Der Staat im Zwielicht

 

 

4. Mai 2008 FP Deutschlands

 

von J. Hertrampf

 

 

Es ist ein Paradoxon sondergleichen, wenn in einem System, welches sich als freiheitlich-demokratische Ordnung bezeichnet, das Verhältnis zwischen Bürger und Staat völlig verfremdet ist. Man müsste meinen, dass in einem solchen System der Bürger einen freimütigen, lockeren Umgang mit dem Staat hat, da die Autorität beim Bürger und nicht beim Staat liegt. Stattdessen ist der Staat ein drohendes, unantastbares Ungetüm, dem der Bürger nach Möglichkeit ausweicht. Staat und Bürger beargwöhnen sich. Der Staat lauert dem Bürger auf und demütigt ihn. Im Gegenzug reizt es den Bürger, den Staat seine Verachtung spüren zu lassen. Es ist ein Katze und Maus Spiel zwischen beiden, in welchem beide Seiten die Rollen tauschen. Von gegenseitiger Sympathie ist keine Spur. Es leuchtet ein, dass ein Staat, der keine Unterstützung durch den Bürger erfährt, nur sehr aufwendig zu unterhalten ist. Und so braucht er, obwohl er hoch verschuldet ist und deshalb sparsam leben müsste, jedes des Jahr mehr Geld, um seine Ausgaben zu bestreiten.

 

 

Der Staat steht auf Distanz zum Bürger. Doch hinter der Förmlichkeit und Korrektheit, die er zur Schau trägt, spielt sich ein Treiben ab, das gar nicht diesem Schein entspricht. Ein besonders krasses Beispiel für solche Entgleisungen sind die mafiosen Affären in Sachsen, die von hohen Regierungsstellen vertuscht werden, weil sie selbst in diesem Morast stecken. Oder nehmen wir die kleinliche Vorteilshascherei von Biedenkopf, über die er gestürzt ist oder der gewissenlose Umgang von Milbradt mit der Sächsischen Landesbank, welcher zu seinem Rücktritt führte. Dieser negative Eindruck des Staates, hervorgerufen durch seine Funktionsträger und durch seine Funktionsmechanismen, hat beim Bürger zu einem verfestigten Pauschalurteil über den Staat geführt, das sich nicht mehr relativieren lässt. Der Stab ist gebrochen.

 

 

Der Staat will vom Bürger mehr Geld und der Bürger will vom Staat mehr Sicherheit und Ordnung. Darauf kann man die gegenseitigen Erwartungen reduzieren. Widerwillig erfüllt der Staat seine Pflichten. Eifrig macht er dagegen von seinen Recht, Steuern zu erheben, Gebrauch. Und so empfindet der Bürger einen ständig zunehmenden finanziellen Druck, ohne eine entsprechende Zunahme staatlicher Effizienz festzustellen. So sieht das Resultat staatlicher Reformen aus. Von Reformen im Sinne von Verbesserungen für Bürger und Gesellschaft kann nicht die Rede sein. Der Rückzug des Staates von seinen Verpflichtungen wird von ihm als Respekt vor der Mündigkeit des Bürgers bezeichnet, obwohl die Belastung des Bürgers zunimmt, weshalb der Bürger immer weniger in der Lage ist, sich als mündiger Bürger zu verhalten. Daher empfindet er diese Behauptung als Heuchelei. Nicht bloß, dass ihm etwas vorgegaukelt wird, sondern ihm wird der Grund für seine Unzufriedenheit noch in die Schuhe geschoben. Nicht der Staat, sondern der Bürger trägt nach dieser Lesart die Verantwortung, weil er sich ungenügend auf die neuen Bedingungen einzustellen weiß. Der Bürger ist schuld, wenn er die vom Staat bescheinigte Mündigkeit nicht richtig wahrnimmt. An dieser Stelle wird dem Bürger bewusst, dass der Staat nicht nur ineffizient ist, sondern auch unehrlich und gefährlich. Wozu braucht er einen Staat, der nichts Ordentliches mehr zustande bringt und ihn obendrein noch diskriminiert? Das fragt sich der Bürger und die Neoliberalen greifen diese Unzufriedenheit auf und fragen das auch, aber mit einem Hintergedanken. Für sie geht die Rücknahme des Staates nicht schnell genug.

 

 

Dabei darf man die Krise des Staates nicht lediglich aus der Unersättlichkeit der Herrschenden erklären. Infolge der schnell wachsenden Kommunikationstechnik und dem damit steigenden Bildungsniveau des Bürgers wird es für den Staat immer schwieriger, Herrschaftsinstrument zu sein. Der Aufwand für diese Funktion steigt rapide an. Mit anderen Worten, der technische Fortschritt bringt es unter den gegebenen Bedingungen mit sich, dass der Staat immer teuerer und ineffizienter wird. So gerät der Staat in eine Existenzkrise: der Bürger wächst ihm quasi über den Kopf. Diese Krise ist nur eine besondere Seite der allgemeinen Tatsache, dass auf Grund der technischen Revolution die Herrschaftsgesellschaft – und die Zivilisation ist eine Kette von Herrschaftsgesellschaften – überfällig wird. Die Verfremdung zwischen Bürger und Staat erreicht eine neue Dimension: der Staat unterdrückt nicht nur den Bürger, sondern, der Staat wird des Bürgers nicht mehr Herr. Er erhebt einen Anspruch, den er nicht mehr wahrnehmen kann, Herrschaftsinstrument zu sein. Diesen Vorgang spürt der Bürger. Damit ist das Ende dieses Staates absehbar, das nicht subjektiver, sondern objektiver Natur ist. Es liegt nicht am intellektuellen Vermögen der Politiker, sondern an der Krise des Systems, die sich mit dem technischen Fortschritt verschlimmert. Die Kritik an der Intelligenz der Politiker ist insofern berechtigt, dass sie sehenden Auges in den Untergang gehen, ja, diesen organisieren. Aber ihre heutigen materiellen Interessen sind eben stärker, als ihre Vernunft, falls sich diese bei ihnen unter den gegebenen Umständen überhaupt entwickeln kann.

 

 

Das Ordnungsdenken in der Gesellschaft verläuft in einer Richtung, vom Staat zum Bürger, von oben nach unten. Der Staat ist Träger einer Herr-Knecht-Ordnung. Herrschaft und Ordnung gehören zusammen, denn jede Herrschaft verlangt die Einhaltung einer gewissen Ordnung. Und umgekehrt, obwohl häufig nicht so bewertet, ist die Befolgung einer Ordnung auch Unterordnung. Die Gegensätzlichkeit von Herr und Knecht hat ihren Grund in der Gegensätzlichkeit von Natur- und Gesellschaftsordnung, nicht umgekehrt, so dass dieses Verhältnis selbst als ein widernatürliches bezeichnet werden muss und nur korrigiert werden kann durch die Korrektur des Naturverhältnisses. Die Gesellschaft in der Zivilisation ist, selbst da, wo es nur um die Beziehungen zwischen den Menschen geht, wider die Natur. Diese Gesellschaft bäumt sich gegen die Natur auf, was sie auf Grund der Technik muss, um dann, wenn sie an die Grenze der Unnatürlichkeit gerät, die natürliche Bedingtheit wieder anzuerkennen, aber eben reicher um den ganzen Wissens- und Erfahrungsschatz der Zivilisation. Der Mensch als mit Bewusstsein und Willen ausgestattetes Wesen vollzieht deutlicher als jede andere Erscheinung der Natur das Entwicklungsgesetz der Negation der Negation. Die Widernatürlichkeit der Zivilisation findet im gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismus ihren krassesten Ausdruck: in der Deformation des Menschen, der eigentlich dazu berufen ist, mit Hilfe seines Bewusstseins die Natur zu reproduzieren.

 

 

Das, was als Verschwendung des Staates verstanden wird, gehört in Wirklichkeit zu seinen Aufgaben. Was der Staat sich leistet, gesteht er anderen nicht zu. Niemand anders in der Gesellschaft darf es sich leisten, so verschwenderisch mit dem Geld umgehen, wie der Staat. Das jährliche Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler gibt darüber Auskunft, bis 30 Mrd. Euro pro Jahr, ohne dass deswegen jemand zur Verantwortung gezogen wird. Die Korruption hat gleichsam zivilisierte Formen, indem der Staat sich das Millionenheer der Beamten geschaffen hat, das diese Korruption in gesetzliche Bahnen lenkt. Es sind nicht die Unterschlagungen und Veruntreuungen außerhalb des gesetzlichen Rahmens, sondern es sind die legalen Geldflüsse, in denen sich vor allem die Veruntreuung äußert. Diese Beamtenschaft war auch früher nur Werkzeug des Staates, die ihre Handlungen in ein patriotisches Pflichtethos hüllte. Doch diese Zeit ist vorbei. Heute ist die Beamtenschaft eine feige, selbstsüchtige Truppe, die ihre Privilegien der Unkündbarkeit und der Versorgungssicherheit wohl zu schätzen weiß. Das Fehlen dieser ethischen Komponente destabilisiert den Staat. Das Beamtentum ist eine Funktionsbedingung des Unterdrückerstaates. Mit dem Beamtentum verfügt der Staat über eine soziale Basis, eine Wählerschaft der staatstragenden Parteien. Die Abschaffung des Beamtentums ist daher ein Schritt zur Demokratisierung des Staates. Sie ist zugleich ein sozialer Befreiungsakt, insofern sie die verpflichtende Bindung an den Unterdrückungsstaat auflöst und den Staatsverpflichteten das Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung gibt. Nicht die Beamten in ihrer Unterwürfigkeit und Seelenlosigkeit sind die geeigneten Organisatoren eines demokratischen Staates. Kein anderes Wesen in der Gesellschaft ist so deformiert wie der Staatsdiener, der sein Leben, zum Preis der physischen Absicherung seiner Existenz, in einen falschen Dienst gestellt hat.

 

 

Der Staat der Zivilisation ist Herrschaftsstaat auf allen Gebieten. Aber wo beginnt eigentlich der Staat? Der Staat beginnt dort, wo er nach seiner Bestimmung noch nicht hin gehört, in den Parlamenten. Die Parlamente als Gesetzesmacher gehören nicht zum Staat, sondern sind ihm unmittelbar übergeordnet. In dem sie die Gesetze machen, bestimmen sie, wie diese Maschine zu laufen hat. Schaut man sich aber die Tätigkeit der Parlamente an, so stellt man Ähnlichkeiten zur Arbeitsweise des Staates fest. Die Parlamente sind nicht Organe freier Willensbildung. In ihnen herrscht eine straffe Partei- und Fraktionsdisziplin, die völlig abgekoppelt vom Wählerwillen Entscheidungen zur Folge hat. Die Parlamentarier sind Ausführende von hinter ihnen stehenden Autoritäten. Der Wille zum Gesetz konstatiert sich außerhalb der Parlamente. In den Parlamenten wird er nur in den Guss staatlicher Anweisung gebracht. Die wichtigsten Lenkungsgrößen auf die Parlamentarier sind die Lobbyisten und die Parteien. Die Lobbyisten sorgen für die substantielle Ausrichtung und die Parteien für die praktische Organisation zur Umsetzung dieser Inhalte. Der bürgerliche Parlamentarismus ist die demokratisch verhüllte Diktatur von Oligarchen. Doch die parlamentarische Demokratie hat schon etwas Zwiespältiges an sich. Einerseits ist sie diese Diktatur, die sich des Geldes und der Medien bedient. Andererseits ist sie eben nicht blanke Diktatur, insofern sie den Bürger an die Wahlurnen lässt und er mit dem Stimmzettel die politische Herrschaft ausgestaltet. Damit enthält sie ein Moment, welches über die Diktatur hinausgeht. Sie enthält, vom Standpunkt der Oligarchen gesehen, das Risiko, der Entmachtung der Oligarchen, wenn nämlich aus irgendeinem Grunde die Manipulation des Wählers nicht richtig funktioniert. Der bürgerliche Parlamentarismus ist daher der Vorbote einer neuen Demokratie innerhalb der Herrschaftsgesellschaft. Das Volk als Souverän schiebt sich in den Vordergrund, ohne die Schwelle schon zu überschreiten. Der bürgerliche Parlamentarismus zeigt an, dass die Zeit des gesellschaftlichen Wandels näher gerückt ist. Je mehr nun die zivilisatorische Gesellschaft den technischen Fortschritt voranbringt, je mehr die Technik die Freiheit des Individuums begünstigt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Manipulation des Wählers immer schwieriger wird, bis sie nicht mehr gelingt und ein qualitativer Sprung einsetzt. Dass diese Wahrscheinlichkeit zunimmt, ist unvermeidlich. Gegen die Macht des Geldes und der Medien muss die Macht der eigenen Erfahrung des Bürgers gesetzt werden, damit es zu dieser Zerreißprobe kommt. Bei allem Einsatz von Geld und Medien wird letztlich die Macht der eigenen Erfahrung die Oberhand gewinnen. Für die Demokraten als die alternative Opposition kann es daher keine Bedenken geben, sich geradezu in die parlamentarische Demokratie zu stürzen, allerdings mit einem anderen Auftrag, indem sie ihren Auftrag nicht aus ihren Parteien und Fraktionen beziehen, sondern direkt von den Bürgern und darüber vor ihnen auch Rechenschaft ablegen. Die demokratischen Parlamentarier sind also nicht mit den Parlamentariern der Oligarchen zu vergleichen. Der wichtigste Unterschied ist, dass sie aus der Begegnung mit dem Bürger ihre Entscheidung im Parlament treffen, sich also nicht mehr durch Lobbyisten und Parteifunktionäre steuern lassen. Auch hier ist der Wandel nicht lediglich ein personeller Austausch, sondern eine andere Art der Mandatswahrnehmung. Das ganze Gerede, ob Partei Ja oder Partei Nein ist genauso substanzlos wie das Gerede, ob Staat Ja oder Staat Nein. Auf die Veränderung der Inhalte kommt es an. Rein äußerlich bestehen somit Ähnlichkeiten zum alten System, was bei oberflächlicher Betrachtung zu Missverständnissen führen kann.

 

 

Die anderen Parlamentarier verhalten sich wie Staatsdiener. Sie scheuen den Bürger, um sich nicht zwischen die Stühle zu setzen. Was ihnen als Gewissensentscheidung vorbehalten bleibt, verschleiert ihren unbedingten Gehorsam gegenüber den bestimmenden Interessen. Die Kämpfe, die sie ausfechten, sind Existenzkämpfe um ihre persönlichen Interessen, ohne jede Erhabenheit.

 

Im Wirken des Staates spiegelt sich die Art und Weise der Gesetzgebung wider. So wie Gesetze gemacht werden, so arbeitet der Staat, ohne die Mitwirkung der Menschen, deren Leben damit gesteuert wird. Und die Beteiligten sind aus dem Hinterhalt gesteuerte Werkzeuge. Parlament und Staat sind Vollstrecker einer Macht, die zu keinem Dialog bereit ist.

 

 

Organisation und Herrschaft sind ein Prozess. Dieser Charakter des Staates resultiert nicht aus menschlicher Willkür oder aus Unvermögen, sondern ist objektiv durch das technische Niveau menschlicher Tätigkeit bedingt. Das ändert nichts an der Tatsache, dass hinter seinem Wirken menschlicher Wille steckt, ohne menschlichen Willen das Ganze nicht wäre. Aber dass Menschen es wollen und dabei Erfolg haben, deutet darauf hin, dass die Bedingungen vorhanden sind, denn der Wille ohne entsprechende Bedingungen ist vergeblich. Diese objektive Bedingtheit menschlichen Erfolges ignorieren jene, die den Willen an die oberste Stelle rücken und damit den geschichtlichen Prozess mystifizieren. Ein anderer Staat als der Machtstaat ist in der Zivilisation nicht möglich. Der Charakter des Staates ist nicht zu ändern, ohne zugleich die Zivilisation zu verlassen. Aber es geht hier nicht so sehr um die objektive Voraussetzung für diesen Schritt, sondern, weil er von Menschen getan werden muss, um die Vorgehensweise. Der entscheidende Ansatzpunkt für die Änderung des Staates ist die Änderung des Gesetzgebers, denn der Gesetzgeber schafft sich seinen Staat. Nach welchem Willen wird das Ganze organisiert, nach dem Willen der Oligarchen oder nach dem Willen des Volkes?

 

Der Gesetzgeber im Herrschaftsstaat hat seine Instrumente: das Geld, die Lobbyisten und die Medien. Die Kritik an diesen Instrumenten führt zu keiner Änderung des Staates, höchstens zu einer Korrektur, wodurch das Problem in andere Form gebracht wird und weiter besteht. Die demokratische Staatskritik konzentriert sich dagegen auf die Gesetzgebung. Wer das Recht hat, Gesetze zu machen, nicht in seinem formellen Ablauf, sondern in seiner inhaltlichen Bestimmung, der entscheidet auch über das Werkzeug zur Ausführung. Die Staatskritik darf sich also gar nicht auf diese oder jene Seite des gegenwärtigen Wirkens des Staates richten, sondern sie muss sich auf die Grundlagen orientieren. Der neue Staat wird nicht von Fachleuten für staatliche Tätigkeit aus der Taufe gehoben, sondern von denen, die diesen Staat für ihr Leben brauchen. Die Fachleute sollen dabei herangezogen werden, aber sie entscheiden nicht über die Grundsätze. Die Änderung der Gesetzgebung bedeutet, die Souveränität des Volkes auf neue Weise zur Geltung zu bringen. Diese funktionierte in der Zivilisation auf dem Umweg des Herrschaftswillens. In ihm wurde die Souveränität des Volkes auf das unerlässliche Maß zurückgeschraubt, welches die Existenz der Gesellschaft brauchte und damit Herrschaft überhaupt ermöglichte. Der Herrschaftswille konnte sich zu keiner Zeit einfach über den Volkswillen hinwegsetzen, er musste ihm Rechnung tragen. Der praktische Herrschaftswille pendelt so zwischen dem Volksinteresse und dem eigenen Interesse.

 

 

Aber immer bedeutet das für das Volk einen Interessensverlust. Demokratische Staatsreform bedeutet dagegen, den Herrschaftswillen zu eliminieren und damit die Vermitteltheit des Volkswillens zu beseitigen. Diese Staatsreform führt nicht dazu, einen neuen Typus von Machtstaat aufzubauen, den Herrschaftsstaat des Volkes. Dieser Typus würde der Zivilisation angehören. Der demokratische Staat der Zukunft ist ein herrschaftsfreier Staat. Doch der Wechsel erfolgt in einer Übergangszeit, in einem Kräfteringen. Die demokratische Staatskritik muss in der direkten Demokratie ankommen. Sie ist der Gegenpol zu den Oligarchen. Die demokratische Kritik darf sich nicht auf die parlamentarischen oder die außerparlamentarischen Formen der Willensbekundung des Volkes beschränken. Direkte Demokratie umfasst beides, es geht um den höchstmöglichen Grad der Einflussnahme des Bürgers auf die Gesetzgebung, um die Identität zwischen Gesetz und Bürgerwillen. Das ist der Punkt, an dem die Kritik die Grenze der Zivilisation überschreitet, an dem die gesellschaftliche Erneuerung tatsächlich beginnt.

 

 

Wenn die Kritik nicht bis zu diesem Punkt vordringt, muss man sich fragen, wohin sie dann führt? Sie dreht sich im Kreise und muss von der demokratischen Kritik unterschieden werden. Die Staatskritik, die uns täglich begegnet, beruht auf den unmittelbaren Erfahrungen der Bürger. Es sind die Alltagserfahrungen auf dem Finanzamt, auf dem Arbeitsamt, bei Verkehrskontrollen usw., bei denen die Bürger in der Regel den Kürzeren ziehen. Staat und Bürger stehen sich feindlich gegenüber, aber in einem ungleichen Verhältnis. Der Staat erzwingt vom Bürger ein bestimmtes Verhalten, hinter jeder Richtungsanweisung steckt eine Drohung. Er sorgt dafür, dass er stets ein überlegenes Drohpotential besitzt, so dass dem Bürger eine Auflehnung von vornherein aussichtslos erscheint. Die Disziplin ist eine erzwungene Disziplin, so dass dem Bürger die Gesellschaft wie ein Gefängnis vorkommt. Auch die bürgerliche Demokratie erzeugt Untertanen. Freiheit der Individualität ist in einem Herrschaftsstaat, einem Polizeistaat, nur abgetrotzte Freiheit, nicht allgemein und massenhaft.

 

 

Der Bürger empfindet den Staat nicht als helfendes Organ, sondern als ihn beherrschende Gewalt. Das Gemeinwohl, welches der Staat als sein Ziel vorgibt, erlebt er als Beschneidung seiner persönlichen Freiheit, wodurch das Gemeinwohl ein erzwungener Zustand ist. Selbst zum Gemeinwohl steht er in einer verfremdeten Beziehung, weil es nicht seiner individuellen Eigenart entspricht. Gemeinwohl heißt nicht das individuelle Wohl in der Gemeinschaft, sondern das Wohl der Gemeinschaft an sich. Somit wird das Gemeinwohl zum öffentlichen Wohl, von dem das private Wohl deutlich unterschieden wird.

 

Das ihm anerzogene Rechtsbewusstsein ist in Wirklichkeit ein Untertanenbewusstsein, das ihm als Pflichtbewusstsein anerzogen wird. Die Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur als Vortäuschung einer Gleichstellung zu verstehen, mit der seinem aufkommenden Widerstand der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Das Ergebnis der Rechtsstaatlichkeit ist ein normatives System des Zwanges. Die sogenannte Bürgernähe verschleiert die Anonymität. Und die Anonymität wird ihm als Schutz seiner Persönlichkeit erklärt. Die Diskretion ist in Wirklichkeit eine Kontaktbarriere, ein Mittel seiner Vereinzelung. Auch erweckt der freundliche Beamte in ihm kein Vertrauen. Die Freundlichkeit ist nur die Form der leichteren Überwindung seiner Abneigung. Der Beamte setzt sich nicht wirklich für den Bürger ein, sondern er setzt sich nur für die Einhaltung der Vorschriften ein. Sobald die Vorschrift erfüllt ist, erlischt sein Interesse am Bürger.

 

 

Die daraus abgeleitet Staatskritik nennen wir empirisch-naiv. Sie ist fallbezogen. Ihre Verallgemeinerungen richten sich nicht gegen den Staat an sich. Die empirische Kritik ist letztendlich wirkungslos, weil sie sich nicht an die bestimmenden Kräfte des Staats richtet, sondern bei den ausführenden Organen stehen bleibt. Diese Kritik untergräbt die Stellung des Kritikers, weil er erkennen muss, dass er mit seiner Kritik nur die jeweilige Person trifft, die sich entsprechend des Buchstabens des Gesetzes verhält. Er erkennt, dass er seine Einzelkritik unzulässig verallgemeinert und damit überspannt. Eine so verallgemeinerte Kritik wird widerlegt und damit gegenstandslos. Sie beruht auf verletztem Einzelinteresse, bestenfalls Gruppeninteresse, aber auf jeden Fall partiellem Interesse. Die Staatskritik als personelle Kritik bringt keine Lösung, sondern nur andere Personen.

 

 

Eine andere von diesen beiden Formen der Staatskritik unterschiedene Kritik ist die oligarchische Kritik, bei der der Staat auch an sich betrachtet wird, also losgelöst von den prägenden Kräften. Man kann sie auch die Kritik des Finanzkapitals nennen, das sich durch staatliche Grenzen und Bestimmungen in seinem weltumspannenden Bewegungen behindert sieht. Mit der Forderung nach dem „schlanken Staat“ meint sie flexible Arbeitskräfte, offene Grenzen, minimale Steuern, freie Kapitalbewegung, keine Zölle und keine Auflagen für die Unternehmen. Diese vor allem von den Neoliberalen betriebene Kritik stößt sich an der staatlichen Sorgepflicht gegenüber dem Bürger, während dessen Kritik gerade sich an der staatlichen Rücksichtslosigkeit entzündet. Es sind also zwei völlig entgegengesetzte Standpunkte. Die Neoliberalen kritisieren am Staat nicht seine Bürgerfeindlichkeit, sondern seine angebliche Überflüssigkeit, obwohl sie seine Überflüssigkeit gern auch als bürgerfeindlich hinstellen, um sich den Unmut der Bürger zunutze zu machen. Wenn also der Staat sowieso schlecht ist, dann muss man ihn weiter zurückbauen oder verschlanken, wie sie sagen. Was von dieser Kritik zu halten ist, machte J. Ackermann, der Chef der Deutschen Bank, deutlich, der angesichts der Finanzkrise nach der helfenden Hand des Staates rief. Nicht nur er, sondern alle, die sonst abfällig über den Staat reden, nehmen gern die Steuergeschenke und staatlichen Subventionen entgegen und bürden dem Staat, letztlich dem Steuerzahler, damit die Kosten der „freien Marktwirtschaft“ auf. Daran wird deutlich, dass diese Kritik nur der zügellosen Bereicherung dient und dem Bürger ein gemeinsames Interesse vortäuscht. Die demokratische Kritik des Staates und die neoliberale sind also zwei verschiedene Schuhe. Ja, sie sind nicht nur verschieden, sondern gegensätzlich. Der Grund für diese Gegensätzlichkeit liegt darin, dass der Staat Herrschaftsmittel ist. Die demokratische Kritik will diese Funktion des Staates aus der Welt schaffen. Das liegt natürlich ganz und gar nicht im Sinne der olgarchischen Kritik, die den Staat als Herrschaftsmittel verteidigt, nur andere Methoden wünscht, die den veränderten finanz-technischen Möglichkeiten angepasster sind.

 

 

Bei der empirisch-naiven Kritik kommt sozialer Anspruch zur Geltung. Es handelt sich um die Kritik der Betroffenen. Der Staat ist nach ihrer Ansicht für die Bürger da und hat sich dementsprechend zu verhalten. Man möchte einen bürgerfreundlicheren Staat haben, was vom Wesen her nicht möglich ist. Die neoliberale Kritik fordert dagegen nicht mehr Bürgerfreundlichkeit, sondern mehr Handlungsfreiheit für die Oligarchen. Es ist das die Kritik der Gesetzgeber, die gern weitergehende Gesetze schaffen möchten. Beide Kritiken stehen sich feindlich gegenüber, obwohl sie beide sich unmittelbar gegen den Staat richten. Der Gegenstand der Kritik ist nicht gleich. Sie können kein Bündnis schließen, ja mehr noch, die empirische Kritik muss sich entschieden von der neoliberalen abgrenzen, denn die neoliberale Kritik führt zur Verschlim-merung des Zustandes, den die empirische Kritik angeht. Sie würde zur vollständigen sozialen Ohnmacht und zur vollständigen sozialen Aushöhlung des Staates führen.

 

Einzig die demokratische Kritik und die empirische Kritik können zusammengehen, denn in beiden Fällen geht es um das Interesse des Bürgers.

 

 

Die Forderungen nach einem Umbau des Staates können sich nicht auf „mehr“ oder „weniger“ Staat beschränken, sondern müssen die Frage beantworten, welche Rolle der Staat bei der Erneuerung Deutschlands spielen soll. Aus der Ablehnung des gegenwärtigen Staates kann man also nicht auf eine Beseitigung des Staates überhaupt schließen.

 

Der Umbau des Staates ist Vorbedingung und Bestandteil der Erneuerung und beginnt mit der Einführung der direkten Demokratie. Man kann das, was geschaffen werden soll, auch den direkten volkssouveränen Staat nennen.

 

 

Im Mittelpunkt einer solchen staatlichen Tätigkeit stehen:

 

 

– die Eigenverantwortung des Einzelnen. Wenn die Zukunft geprägt ist durch freie Individualität für jeden, dann steht der Staat vor der Aufgabe, in seinem ganzen Handeln den Bürger einzubeziehen und seine Individualisierung zu fördern. Individualisierung des Einen darf nicht zu Lasten des Anderen gehen, sondern muss diese zur Bedingung haben. Eine Individualisierung auf Kosten der Anderen wäre nur eine Vereinzelung. Aber das ist eben etwas anderes. Individualisierung ist eine neue Art von Gesellschaft, bei der Kreativität, Einmaligkeit und allseitige Informiertheit für jeden eine permanente Aufgabe sind. Dem Staat obliegt es nun, entsprechende Voraussetzungen zu schaffen.

 

 

– die natürliche Verantwortung des Menschen. Auch hier gilt es, Normen zu schaffen, die diese Verantwortung messbar machen und ihr damit die Beliebigkeit zu nehmen. Es ist der Gesellschaft nicht gleichgültig, in welchem Maße das neue Naturverhältnis geschaffen wird, da dieses der wichtigste Gradmesser dafür ist, inwieweit schon von einer neue Gesellschaft gesprochen werden kann. Dabei geht es um ein Bewertungssystem, dass aus gesellschaftlicher Kontrolle und aus Selbstkontrolle eines jeden einzelnen besteht. Nicht der äußere Druck, sondern die eigene Motivation ist am effektivsten. Das Bewertungssystem muss deshalb mit Anreizen und mit gesellschaftlicher Anerkennung verbunden sein. Die vielfältige Reproduktion der Natur muss unmittelbar für den Einzelnen nützlich sein.

 

 

– Die ganzheitliche Orientierung des Staates. Hierin drückt sich der Wegfall der repressiven Funktion des Staates aus, denn wenn der Staat für alles verantwortlich ist, dann kann er nichts bevorzugen und nichts unterdrücken.

 

Es ist eine nicht überzeugende Annahme, dass der Staat der Zukunft ein Fachleute-Staat, eine Kompetenzdemokratie wäre, in der Spezialisten für die einzelnen Fachgebiete entscheiden würden (J. Heinrichs). In einem solchen Staat wäre der Einzelne wieder Objekt. Er wäre auf einem Gebiet frei, selbstbestimmt und auf allen anderen unfrei, weil fremdbestimmt. Die ganzheitliche Orientierung des Staates ist der konkrete Weg der Rücknahme der repressiven Funktion des Staates. Sie ist das Prinzip der direkten Demokratie. Dieser Zusammenhang erscheint heute auf Grund der Arbeitsteilung nur schwer vorstellbar. Aber die Arbeitsteilung befindet sich in Abhängigkeit vom technischen Niveau.

 

 

Oder umgekehrt: die Ganzheitlichkeit und Universalität hängt von diesem ab. Und in der Möglichkeit steckt bei genauerem Hinsehen immer auch schon Notwendigkeit, die man nicht ignorieren darf, wenn man nicht dem Ganzen schaden will. Die heutige Arbeitslosigkeit eben nicht nur ein Makel, sondern auch ein Hemmnis, ein Subjektverlust für den Einzelnen und für alle an Universalität.

 

Die Anerkennung der freien Individualität als Grundsatz staatlicher Gestaltung ist ein Grundsatz, der nicht auf kommunale Selbstverwaltung beschränkt ist. Das Argument ist hier, dass die kommunalen Beziehungen vom Einzelnen noch überschaut werden können und somit seine Sachkenntnis gewährleistet ist. Dass das nicht zutrifft, zeigt sich schon heute, wo durch die hohe Informationsdichte der Einzelne im Vergleich zu früher eine hohe weltpolitische Sachkompetenz besitzt und bei Entscheidungen qualifiziert mitreden könnte. Die Informiertheit des Einzelnen nimmt also ständig zu. Das ist aber ein großes Plus, welches genutzt werden muss, wenn es nicht zu den bekannten Widerständen kommen soll infolge der Nichtnutzung. Wo Informationen nicht genutzt werden, entsteht ein Stau. Den Fehler von J. Heinrichs sehen wir darin, dass er die Weiterentwicklung des Staates und der Demokratie völlig abgekoppelt betrachtet von den technischen Voraussetzungen. Und das gilt auch für die romantischen Staatskritiker, die in der Kommune das freie Feld der demokratischen Mitgestaltung des Einzelnen sehen.

 

 

Die Reduzierung der Mitbestimmung auf die kommunale Selbstverwaltung ist eine unzulässige Einengung. Ihr entgeht nicht nur der wirkliche Grund für die Erneuerung der Demokratie, ihr entgeht dabei auch die Vielfalt der differenzierten der persönlichen Einflussnahme. Die freie Individualität wird durch die gesamte gesellschaftliche Hierarchie bedingt. Die jeweiligen Ebenen sind hierbei unterschiedlich beteiligt. Jede übermäßige Betonung einer Ebene würde die optimale Wirkung des Ganzen beeinträchtigen. So können z.B. die Kommunen nicht die Verantwortung für die Bildung tragen. Sie können nicht über deren Inhalte und Prozesse befinden. Die Bildung muss immer einer sehr allgemeinen Determination unterliegen, wobei die konkreten Umstände berücksichtigt werden müssen. Es gibt also Bereiche, bei denen die Idee der Selbstverwaltung größer und andere, bei denen sie kleiner bleiben muss. Das gilt auch für die Familie. Andernfalls würde die Selbstverwaltung zu einer Verengung des Freiraumes der Individuen führen, blieben bestimmte Eigenheiten unberücksichtigt. Würde die kommunale Selbstverwaltung absolut gesetzt, dann hätte das einen immensen Verlust an subjektiven Potenzen in der Gesellschaft zur Folge. Diese Gefahr ist schon jetzt in der Zuständigkeit der Länder für die Bildung gegeben. Das Niveau der Bildung muss von höherer Warte betrachtet werden und bestimmt sein, die Bildung selbst muss dagegen weitgehend individuell erfolgen. Freie Individualität ist eben nicht nur ein Anspruch an den Einzelnen, sondern auch eine Aufgabe der Gesellschaft. Je zentralistischer eine Gesellschaft organisiert ist, desto größer ist die Gefahr, dass dem Individuum Freiräume vorenthalten werden. Die gleiche Wirkung liegt vor bei Überbetonung der partikulären Ordnung, weil in diesem Fall das Individuum durch die konkreten Umstände eingeengt wird.

 

 

Obwohl diese Zusammenhänge längst bekannt sind, werden sie dennoch nicht genügend berücksichtigt, was auf den zivilisatorischen Charakter des Staates zurückzuführen ist. So liegt mit der EU ein vereinfachtes Gesellschaftskonzept vor, das auf die nationale Besonderheit keine Rücksicht nimmt. Indem aber die Völker über einen Kamm geschoren werden, wird das schöpferische Potential abgebaut, erfolgt das Suchen nach der Lösung nicht aus der nationalen Besonderheit heraus bzw. unter Wahrung der nationalen Besonderheit. Die Anerkennung des Nationalen führt direkt zur subjektiven Differenzierung der Völker, zu Lösungen, die der konkreten Situation adäquat sind. Wird dagegen im Nationalen nur eine Abweichung von der Norm gesehen, entseht eine Gleichartigkeit, die nicht optimal ist, weil spezifische Anpassungen unterbleiben. Damit steht diese Subjektauffassung im Widerspruch zu den technischen Möglichkeiten, die eine solche Differenzierung zulassen.

 

Es ist eine falsche Vorstellung, dass Technik zur Gleichartigkeit zwingt und damit zum Persönlichkeitsverlust. Nicht die Technik erzeugt den „eindimensionalen“ Menschen, sondern die Herrschaftsverhältnisse sind auf Uniformierung ausgerichtet. Die Uniformität hat ihre Ursache im Herrschaftsprinzip, welches sich bei uniformen Gestaltungen leichter durchsetzen lässt. Eine Uniformierung muss jedoch zu einer Aufladung von Widerständen führen, da immer mehr Möglichkeiten ungenutzt bleiben. Uniformierung hat schließlich nachlassende Produktivität zur Folge. Deshalb ist auch das Militärische überhaupt nicht als Vorlage für die Organisation von Gesellschaft geeignet, obwohl es kurzfristig starke Bewegungen ermöglicht. Die produktive Rückläufigkeit ist ein Symptom des Kräftestaus, denn ein Subjektschwund ist, insofern Technik genutzt wird, nicht möglich. Irgendwann bricht der gesellschaftliche Damm.

 

 

Die demokratische Version des staatskritischen Denkens hat gegenwärtig die Erneuerung der Gesellschaft im Auge und richtet sich vor allem gegen neoliberale Bestrebungen, die in der Hülle der Staatskritik ganz eigensüchtige herkömmliche Interessen verfolgen. Bei dieser Widerlegung darf man aber nicht stehen bleiben, sondern man muss sich mit der Umgestaltung des Staates befassen. Die EU ist also ein Hindernis für die Zukunft, indem sie uns von den eigentlichen Problemen ablenkt. Sie ist ein besonderer Fall des praktizierten Neoliberalismus. Die demokratische Kritik darf sich nicht mit der Widerlegung des Neoliberalismus verausgaben, sondern muss sich auf die Herausarbeitung der Grundzüge des neuen Staates und auf die Ansätze zur praktischen Umsetzung der Erkenntnisse orientieren. Volksstaat ist er insofern, als er stets die Gemeinschaft als Ganzes im Blick hat, bei Anerkennung der Vielfalt individueller Züge, nicht ihrer Unterordnung unter die Gemeinschaft. Er ist kein Zwangsstaat mehr. Das richtige Maß zu finden, gelingt nur mit Hilfe der direkten Demokratie.

 

 

Das Hauptproblem für das richtige Maß der Erneuerung ist die Kopplung zwischen dem Willen des Volkes und der Funktion des Staates. Wie drückt sich die Volkssouveränität aus, wie kommt sie zustande? Das ist die entscheidende Frage. Die Bezeichnung Volksstaat trifft dabei noch nicht den Kern, denn in diesem Begriff steckt immer noch die Vorstellung vom Einheitsstaat. Dieser Begriff ist noch geprägt durch den jetzigen Partikulärstaat, insofern das Gruppeninteresse auf das ganze Volk übertragen wird. Noch augenscheinlicher wird die Widersprüchlichkeit bei dem Begriff Volksherrschaft. Das Interesse der Gemeinschaft ist eben nicht die Erhaltung der Gemeinschaft an sich, sondern die Erhaltung einer in sich differenzierten Gemeinschaft. Der Staat der Zukunft ist darüber hinaus nicht nur der Staat des menschlichen Interesses, sondern auch des natürlichen Interesses, das von Menschen artikuliert wird. Der künftige Staat hat also mit der gleichen Stringenz, wie er menschliche Interessen sichert, auch die natürlichen Interessen zu sichern. Er ist auch Interessenvertreter der Natur. Die Wahrnehmung derer Interessen erfolgt durch den Menschen. Das setzt die Fähigkeit voraus, deren Interessen zu erkennen und als eigene zu vertreten. Das wird aber nur gelingen, wenn die Lebensweise des Menschen mit diesem neuen Inhalt angefüllt ist, so dass die Wahrnehmung von ihm nicht mehr als fremder Zweck erscheint.

 

 

Die Zwielichtigkeit des heutigen Staates ergibt sich aus dem Interesse, dem der Staat heute zu dienen hat und den objektiven Bedingungen, die schon einer anderen Interessenlage entsprechen. Die Zwielichtigkeit ist also nicht auf die subjektiven Schwächen der Staatsdiener zurückzuführen, sondern ist ein Symptom des kritischen Zustandes der Zivilisation, in der sich das Umdenken ankündigt.