geschichte, indem man sie kopiert, indem man Verhaltensweisen in die Gegenwart überträgt, sondern Geschichtsbetrachtung ist selbst ein großer Lernprozess. Die Geschichte liefert nicht schon die Lösungen, sondern das Material, anhand dessen die heute Lebenden ihre Fähigkeiten schulen, in der Gegenwart die bestmögliche Lösung zu finden. Der Umgang mit der Geschichte gewinnt folglich an Aktualität.

 

Spontaneität besagt, ohne wissenschaftliche Prüfung zu entscheiden. Die Spontaneität war zwar bisher unvermeidlich, aber das Interesse des Volkssouveräns zu beachten, weist zumindest auf die größtmögliche Annäherung an die wissenschaftliche Betrachtung hin. Man muss also differenzieren, weil auch in der Herrschaftsgesellschaft der demokratische Gedanke vorhanden ist. Es gibt volksnahe und volksferne Entscheidungen. So ist das Grundgesetz in einer Zeit starker demokratischer Einflüsse entstanden, weshalb es demokratischer ist als die heutige deutsche Wirklichkeit. Aber seine demokratischen Inkonsequenzen überwiegen und ermöglichten Entwicklungen, die dem damaligen Geist nicht gerecht werden.

 

Die heutige politische Opposition, von konservativ, liberal bis anarchistisch-links, anerkennt das herrschende Geschichtsbild, was sich im Spektrum von direkter Ablehnung bis Scheu vor dem Begriff „deutsch“ äußert. Das ist ein Grund, weshalb sie sich immer wieder verfängt. Das von den Siegermächten vorgegebene Geschichtsbild ist für sie alle eine Norm, an der man festhalten muss bzw. höchstens in diesem oder jenem Detail hinterfragen darf. Wer es anerkennt, der schreckt vor  prinzipiellen Auseinandersetzungen mit den Regierenden zurück, um nicht in Widerspruch mit den Kräften der Geschichte zu geraten, die in Wirklichkeit nur eine Einbildung sind, also eine Bildung der gegenwärtig Regierenden. Die Mächte der Geschichte sind nichts weiter als die Mächte der Gegenwart, die sich willkürlich der Geschichte bedienen, mehr nicht.

 

Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 erlebte Deutschland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es wurde die führende Industriemacht Europas. Die von Bismarck inspirierte deutsche Politik war auf ein Gleichgewicht der europäischen Staaten ausgerichtet, als der deutschen Sicherheit dienlichste außenpolitische Situation. Seine Entlassung 1890 war ein Zeichen für einen einsetzenden Sinneswandel in Deutschland. Es setzte ein imperiales Streben nach Vorherrschaft in Europa ein. Und da Europa zu damaliger Zeit im Weltmaßstab tonangebend war, bedeutete das einen Übergang zu globalen Herrschaftsambitionen. Die späteren Weltkriegsfronten bildeten sich auf der einen Seite mit der Triple Entente Großbritannien, Frankreich, Russland und auf der anderen Seite mit dem Dreibund Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Das europäische Gleichgewicht hatte sich zugunsten Deutschlands verschoben, so dass eine kriegerische Auseinandersetzung unausbleiblich war. Beide Seiten setzten auf eine militärische Entscheidung. Eine Wiederherstellung des alten Zustandes zwischen den europäischen Mächten war ausgeschlossen.

 

Aber der Erste Weltkrieg hatte noch einen weiteren Kriegsgrund – die Zurückdrängung der starken europäischen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Internationale, deren Hauptmacht die deutsche Sozialdemokratie war. Die Sozialdemokratie war der von allen Kriegsparteien gemeinsam bekämpfte Gegner, der zu Beginn des Krieges sich dem imperialen Nationalismus beugte. Die Sozialdemokratie unterstützte anfänglich die kriegführenden Mächte. Erinnert sei an die anfängliche Zustimmung zu Kriegskrediten im Deutschen Reichstag. Erst im Verlaufe des Weltkrieges stellte sie ihre unversöhnliche Gegnerschaft zu den Herrschenden wieder her und wurde sie ein ernsthafter Kriegsgegner, gegen den später der Vorwurf des „Dolchstoßes“ erhoben wurde, also nationaler Verrat, Verrat am eigenen Volke, in der Stunde höchster Bedrohung.

 

Nicht genügende Beachtung wird in dem Zusammenhang dem Pazifismus geschenkt als einer  selbständigen politischen Kritik an der Zivilisation. Seine Besonderheit bestand darin, dass er nicht aus einem der bestehenden Lager kam, sondern ein demokratischer Widerstand war, der das Volksinteresse vertrat. Es ist bezeichnend, dass die Parteien den Pazifismus als eine irrrealistische, wirklichkeitsfremde Bewegung hinstellten, wo er doch in Wirklichkeit tiefstes rigoroses Umdenken war, weil er den Krieg als politisches Mittel generell verwarf. Diese Fehlbewertung wurde durch seine Schwäche begünstigt, dass er sich nicht als zivilisationskritische Strömung verstand, sondern seine Kriegsablehnung ethisch-moralisch begründete. Objektiv war aber der Pazifismus die erste praktische Form der politischen Zivilisationskritik, die bei allen politischen Richtungen auf Unverständnis und Ablehnung stieß. Auch heutzutage wird er häufig noch als politische Schwärmerei abgetan. Selbst bei der Linkspartei ist das Bekenntnis zum Frieden weiterhin politisch verhandelbar. So äußerte der Thüringische Ministerpräsident, B. Ramelow, um die Kompromissbereitschaft seiner Partei im Falle einer Rot-Rot-Grünen Koalition zu betonen: „Wir sind keine Pazifisten“. Der konsequente Pazifismus lehnt nicht nur den Krieg als politisches Mittel ab, sondern richtet sich auch gegen die gesellschaftlichen Strukturen, die den Krieg hervorbringen. Erst dadurch wird der Pazifismus wirklich gesellschaftskritisch.

 


 

Mit dem Eintritt der USA 1917 in den Ersten Weltkrieg und dem politischen Umsturz in Russland im Oktober 1917 änderte sich der Charakter des Ersten Weltkrieges. Diese beiden Ereignisse, gaben dem Krieg ein neuen Inhalt. Das ursprüngliche Ziel, das Kräfteverhältnis der europäischen Großmächte zu verändern, trat in den Hintergrund. Die USA und Sowjetrussland waren nicht Bestandteil der sich vor dem Krieg herausgebildeten Kräftelage und hatten andere Motive. Ihnen lag nicht der  Machterhalt der ursprünglichen europäischen Kriegskontrahenten am Herzen. Ihnen ging es um eigene weltpolitische Absichten ohne das bisherige tonangebende Europa. Die europäischen Großmächte, nicht nur Deutschland, verloren an Einfluss und Bedeutung. Von seinem Inhalt her wurde der Erste Weltkrieg nun tatsächlich zu einem Krieg um die Beherrschung der Welt.

 

Am 23.12.1913 wurde vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson der Federal Reserve Act in Kraft gesetzt. Ein privates Banken-Konsortium, die FED, übernahm die Rolle der US-amerikanischen Staatsbank. Sie hatte das Recht, Geld zu drucken und gegen Zinsen zu verleihen. Damit war die finanzpolitische Voraussetzung für eine privatunternehmerisch gesteuerte, offensive, imperialistische Weltmachtpolitik der USA geschaffen. Diese Kräfte waren sich klar darüber, dass Europa als Konkurrent ausgeschaltet und zu einem amerikanischen Herrschaftsinstrument umfunktioniert werden musste. Sie nahmen den Europäern die Zügel aus der Hand. Die USA sicherten sich eine starke Position im europäischen Machtspiel. Fortan war der Weiße Stern ständig in der europäischen Politik präsent. Zeitgleich entwickelte sich dynamisch die sozialistische Weltbewegung, mit dem erklärten Ziel, die Schwächung der kapitalistischen Welt durch den Ersten Weltkrieg zu nutzen, um die sozialistische Weltrevolution durchzusetzen. Auch der Rote Stern war seitdem ein neues Wahrzeichen, welches Europa in Bann zog. Der Weiße und der Rote Stern beschränkten sich aber nicht auf Europa.

 

Noch im Ersten Weltkrieg erfolgte die Grundsteinlegung des Widerspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen den exponierten Staaten USA und Sowjetunion, als dem das ganze Zwanzigste Jahrhundert prägenden weltpolitischen Gegensatz. Es waren zwei Pole innerhalb der Zivilisation, zwischen denen der Kampf um Europa und schließlich der Kampf um die Welt entbrannte. Und immer stand Deutschland im Vordergrund, aber stets in der Rolle des Büßers und Verlierers.

 

Der militärischen Niederlage folgte das Versailler Diktat, das in Deutschland als nationale Schmach, als Ungerechtigkeit, empfunden wurde. Und zwar zu Recht, denn die den Deutschen zugeschriebene Alleinschuld am Kriege war eine Entstellung der Kriegsursachen. Der Versailler Vertrag legte das wahre Ergebnis des Ersten Weltkriegs offen: die wirtschaftliche und politische Schwächung Deutschlands und das Ausscheiden Europas als bestimmendes weltpolitisches Machtzentrum. Europa war nach dem Ersten Weltkrieg zerrissen und hatte seine Selbständigkeit verloren. Es war zum Spielfeld der beiden Großmächte geworden.

 

Objektiv stand die Weimarer Republik vor einer weltgeschichtlichen Pionieraufgabe, der Eröffnung eines neuen demokratischen Zeitalters. Sie zerbrach an dieser Aufgabe, weil nirgendwo die Zeitenwende von der Zivilisation in eine neue Zukunft bewusst war. Die beiden neuen Weltmächte, USA und Sowjetrussland hatten anderes im Sinn. Sie wetteiferten um die Überlegenheit ihrer Systeme und verhinderten die Herausbildung einer fundamentalen demokratischen Opposition. In Deutschland gab es kulturelle und philosophische Ansätze, die infolge der starken Politisierung sich nicht entwickelten. Dieses entwicklungsgeschichtliche Defizit spielt im offiziellen Geschichtsbild überhaupt keine Rolle. Es fehlt die klare Unterscheidung des Kriegsgrundes des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Der Erste Weltkrieg entstand aus Konkurrenz gegen Deutschland, mit dem Ziel, Deutschland unfähig zu machen. Gegen Ende des Krieges, mit Eintritt der beiden Großmächte USA und Sowjetrussland, später Sowjetunion, rückte die Hegemonie der beiden neuen Mächte in den Vordergrund. Der Kriegsgrund des Zweiten Weltkrieges war die Konkurrenz um die Hegemonie der beiden Großmächte, und die Unterwerfung, Vasallisierung, Deutschlands und Europas unter ihre Herrschaft. Die nationalsozialistischen Kriegszüge richteten sich gegen die Völker Europas. Der Krieg der beiden Großmächte gegen Deutschland war somit eine Befreiung von deutscher Herrschaft und bot zugleich die Möglichkeit, die amerikanischen und russischen Einflusssphären festzulegen. Die Aufteilung Europas und im Besonderen die Aufteilung Deutschlands durch die beiden Großmächte war der eigentliche Antrieb der Koordinierung ihres Zusammenwirkens gegen Deutschland. Die Befreiung von deutscher Herrschaft erfolgte nicht als Akt der Rückgabe der Selbständigkeit an die einzelnen Völker, sondern als Akt des Austauschs von Fremdherrschaft. Die Befreiung war in Wirklichkeit eine neuerliche Unterwerfung unter fremde Mächte. Auf Deutschland bezogen bedeutete das die Ablösung der nationalsozialistischen Diktatur durch Fremdherrschaft. Am Verlust der Volkssouveränität änderte sich grundsätzlich nichts.

 

Im herrschenden Geschichtsbild fehlt ferner die starke ideologische Einflussnahme der beiden Großmächte auf Deutschland und die damit verbundene Behinderung der deutschen demokratischen Opposition. Beide Globalmächte propagierten ihr Zukunftsbild, beide empfahlen sich als Hoffnungsträger. Das ist der Kernpunkt des schädlichen Wirkens der Siegermächte, das bis in die heutige Zeit hineinwirkt. Diese beiden Mächte haben den Gesellschaftsfortschritt in der Weimarer Republik entscheidend aufgehalten und damit objektiv die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland  begünstigt. Ihre imperialen Absichten waren für Deutschland ein existenzbedrohender  Zangengriff, dem das deutsche Volk nichts entgegensetzen konnte. Es befand sich zwischen Scylla und Charybdis. Der wirkliche Ausweg war ihm verborgen.

 

Die Welt trieb auf einen Krieg hin. Die beiden Globalmächte konnten ihren Widerspruch nur militärisch lösen. Sie brauchten den Krieg. Hitler ebenfalls, um sich an der Macht zu halten. Er  brauchte die Globalmächte, um sich als Retter Deutschlands darzustellen. Und die beiden Globalmächte brauchten Hitler, um sich als Beschützer vor der deutschen Gefahr zu legitimieren. In der Folgezeit zeigte es sich, dass es eine falsche Hoffnung war, sich mit dem einen gegen den anderen zu erwehren. Die nationale Selbstaufgabe kann niemals eine Bedingung zur nationalen Befreiung sein, auch nicht als vorübergehender Winkelzug.

 

Es ist nicht zutreffend, den Nationalsozialismus als Reaktion auf Versaille zu reduzieren. Er profitierte nicht nur aus seiner Protesthaltung gegen Versaille, er profitierte auch aus seiner Protesthaltung gegen den Druck der beiden Weltmächte auf Deutschland. Er war eine falsche Hoffnung auf Befreiung vor dem drohenden nationalen Untergang. Er stellte sich dar als verlässliches Bollwerk gegen die sogenannte bolschewistische Gefahr aus dem Osten, die Deutschland unter russische Fremdherrschaft bringen würde und er stellte sich dar als Retter deutscher Eigenart vor dem US-amerikanischen Geistes- und Lebensstil, der das Kulturleben in der Weimarer Zeit dominierte. Ohne diese zweifache Frontstellung wäre er nie eine dominierende Kraft geworden. Der Nationalsozialismus war keine nationale Erneuerungsbewegung, sondern eine vornehmlich antiliberal-westliche und antikommunistisch-nationalistisch ausgerichtete Herrschaftsideologie. Er war der ungeheuerlichste Missbrauch der Nationalidee in der Herrschaftsgesellschaft. Das machte seine außerordentliche Gefährlichkeit aus. Anstatt diese Tatsache und ihre Gründe allseitig zu analysieren, lehnen die Kritiker des Nationalgedankens diesen prinzipiell ab. Das ist falsch, weil damit seine weitere notwendige Funktion verworfen wird. Der Grund des Missbrauchs einer Sache liegt nicht in der Sache, sondern ist außerhalb dieser zu suchen.

 

Die nationale Idee als wegweisende Idee der gesellschaftlichen Erneuerung war nicht eingearbeitet in eine Programmatik der demokratischen Erneuerung, sondern verkam als Widerstandsidee gegen die imperiale Unterdrückung der beiden Globalmächte. In dieser Funktion wurde sie vom Nationalsozialismus aufgegriffen und zur Begründung einer eigenen imperialen Machtbestrebung benutzt. Dieser Missbrauch gedieh infolge der außenpolitischen Kräftekonstellation und infolge des Fehlens einer deutschen demokratischen Erneuerungsbewegung. Er war ein deutsches Unglück, denn mit der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus begann ein neuer deutscher Anlauf zur Eroberung einer Machtposition von Weltgeltung. Insofern war der Zweite Weltkrieg vorn herein von deutscher Seite aus zum Scheitern verurteilt und ein Verbrechen am deutschen Volk.

 

Das Ziel der späteren Siegermächte war die bedingungslose Kapitulation zum Zwecke der eigenen globalen Hegemonie. Von der unter Kuratel-Stellung nach dem Ersten Weltkrieg zur Entmündigung Deutschlands durch die Teilung und Zuordnung zu den beiden Großmächten, also Auslöschung einer deutschen Souveränität. Carlo Schmid hat das 1948 in seiner berühmten Rede offen ausgesprochen, indem er die Nachkriegsordnung als eine Modulation von Fremdherrschaft bezeichnete. K. Adenauer hat das ebenfalls mit den Worten eingestanden: „Wir sind keine Mandanten des deutschen  Volkes, wir haben den Auftrag von den Alliierten“. An dieser Sachlage hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Die von Kohl 1989 gezogene deutsche Karte war ebenfalls nur Schein, um die westliche Integration der ehemaligen DDR bei den Deutschen zu verschleiern.

 

An diesem Konzept wird bis heute festgehalten. Nach dem Niedergang des Kommunismus wurde ganz Deutschland unter Aufsicht der USA gestellt und fest in die westliche Gemeinschaft eingebunden. Deutschland ist Vasall der USA, mit besonderem Auftrag für die Integration Europas auf dem Wege der EU. Inzwischen ist deutlich geworden, dass die seinerzeitige Gießkannenpolitik Genschers als Mittel zur europäischen Integration völlig gescheitert ist und in die finale Krise der EU und der westlichen Gemeinschaft geführt hat. A. Merkel hatte in ihrer letzten Pressekonferenz die Möglichkeit gehabt, dieses Fiasko und ihren Anteil daran offen zuzugeben und sich dafür vor dem deutschen Volk entschuldigen können. Das hat sie unterlassen.

 

Die neuerlichen Erwartungen der USA an Deutschland als europäische Führungsmacht übersteigen nicht nur die Kraft Deutschlands, weil es eine Sisyphusaufgabe ist, sondern sind eine hinterhältige Verführung. Das Weißbuch der Bundesregierung zur deutschen Sicherheitspolitik ist eine fundamentale Falschorientierung. Die Bundesregierung ist ohne realistisches Zukunftsbewusstsein. Deutschland darf mit Hilfe der Nato und der EU keine Führungsrolle übernehmen. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Völker durch andere Mächte geführt werden. Und schon gar nicht durch Deutschland.

 

Die Zerstörung der Zivilisation geht heute von technisch führenden Industrieländern aus. Die Weltherrschaft gelang nicht. Warum nicht? Der technische Fortschritt objektiv anders determiniert ist. Die freie subjektive Individualität ist sein Wesen. Diese Wirkung lässt keine Weltherrschaft zu. Unterdrückung der Welt und Freie Welt sind zwei Tendenzen der Zivilisation, aber nicht gleich stark. Eine Weltherrschaft ist illusionär. Die Freiheitswirkung der Technik ist stärker als die Herrschaftswirkung. Hierauf begründet sich das Vertrauen in die Erneuerung. Wenn der Präsident des EU-Parlaments M. Schulz nach dem Brexit als  Konsequenz fordert, eine „echte europäische Regierung“ zu bilden, dann merkt man gleich, dieser Mensch hat von den tieferen Beweggründen der Geschichte nichts verstanden.

 

Der Zangengriff war ein Hindernis der zu Ende gehenden Zivilisation gegen die Erneuerung. Damals fehlte das demokratische Zukunftsbewusstsein. Die Praxis war blind. – Der Blick zurück muss ohne Vorwurf sein. Die Geschichte ist nun mal so verlaufen. Aus ihr kann man nur lernen, wenn man dem Verstand folgt.

 

 

 

Johannes Hertrampf – 31.07.2016