Deutschland hat ein Problem

 

20. November 2007 FP Deutschlands

 

von Dr. J. Hertrampf

 

 

Und dieses Problem lautet: Wie kriegt man eine ungeliebte Regierung los? Volk und Regierung existieren nebeneinander her und haben sich nichts mehr zu sagen. Die Politiker sprechen nicht mit den Bürgern, sondern lassen sich von Umfrage-Instituten berichten, wie die Stimmung im Lande ist. Und die Bürger ignorieren die Politiker und lassen ihnen damit freie Hand, anstatt sich einzumischen.

 

 

Die Durchsetzung des Rechts auf eine anständige Regierung ist nicht an Legislaturperioden gebunden. Legislaturperioden sind ein willkürliches Zeitmass. Die Legitimation einer demokratischen Regierung unterliegt einem anderen Maß, inwieweit nämlich die Politik aus dem Volk Zustimmung erfährt. Heutzutage beruhen die Wahlen auf einem großen Missverständnis. Der Abgeordnete hält das Kreuz auf dem Wahlzettel für einen Freibrief für sein Gewissen. Und der Wähler glaubt, dass er sich mit dem Kreuz das Wahlversprechen des Abgeordneten gesichert hat. Der Bürger wählt aber den Abgeordneten nicht, weil dieser ein Gewissen hat, sondern weil dieser ihm etwas Bestimmtes versprochen hat. Das Grundgesetz lässt dieses Missverständnis zu, weil es den Abgeordneten nicht verpflichtet, sein Wahlversprechen einzuhalten. Wahlversprechen und Gewissen sind aber nicht ein und dasselbe. Somit deutet das grundgesetzliche Recht des Abgeordneten, nach seinem Gewissen zu entscheiden, auf das neben Fraktionszwängen und Lobbyismus noch viele andere Faktoren einwirken, auf eine Bruchstelle zwischen ihm und dem Wähler hin. In dem Augenblick, da der Kandidat zum Abgeordneten wird, lässt er die Welt des Wählers hinter sich, betritt er die Kampfarena der Parteien.

 

 

Die heutige parlamentarische Demokratie fordert, dass der Bürger seine Souveränität mit dem Kreuz auf dem Wahlzettel abgibt. Damit macht sich der Abgeordnete selbst zum Träger der Souveränität. Die Souveränität verlagert sich ins Parlament und der Bürger wird nur noch als Steuerzahler gebraucht. Damit ist er für die Zeit der Legislaturperiode entmündigt. Der Herr ist dem Knecht nicht rechenschaftspflichtig. Die Einführung der Rechenschaftspflichtigkeit des Abgeordneten gegenüber dem Wähler ist somit die Auflösung der parlamentarischen Herrschaftsform.

 

 

Die Souveränität ist ein mit der Geburt gegebenes, natürliches Recht. Es ist ein unveräußerliches Recht, dessen Wahrnehmung durch die Lebensumstände des Individuums modifiziert wird. Wie bei jedem Theorie-Praxis-Bezug muss man das Absolute wissen und das Mögliche tun. Eine solche die Wahrnehmung der Souveränität modifizierende Bedingung, wodurch die jeweilige Souveränität zu einem historisch konkreten Fall wird, ist der bürgerliche Parlamentarismus. Dieser erkennt zwar dem Bürger die Souveränität zu, macht sie ihm aber zugleich streitig. Er versetzt den Bürger in eine zwiespältige Situation. Er lässt ihm am Wahltag das Kreuz machen und nimmt ihm die Möglichkeit, bis zur nächsten Wahl seinen politischen Willen durchzusetzen. Er kann ihm die Souveränität zwar nicht abnehmen, weil dieses Recht ein ursprüngliches Lebensrecht des Menschen ist, das nur mit dem Tod endet, aber er hindert ihn, es wahrzunehmen. Dadurch entsteht ein permanenter Spannungszustand, insofern der Bürger seine Entmündigung akzeptieren muss bzw. sein Unwille über diesen Zustand stets unter einer bestimmten Schwelle bleiben muss. Wie die Sache sich wirklich verhält, zeigt sich dann, wenn es dem Bürger zu bunt wird, und er von seinem Naturrecht Gebrauch macht, das er hat, unabhängig davon, ob es in der Verfassung steht oder nicht. Im äußersten Falle setzt der Bürger seine Souveränität mit Gewalt durch. Doch in der bisherigen Geschichte blieb ihm nichts anderes übrig, als sich danach wieder mit Beschränkungen abzufinden und das Spiel begann von Neuem.

 

 

Gewalt als politisches Mittel ist heute allgemein verpönt, weil Gewaltanwendung das Problem nicht löst, sondern nur einer anderen Form von Souveränitätsbeschneidung Platz schafft. Ferner liegt Gewalt nicht im Interesse des Bürgers, weil er dabei Schaden erleidet.

 

 

Wenn wir demokratische Reformen anstreben, geht es um die Einführung von Regeln, die dem Naturrecht des Menschen, Souverän zu sein, besser Rechnung tragen als bisher. Es geht um eine höhere Rationalität der Durchsetzung seiner Souveränität. Die Frage ist also, welche Möglichkeiten es gibt, seinen Einfluss auf politische Entscheidungen zu vergrößern. Das betrifft sowohl die bisher wenig entwickelten Formen der direkten Demokratie, als auch die Weiterentwicklung der Formen der parlamentarischen Demokratie. Hierzu gehört eben die unbedingte und permanente Verpflichtetheit des Abgeordneten gegenüber dem Bürger. Der Unterschied zwischen Gewissensentscheidung und Entscheidung nach Bürgerauftrag ist eine politische Zäsur, der Demokratie als Herrschaftsform von einer Demokratie als wirklicher Bürgerbeteiligung, als staatsbürgerlicher Selbstverwaltung, unterscheidet. Diese angeblich introvertierte, angeblich das Ganze involvierende Gewissensentscheidung ist doch in Wirklichkeit nur die pathetische Verschleierung der Loslösung vom Bürgerwillen. Sie ist die abstrakte Begründung der konkreten Willkür gegenüber dem Bürger, sich über sein Interesse hinwegzusetzen, ihn also zu beherrschen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Abgeordnete in den Augen des Bürgers nie wirklich eine Vertrauensperson ist. Ist er dagegen ihm unbedingt verpflichtet und kann er sich nicht unter Berufung auf sein Gewissen herausreden, muss der Bürger das Recht haben, ihn zurückzurufen und einen anderen an seine Stelle zu setzen, wenn er, unabhängig von aller Legislaturperiodizität, nicht das in ihn gesetzte Vertrauen erfüllt. Eine solche Auftragsverpflichtetheit des Abgeordneten ist auch mit der Listenwahl unvereinbar, durch die sich die Parteien gegenwärtig im Parlament soviel Macht verschaffen. Durch die Listenwahl wird die Gewalt bis in die Parlamente getragen, wo sich die Formationen der Parteisoldaten gegenüberstehen, einander niederschreien und niederstimmen. Wenn die Macht der Einen die Ohnmacht der Anderen ist, dann ist das Gemeinwohl nicht der Zweck, sondern der Rest des Kampfes.

 

 

Es ist nicht nur die Türschwelle, die den Bürger vom Abgeordneten trennt, hinter der andere Spielregeln gelten, die sich die Abgeordneten selbst geben, so dass der Bürger keinen Zugriff mehr hat, sondern es ist auch die Unsicherheit, die ihn scheu macht, politische Entscheidungen zu treffen. Er weiß nicht genau, was eigentlich richtig ist. Entmündigung bedeutet nicht nur, dass ihm das Recht genommen wird, sich souverän zu äußern, sie bedeutet auch, dass ihm Wissen entzogen und Einstellungen nicht anerzogen werden. Die Unschlüssigkeit des Bürgers, sich in die Politik einzumischen, wird ihm täglich beigebracht, durch Drohungen, Falschinformationen, Demütigungen und vor allem durch Vereinzelung. Er hat die Gewissheit, dass etwas nicht stimmt, mehr noch, dass ihm die Welt feindlich ist, aber ihm fehlt die Überzeugung, dass er sie zum Positiven verändern kann. Ihm wird der Eindruck vermittelt eines schlechten, aber unverrückbaren Zustandes. Die Fülle der Horrormeldungen erzeugt noch lange nicht den Entschluss, die Zustände zu ändern. Wenn die heutige Welt schlecht ist, aber besser als die Welt von morgen, dann entsteht eine Abwehrhaltung gegenüber der Zukunft.

 

 

Von der derzeitigen schwarz-roten Koalition wurde viel hingenommen. Das sonst übliche Gezeter der Opposition blieb sehr verhalten, denn alle waren sich von Anfang im klaren darüber, anders als mit Schwarz-Rot war das Land nicht mehr zu regieren, deshalb wurden Schwächen von den Medien nicht ausgeschlachtet. Jung und Schäuble lassen die Katze aus dem Sack: sie sind realpolitische Wegbereiter des eingeschlagenen Kurses – Vasallenpflicht steht über Volksinteresse. Normalerweise sollte eine Regierung, wenn sie den Kontakt zum Volk verloren hat, zurücktreten, um den Konflikt zu vermeiden. Aber was tun, wenn sie das nicht macht, wenn sie Kritik nicht annimmt, wenn sie alle Hinweise in den Wind schlägt, alle Briefe und Petitionen , alle Demonstrationen und Wahlergebnisse?

 

 

Kurzfristige politische Umbrüche, die allesamt friedlich verliefen, hat es in der jüngeren Geschichte nur in offen diktatorischen Regimes gegeben. Alle diese Umbrüche waren nur Zusammenbrüche, denen die Übernahme bürgerlich-parlamentarischer Strukturen folgte. In den bürgerlichen Demokratien hat es auch schwere Krisen gegeben, aber sie wurden überstanden, ohne Änderungen des Systems. Was sollte auch übernommen werden? Ein nachahmenswertes Vorbild gibt es nicht. Das Krisen-Management funktioniert also und die Ursachen bleiben. Noch ist Deutschland das Land, in dem am wenigsten passiert. Deuten sich brenzlige Situationen an, beginnt die konzertierte Aktion von Medien und allen möglichen Sozialarbeitern, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden, die den Widerstand entschärfen. Davon wird die Gesellschaft nicht gesünder, vielmehr werden die körpereigenen Abwahrkräfte noch geschwächt.

 

 

Für Deutschland trifft es besonders zu: Die westlichen Industriestaaten leben ohne starke Impulse. Es ist ein Dahindümpeln, unterbrochen durch Skandale und Verbrechen. Die Ruhe nach dem Niedergang des Kommunismus ist nicht eingetreten. Neue Weltwirtschaftsmächte mit politischen Ansprüchen treten auf und machen den westlichen Industriestaaten das Leben schwer. Noch ist die wirtschaftlich-technische Überlegenheit auf vielen Gebieten vorhanden, aber die Schlacht tobt und die Niederlage ist nur eine Frage der Zeit. Die Initiative liegt nicht mehr im Westen. Alles, was er tut, das Blatt zu wenden, ist vergeblich.

 

 

Diese Realität ist den Menschen bewusst, den Regierenden wie den Regierten. Dieses Bewusstsein prägt auch die Opposition, es nimmt ihr die Schärfe. Man sitzt im gleichen Boot und da kann man sich einen handfesten Streit nicht erlauben. Die Opposition übernimmt die Sprachregelung, wonach Deutschland sich den Herausforderungen der Globalisierung stellen muss. Und folglich können wir nur aus dieser das Beste für uns herausholen. Der Fatalismus steckt tief in den Knochen. Alle etablierten Parteien, ob regierende oder oppositionelle, reden in der Weise und viele der kleinen Parteien auch. Diese Ideologie ist wie eine Infektion, die mehr oder weniger alle infiziert hat und die verhindert, nach einer eigenen Alternative zu suchen. Die Opposition ist befangen, sie vermeidet es, fundamental zu sein, weil sie keine Alternative weiß. Früher hatten die Oppositionellen ein klares anderes Ziel, sie wussten, wie das „gelobte Land“ aussieht. Heute weiß die Opposition das nicht. Eine andere Welt ist möglich, sagt sie. Aber sie hat keinen Namen für diese Welt und was keinen Namen hat, davon hat man keinen Begriff. Die Herrschenden wissen, dass sie am Ende sind und die Beherrschten wissen nicht, wo der Anfang ist. Im Vergleich zu 1989 scheint die Lage ausweglos zu sein.

 

Über die Parlamente geht nichts. Dann bleibt nur der Protest auf der Straße, friedlich, bestimmt und von Mal zu Mal anschwellend. Die 4. Bundesweite Demonstration am 13.10.07 in Berlin trug diese Züge. Aus allen Ecken und Enden Deutschlands waren die Aktivisten der Montagsdemos angereist, gegen Hartz IV und Rentenklau, gegen Kinderarmut und Demokratieabbau. Die Anklage war verbunden mit der Entschlossenheit, nicht aufzugeben. Die Demonstration richtete sich direkt gegen die Regierung! Doch nicht anwesend waren jene, wie schon wenige Wochen zuvor bei der Kundgebung gegen den Afghanistan-Krieg, die sich als Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit ausgeben, die führenden Gewerkschaftsfunktionäre und die Spitzen der Partei DIE LINKE. Es ist bemerkenswert, dass sie nicht in der vordersten Reihe standen. Auf Kongressen und im Parlament sind sie unter sich. Auf den öffentlichen Plätzen stehen sie dem Souverän direkt gegenüber. Das ist der Unterschied. Dieser will wissen, wie es weiter geht, wann endlich der politische Kurswechsel erfolgt. Erst 2009, wenn die Bundestagswahlen sind? Warum nicht eher? Eine Rede im Parlament zu halten, ist leichter als Fragen der Bürger zu beantworten. Ihr Fernbleiben kann als Verlegenheit verstanden werden, den Bürgern nicht das sagen zu können, was diese hören wollen. Diese sind nämlich der anklagenden Worte überdrüssig, sie wollen endlich hören, wie die Zustände verändert werden können. Sie wären bereit, mitzugehen und denen den Rücken zu stärken, die den Mut zur Erneuerung hätten. Gibt es zum Konzept des gebremsten Abstiegs keinen alternativen Gegenentwurf? Ist nur noch Opportunismus machbar, der als Kritik ohne Alternative agiert?

 

Die Frage ist nicht, parlamentarische oder außerparlamentarische Aktion, sondern sowohl als auch, aber der Schwerpunkt liegt auf der außerparlamentarischen. Die grundlegende gesellschaftliche Änderung kann nur unter ständiger und direkter Mitwirkung der Bürger zustande kommen.

 

 

Das eigentliche Problem ist nicht, wie man die Regierung los wird, sondern das fehlende alternative Konzept oder, die fehlende neue Leitidee, sonst werden nur Personen ausgewechselt. Die Gründung der „Allianz Demokratischer Parteien und Organisationen“ verfolgte zum einen die Absicht, die verstreuten demokratischen Kräfte zusammenzuführen, denn in all den Jahren zuvor hatte es sich gezeigt, dass keine von ihnen einen nennenswerten politischen Einfluss erringen konnte. Doch die These, „so wie bisher weiterzumachen, hat keinen Zweck“, hat noch eine zweite Bedeutung, dass nämlich eine neue gemeinsame politische Orientierung gebraucht wird: die Erneuerung Deutschlands mit demokratischen Mitteln. An beiden Aufgaben wird seitdem gearbeitet. Gelingt es wirklich, diese beiden Aufgaben zu erfüllen, dann hilft das, die Erstarrung Deutschlands zu überwinden.