Desillusionierung

 

17. Januar 2012

 

von J. Hertrampf

 

Die Desillusionierung Europas ist eines der nachhaltigsten Resultate des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die Erfahrungen der politischen Ereignisse sind ein teuer erworbenes geistiges Erbe, mit dem die Völker sorgfältig umgehen müssen. Diese Forderung gebietet nicht nur der Respekt vor den Opfern, vor millionenfachen Leiden und Enttäuschungen.

 

Die beiden Weltkriege, die Errichtung sozialistischer Systeme nach sowjetischem Vorbild und die Ost-West-Spaltung Europas haben die Menschen auf beiden Seiten aufgewühlt und verändert. Diese Erfahrungen sind ein Fundus, der bei der weiteren Gestaltung Europas stärker eingebracht werden muß. Nur dann war es keine verlorene Zeit. Doch die Stellung zu dieser Zeit ist noch immer durch alte Klischees geprägt, weshalb sich viele Menschen von den gesellschaftlichen Prozessen fernhalten. In dieser Hinsicht haben vor allem die deutschen Politiker in der sogenannten Wendezeit versagt. In den östlichen Bundesländern ist das eine neue belastende Erfahrung.

 

 

Das am Ende der Zivilisation sich solche Turbulenzen abspielten und die Zivilisation noch einmal so unverhüllt auf den Prüfstand gelegt wurde, kann wohl als eine Bedingung ihrer gründlichen Überwindung angesehen werden. Diese schonungslose Offenlegung läßt keinen Zweifel daran, daß wirklich eine Endzeit angebrochen ist. Doch die Herrschenden setzten alle Kräfte in Bewegung, um diese klare Erkenntnis zu verhindern. Mit riesigem politischem und wirtschaftlichem Aufwand haben sie die Menschen für sich gewinnen wollen und die Völker gegeneinander ausgespielt. Aber es gelang nicht, die Desillusionierung aufzuhalten. Für die Entwicklung eines neuen Denkens ist das eine unbedingte Voraussetzung. Die jetzige EU-Krise gibt diesem Wandel von einem gesteuerten Massenbewußtsein zu einer persönlichen Meinungsbildung einen starken Auftrieb.

 

 

Es gibt in der Zivilisation bestimmte Begriffe von durchgehender Bedeutung wie Herrschaft, Schuld, Ideal, die in den verschiedenen Phasen spezifische Erscheinungsformen haben. Die heutige Kritik muß sich am Ausgang der Zivilisation auf diese konzentrieren, weil sie sonst innerhalb der Grenzen der Zivilisation bleibt und auf der Stelle tritt. Wer nur die heutigen Erscheinungen kritisiert, der kann sie nicht aus der Welt schaffen. Wenn G. Hegel meinte, daß die Menschen nichts aus der Geschichte gelernt hätten, dann ist das insofern richtig, als sie glaubten, innerhalb der Zivilisation eine Lösung zu finden. Damit wird die Berechtigung von Situationskritik nicht in Abrede gestellt, nur muß die Kritik den Bogen weiter spannen.

 

 

Diese zivilisatorischen Grundbegriffe sind so selbstverständliche Bestandteile unseres Alltags geworden, daß sie uns gleichsam als naturgegeben und nicht an gesellschaftliche Umstände geknüpft erscheinen. Sie werden nicht mehr hinterfragt und Regelungen, die auf ihnen beruhen, werden als selbstverständlich angesehen. Nicht diese werden hinterfragt, sondern man befaßt sich mit ihren mangelhaften Anwendungen.

 

Mit den Idealisierungen, Verselbstständigungen der Ideen befassen sich nicht nur die Philosophen, Künstler und Priester, sondern jeder Mensch trägt ein Stück dieses Zukunftsideals in sich. Er hat es in der Schule kennengelernt, es wurde ihm von seinen Eltern anerzogen. Hinzu kommt, daß seine eigenen Erfahrungen in der Alltagspraxis solche Idealisierungen berechtigen, „denn so wie sie ist, kann die Welt nicht bleiben“. Insofern führt jeder Mensch ein Doppelleben, so wie es ist und so wie es sein sollte.

 

 

Nicht die Realität erzeugt von selbst in den Köpfen der Menschen ihren idealen Widerschein, sondern der Mensch schafft sich dieses Gegenbild. Er hat zwei Gedankenwelten in seinem Kopf, eine realistische und eine idealistische. Diese Spaltung stimmt mit dem Interesse der Herrschenden und dem Interesse der Beherrschten überein. Nach der Mühsal des Alltags möchten diese sich in einer Welt aufhalten, in der es nach ihren Wünschen zugeht. Vom Standpunkt der Herrschenden ist dagegen nichts einzuwenden. Warum soll der Beladene sich nicht dort die Kraft holen, die er im Alltag braucht?

 

 

Die idealistischen Welten sind Fluchtwelten, Ausflüchte. Es sind imaginäre Vorstellungen. Das zeigt sich daran, daß sie sich nicht im Alltag umsetzen lassen. Künstler, Philosophen, Priester schaffen sie mit einem erheblichen Aufwand. Die Nützlichkeit ihres Schaffens ist der Erhalt der Zivilisation. Daher der Abstand zu den Menschen. Die ideale Welt wird als außerhalb der realen Erfahrungswelt erkannt. Bei aller Akzeptanz wird sie dennoch als wirklichkeitsfern empfunden. Sie wird von den Herrschenden geduldet und gefördert. Selbst dort, wo sie die Zustände anprangert, ist sie Bestandteil des herrschenden Bewußtseins und wird im Notfall von ihr verteidigt. Ohne diese imaginäre Welt könnte das reale Leben nicht funktionieren. Die Herrschenden beherrschen geistig das Volk mit diesen idealistischen Vorstellungen. Durch sie finden sie Zugang zu den Köpfen der Menschen. Daher sind diese Ideen für Herrschaftssysteme genau so lebensnotwendig, wie die hinreichende Befriedigung der materiellen Bedürfnisse.


Idealistische Ideen wirken in dreifacher Hinsicht stabilisierend in der Gesellschaft.

 

 

1. Relativierung der Wirklichkeit.
Jedes Ideal bezeichnet die reale Welt als unvollkommen und vergänglich und gibt damit den Kritikern grundsätzlich recht, allerdings bezogen auf die Zukunft. Der realen Welt mangelt es am Wahren, Guten und Schönen. Die irreale Welt vertröstet auf eine Welt, in der alles Unvollkommene beseitigt ist. Es besteht also – und das ist eine grundsätzliche Annahme – die Möglichkeit vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit zu gelangen. Auf Grund der Wirklichkeit ist das Bild von der Zukunft so eindrucksvoll, daß der Weg dorthin von untergeordneter Bedeutung ist. Diesem Denken fehlt die wissenschaftlich begründete Ableitung aus der wirklichen Welt. Idealistische Bilder sind Schöpfungen, die nicht den Gesetzen der Natur unterliegen. Sie können nicht experimentell bestätigt werden. Auch die philosophischen Aussagen tragen keinen wissenschaftlichen Charakter. Ihnen allen liegt eine Absicht zugrunde, der nicht auf einer objektiven Notwendigkeit beruht. Es sind willkürliche Konstrukte. Daher ist die von ihnen verkündete Freiheit nicht realistisch. Folglich: Der Mensch hat sich also bei der Ausgestaltung der Zivilisation falscher Ideen bedient und geriet dadurch in einen immer tieferen Widerspruch zur Natur. So sehr er sich dabei von der Natur entfernte, sie holte ihn auf den Boden der Realitäten zurück. Die Naturgesetze zu umgehen, das gelang ihm nicht.

 

 

2. Energieentzug der Opposition.
Die Imagination erfordert enorme Anstrengungen für ihre Hervorbringung und Verbreitung. Ja, sie ist das Feld, auf das die meiste Aufmerksamkeit gerichtet wird, mehr als auf die Schaffung naturgesetzlicher Systeme. So gesehen, hat der Mensch in der Zivilisation große Energiemengen für irreale Zwecke verausgabt. Dieser Kraftaufwand war vom gesellschaftlichen Interesse her unumgänglich, weil anders die Gesellschaft nicht existieren konnte. Im Volksmund werden diese Tätigkeiten ironisch mit dem Begriff „brotlose Kunst“ bezeichnet, obwohl diese „Künste“ sehr lukrative Geschäfte sein können. Für die Herrschenden und die Beherrschten werden damit gleichermaßen Freiräume geschaffen. Indem die Wirklichkeit immer wieder in einen Schein gehüllt wird, ergeben sich ständig neue irreale Deutungszwänge. Schauen wir uns die gegenwärtige Finanzkrise an. Obwohl es Legionen von Ökonomen gibt, ist die Realität nicht unter Kontrolle zu bekommen. Die von den Ökonomen produzierten Ideen sind irrealer Natur, d.h. sie sind willkürlich, die Zwecke stimmen nicht mit den ökonomischen Notwendigkeiten überein. Sie schaffen Entscheidungsräume für die Willkür der Herrschenden und wecken Hoffnungen bei den Beherrschten. Die Ideen dieser Ökonomen sind für das gegenwärtige System erforderlich, aber für die Erneuerung unbrauchbar. Die Erneuerung benötigt andere Maximen. Das hat zur Folge: Der erforderliche Aufwand zur Erhaltung des Systems übersteigt seine Produktivität. Damit geraten die Herrschenden in einen neuen Widerspruch: sie wollen das System erhalten und müssen es gleichzeitig nach neuen Grundsätzen umbauen. Dieser Widerspruch ist für sie einfach unlösbar. Der idealistische Kraftaufwand ist keine Schwäche der Zivilisation, die hätte vermieden werden können, sondern er ist ein fester Bestandteil, der sich heute bis zur Selbstzerstörung ausweitet.

 

 

3. Herrschsüchtig und intolerant.
Die idealistische Welt ist ein Ordnungsmittel, das Anerkennung und Wiederholung verlangt. Die Irrealität der Wirklichkeit ist unerbittlich. Andersdenkende werden kritisiert bzw. verfolgt. Da diese irreale Welt nicht auf Erkenntnis beruht, sondern auf Glauben, ist sie alogisch und wissenschaftsfeindlich. Eine sachlich orientierte Diskussion würde die Willkür entlarven. Deshalb wird streng darauf geachtet, daß sie die nebulösen Gefilden nicht verläßt. Ein negatives Beispiel ist hier die Soziologie, geradezu ein pseudowissenschaftlicher Tummelplatz. Das haben Kunst, Religion und Philosophie gemeinsam: sie sind keine Erkenntnisformen, sondern nützliche Behauptungen. Die Vorgaben der Medien sind eindeutig und tabu. Diese Vorgaben sind die Grenzen der heutigen Meinungsfreiheit.

 

 

Diese drei Funktionen gelten für die gesamte Zivilisation. Mit dem neuen technischen Typ verlieren sie jedoch ihre Zuverlässigkeit. Die Desillusionierung ist die großflächige Zerstörung ihres geistigen Bodens, indem sie diesen in Zweifel stellt. In dem Maße, wie die zweite Welt sich auflöst, verliert die erste ihre wichtigste Stütze. Und löst sich die erste Welt auf, so kommt auch die zweite in eine Krise. Die sogenannten Geisteswissenschaften sind irrelevant geworden. Kunst und Religion kämpfen verzweifelt um ihre Anerkennung. Es setzt ein allgemeiner Auflösungsprozeß ein, der sich zudem beschleunigt. Mit der Zivilisation geraten also auch ihre Ideale in die Kritik. Man müßte meinen – und manche demokratischen Kritiker sind dieser Meinung – daß die Ideale Hochkonjunktur bekommen, aber die Wirklichkeit sieht anders aus.

 

 

Die Zivilisation hat auf Scheinwelten ihrer Vorzeit zurückgegriffen. Sie hat diese in sich aufgenommen und daraus Kunst, Religion und Philosophie entwickelt. Das ursprünglich synkretische Bewußtsein differenzierte sich. Es gehörte zu den ersten geistigen Regungen des Menschen, daß er sich über die Dinge und über seine Gegenwart stellte. Der Mensch schuf sich ein kosmisches Bewußtsein. Er setzte sich ins Verhältnis zur ganzen Welt – Mensch versus Welt. Er polarisierte: die reale Welt und – die andere Idee, vor allem seine Schöpfung Gottes. War die Idee Gottes nicht der Spiegel, in welchem er sich selbst sah? Die Schaffung eines Bewußtseins von Gott, diese geistige Arbeit stand gleich am Anfang aller Menschwerdung. Der Mensch wollte sich Klarheit über sich selbst verschaffen. Über Gott kam der Mensch zur Selbsterkenntnis.

 

 

Mit der Überwindung der Zivilisation wird die Scheinwelt überflüssig. Es entwickelt sich eine geistige Krise ungewohnten Ausmaßes. Der Mensch erkennt, daß er nur dieses eine Leben hat. Diese Erkenntnis gibt ihm den größten Ansporn, ein erfülltes Leben zu führen, wohlbemerkt einen Ansporn, nicht die Gewißheit. Die Unerfülltheit läßt sich nicht durch ein Leben nach dem Tode kompensieren. Es ist die Realität, die ihn zwingt, die Realität zu verbessern. Es entwickelt sich eine neue Form von Kritik, die an dieser individuellen Lebensbegrenztheit gemessen wird. Diese Einsicht ist die Grundbedingung eines anderen Verhaltens untereinander.

 

 

Der Mensch hat daher kein Bedürfnis mehr nach einer transzendenten Welt, weil die Erfüllung seines Lebenssinns alle seine Kräfte beansprucht. Folglich gibt es keine Förderung mehr für diese Tätigkeiten. Die Zivilisation bleibt in der Hinsicht eine Phase interessanter menschlicher Entfaltung, die bei den Nachfolgenden Erstaunen über ihre Widersprüchlichkeit auslöst, denn Mord und Totschlag existierten neben Humanität, Frieden und Güte. Diese Widersprüchlichkeit ist nicht anders zu erklären, als daß mit der Maschinentechnik ein sein gesamtes Dasein prägendes, unvermeidliche Handlungsmodell zugrunde lag. Alle Erklärungen der menschlichen Widersprüchlichkeit aus den Eigenschaften a priori, sind Deutungen, die die Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge behindern.

 

 

Was müssen die alternativen Demokraten tun, wenn sie eine solche Änderung voraussagen?
Sind sie Feinde einer solchen geistigen anderen Welt? Das sind sie nicht, weil sie wissen, daß sie sowieso vergeht. Aber sie produzieren sie nicht. Das Anliegen ihres Wirkens liegt nicht auf diesem Gebiet, sondern in der Weckung der menschlichen Souveränität und der Neuausrichtung des Gegenstandes menschlicher Tätigkeit.

 

Der Mensch nutzt nicht nur seine Bewußtseinsformen in Richtung eines Umbruchs, sondern es entsteht auch eine neue Bewußtseinsform, analog des Umbruchs in die Zivilisation. Wir stellen heute fest, daß die Informationsfülle immer größer wird. Diese Fülle ist nicht mehr beherrschbar. An ihr kann also die Souveränität scheitern bzw. sie stößt an eine Grenze. Es besteht die Gefahr, daß der Mensch immer mehr zum Spezialisten wird und damit nicht mehr kommunizieren kann.

 

 

Dieser qualitative Bewußtseinswandel wird von manchen Kritikern nicht gesehen. Die grenzenlose Anhäufung ist ihres Erachtens nicht anders beherrschbar, als daß die Menschen in einer völligen Verschachtelung nebeneinander leben, ohne sich zu verstehen. Wo aber eine Verständigung nicht mehr möglich ist, ist auch eine gemeinsame Willensbildung nicht mehr möglich. Daraus ergibt sich, daß eine gemeinsame befreiende, harmonisierende Tätigkeit ausgeschlossen ist. Wir sehen in der funktionierenden Kommunikation eine Bedingung der Freiheit.

 

 

Das neue Bewußtsein verdichtet sich vor allem durch die ästhetische Komponente. Ansonsten müßte es zu einer Neuauflage der Herrschaftsgesellschaft kommen. Die Scheinwelt sicherte in gewissem Maße die Kommunikationsfähigkeit in der Zivilisations-Gesellschaft. Wenn aber die Scheinwelt verschwindet, muß die Kommunikationsfähigkeit in anderer Weise gesichert werden, indem eine neue Bewußtseinsform entsteht.