Der mühsame Weg der Freiheit

Mit diesem Widerstand hatte die politische Oberschicht nicht gerechnet. Und dann noch als Montags-Demos. Daher herrschte zunächst helle Empörung bei den Politikern und den ehemaligen sogenannten Bürgerrechtlern aus DDR-Zeiten. Als dann einige rohe Eier in Richtung Bundeskanzler geworfen wurden, war die politische Kultur im Staat vollends in Gefahr und von den Demonstranten wurde mehr Sachlichkeit und konstruktiver Dialog gefordert, als wäre eine Demonstration eine Diskussionsveranstaltung. Nach internen Gesprächen mit Schröder bekannte sich schließlich DGB-Chef Sommer grundsätzlich zu Hartz IV. Und der Leipziger Pfarrer Christian Führer rief zum Friedensgebet in die Nikolaikirche. Gleichzeitig lehnte er es ab, an den Demonstrationen teilzunehmen. Von allen Seiten wurde Verständnis für die Ängste der Demonstranten geäußert, doch beruhten diese, nach Auffassung der Herrschenden, nur auf Missverständnissen, so dass die Demonstrationen eigentlich als überflüssig erschienen. Wer demnach weiter auf die Straße ging, war entweder ein von Linken oder Rechten Missbrauchter, denen es gar nicht um die Ängste und Sorgen der Menschen ging, sondern um den Sturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. So war die ganze offizielle Reaktion darauf ausgerichtet, den Protest herunterzuspielen und die Demonstranten zu verunsichern und zu kriminalisieren, die Demonstranten hätten Hartz IV nicht nur nicht begriffen, sondern wären in der Tendenz sogar verfassungsfeindlich. Der Vorwurf der CDU an die SPD war mangelnde handwerkliche Fertigkeit bei der Umsetzung von Hartz IV. Da aber das Gesetz beschlossen war, darin war sie sich mit der SPD einig, gäbe es nun kein Zurück mehr. Insgesamt also ein Gespinst aus Lügen, Heuchelei und Drohungen, welches über die Demonstrationen ausgebreitet wurde. Die Berichterstattung in den Medien wurde unterdessen auf kleine Flamme gedreht, direkt verfälscht wie hinsichtlich der Teilnehmerzahlen bzw. ganz unterlassen. Unbestreitbar bleibt jedoch, dass diese spontanen Proteste gegen Hartz IV und Agenda 2010 ein Ausdruck des sich wiederfindenden nationalen Selbstbewusstseins waren, das von nun an mit wachsendem Nachdruck in der innenpolitischen Auseinandersetzung eine Rolle spielen wird. Eines steht fest: Die ruhigen Zeiten sind damit in Deutschland vorbei.

 

 

 

Bis 1989 war das Deutsche Volk politisch weitgehend handlungsunfähig. Es gab zwar Aktionen, so in der alten BRD die Auflehnung gegen die Wiederaufrüstung, gegen den NATO-Doppelbeschluß sowie die Ostermarschbewegung und in der DDR vor allem die Ereignisse um den 17.Juni 1953 und die hoffnungsvollen Reaktionen auf freiheitliche Regungen in Ungarn, Polen und der Techechoslowakei, aber alles das blieb ohne wirkliche Erfolge. Anders das Aufbegehren der Mitteldeutschen im Herbst 1989. Diese Aktionen waren das erste große, selbstbewusste politische Auftreten von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, das von Erfolg gekrönt war, obwohl auch dieses nicht vom ganzen Volk getragen wurde. Insofern bildet das Jahr 1989 einen Wendepunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte: es war das Jahr der Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit. Dieses Wiedererwachen drückte sich aus in den Losungen „Wir sind das Volk“ und vor allem „Wir sind ein Volk“ und zeigte, dass trotz aller bisheriger ideologischer Beeinflussung eine nationale Rückbesinnung einsetzte, obwohl die herrschenden Kreise sofort  mit allen Mitteln dagegen ankämpften. Die ganze Nachwendepolitik war vor allem darauf ausgerichtet, mit politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Mitteln das gestaltende Handeln des Volkes zu unterdrücken. Die Wahlniederlage der CDU im Jahre 1998 deutete darauf hin, dass das politische Gefüge der BRD instabil wurde. Doch erst im Zusammenhang mit der Irak-Krise kam es wieder zu größeren selbständigen Aktionen. Mit den machtvollen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg setzte ein neuer nationaler Aufschwung ein, der die rotgrüne Bundesregierung zwang, auf eine direkte militärische Unterstützung der USA im Irak zu verzichten. Und nun schließlich mit den Montags-Demos ein erneutes Aufbegehren, diesmal mit der klaren Forderung nach einer innenpolitischen Kursänderung, mit einer weit über den nationalen Rahmen hinausreichenden Tragweite.

 

 

 

Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass alle Aktionen bis 1989 durch den Gegensatz Kapitalismus-Sozialismus beeinflusst wurden: die DDR schürte den Protest in der BRD und die BRD schürte den Protest in der DDR. Eine Diskussion der nationalen Frage außerhalb dieses Rahmens gab es nicht, weil die oppositionellen Kräfte selbst ideologisch vorgeprägt waren. Von den Herrschenden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wurde der Anspruch erhoben, alleiniger Sachwalter der Interessen des ganzen Deutschen Volkes zu sein. Nicht nur von den Herrschenden, sondern auch von den Oppositionellen wurde die Lösung der nationalen Frage nur kapitalistisch oder sozialistisch gesehen. Aber gerade dadurch war es unmöglich, die Aufgaben für eine Befreiung der schöpferischen Kräfte des Volkes als solche

 

richtig zu bestimmen. 

 

 

 

Dieses Fehlen eines eigenen Gesellschaftskonzepts war der eigentliche Grund für die tatsächliche Ohnmacht der Opposition, dafür, dass sie auf der Stelle trat. Das Widerspruchsdenken   Kapitalismus-Sozialismus war die größte geistige Barriere im zwanzigsten Jahrhundert. Diese ideologische Befangenheit können wir auch als Zivilisationstabu bezeichnen, denn beide Kritiken, die Kritik am Kapitalismus und die Kritik am Sozialismus, schmückten sich mit dem Etikett der Verteidigung der Zivilisation, forderten die Bewahrung der Zivilisation für das Volk. Sie lagen damit auf der gleichen Linie wie die Herrschenden, nur einige Grade menschlicher. Es ging ihnen um das menschliche Gesicht von Kapitalismus und Sozialismus. Was für den Kapitalismus die allgemeinen Menschenrechte sind, das waren für den Kommunismus die kommunistischen Ideale, die beide auch als Orientierung für die Opposition galten. Beide Zielstellungen verstanden sich nicht als jenseitig der Zivilisation, sondern als die Quintessenz der positiven Linien der Zivilisationsgeschichte. Der Kommunismus rechtfertigte sich als Vollendung der Zivilisation, als letztendlicher Sieg des Guten über das Böse. Die bürgerliche Ideologie verwies dagegen auf die sprudelnde Konsumgesellschaft, die nur von einigen Flecken verunziert wurde und war sich der Zustimmung der Menschen zur unmittelbaren Konsumbefriedigung gewiß. Noch heute fällt es vielen Westdeutschen schwer, die soziale Marktwirtschaft als ein Instrument in der damaligen politischen Auseinandersetzung zu verstehen, stattdessen erblicken sie in ihr eine zeitweilige Sinnfindung der Nachkriegsgesellschaft.

 

 

 

Von den Herrschenden wurden die allgemeinmenschlichen Ideale allerdings weniger als Regularien realer sozialer Zustände benötigt, als vielmehr zur Begründung äußerer Herrschaftsansprüche herangezogen. Nicht nur, dass diese beiden Wertsysteme soweit nicht auseinander lagen, sie waren beide Reflexionen aus der zivilisatorischen Praxis. Insofern waren es zwei konkurrierende Varianten einer Ideologie, mit großer Identität, ohne wirklich unterschiedlichen substantiellen Eigenwert und mit gleicher funktioneller Bestimmung, Herrschaftsmittel zu sein. Mit anderen Worten, es war letztlich der Streit darum, welche Seite die allgemeinmenschlichen Ideale besser verwirklichen könnte, ein Streit, dem die grundsätzliche Anerkennung und Verteidigung der Zivilisation zugrunde lag. Das war das Dilemma, dass also beide Seiten in Wirklichkeit das Gleiche propagierten und sich mit ihrer angeblichen Überlegenheit und Unfehlbarkeit gegenseitig abstützten. Das reicht in Deutschland bis in die Gegenwart im verschlagen-dreisten Auftreten des Außenministers Fischer. Aus dem Gesagten ergibt sich eine wichtige Schlußfolgerung deutscher Nachkriegsgeschichte, die man nicht oft genug wiederholen kann: Die Einzwängung des Volksprotestes in das Widerspruchs-Schema Kapitalismus-Sozialismus nahm ihm die Möglichkeit, sich zu einer gestaltenden Kraft deutscher Erneuerung zu wandeln.

 

 

 

Auch die sogenannte Wende des Jahres 1989 trägt den Makel ideologischer Befangenheit, denn sie war durch einen blanken Antikommunismus ausgerichtet, wodurch das geistige Klima geschaffen wurde, in dem die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verwüstungen ohne nennenswerten Widerstand ablaufen konnten. Die Wende 89 trug weder kapitalismuskritische Züge, noch war sie zivilisationskritisch. Damit verblieb sie in ihrer Grundbestimmung auf dem Boden aller bisherigen Protestbewegungen. Dennoch war sie - und das ist hervorzuheben -, die erste erfolgreiche Aktion gegen die von den Siegermächten des Zweitens Weltkriegs installierte deutsche Zweistaatlichkeit. Sie machte dieser Zweistaatlichkeit ein Ende, die ja nicht nur eine äußerliche Teilung war, sondern auch das Volk spaltete. Das Besondere war nicht, dass die DDR als Unrechtsstaat verschwand, denn die BRD ist vom geschichtlichen Standpunkt ebenso ein Unrechtsstaat, weil sie nur eine Installation der Westmächte ist, sondern das Besondere ist, dass der Zustand der Zweistaatlichkeit beseitigt wurde und damit eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen wurde, dass das Deutsche Volk als politisches Subjekt wieder in die Geschichte eintritt. Das Übel der Zweistaatlichkeit war nun mit der „Wende“ aus der Welt geschaffen. Das kam auch ganz bewusst in den bekannten Losungen zum Ausdruck. Unter diesem Gesichtspunkt ist es gerechtfertigt, von einer Zäsur zu sprechen, was auch durchaus von den Gegnern Deutschlands so empfunden wurde, einschließlich ihrer deutschen Helfershelfer, denn diese unternahmen sogleich alles, dem Ereignis von 1989 den nationalen Nerv zu nehmen. Bei aller Zwiespältigkeit und bei allem fehlenden neuen Inhalt ist dieses Ereignis jedoch für die gesamte weitere Gestaltung deutscher Zukunft von allergrößter Bedeutung. Die Überwindung der Zweistaatlichkeit war die entscheidende Vorbedingung zur Wiedererlangung der vollen Handlungsfähigkeit der Deutschen.

 

 

 

Mit dem Jahr 1989 erhielt der nationale Befreiungskampf einen neuen Charakter, von nun an konnte und musste er in reiner Form, also ohne ideologische Verbrämung, geführt werden. Von nun an müssen Aktionen als gesamtnationale Aktionen begriffen und organisiert werden, über alle Schichtengrenzen hinweg und vor allem über die nachwirkenden Ost-West-Denken hinweg. Es ist bemerkenswert, wie dieser Graben von den Systemverfechtern immer wieder aufgerissen wird. Hingewiesen wird hier auf die Äußerungen von Bundespräsident H. Köhler über die Fortdauer der Unterschiede zwischen Ost und West. Nur Aufgaben und Zielstellungen mit einer solchen gesamtnationalen Bedeutung sind von aktueller Relevanz. Diesem Gesichtspunkt tragen die Proteste gegen die Agenda 2010 Rechnung, indem sie immer mehr auf die alten Bundesländern übergreifen. Solche gesamtnationalen Bewegungen überwinden die Spaltung des Volkes und tragen zur Festigung des nationalen Selbstbewusstseins bei.

 

 

 

Das Deutsche Volk lebt heute in einem deutschen Staat, tritt aber noch nicht in ganzer Größe  als geschichtsbildendes Subjekt auf. Die Einstaatlichkeit führt nicht automatisch zur Rückgewinnung der Subjektfähigkeit. Das Wichtigste, was ihm heute fehlt, ist ein mobilisierendes Zukunftsbewusstsein, denn ein Volk, das nicht weiß, wo seine Zukunft liegt, wird richtungs- und kraftlos zugleich sein. Als allgemeine Orientierung kann gelten, zum einen in den vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen das Herrschaftsprinzip aufzuspüren und alternative Lösungen auszuarbeiten und zum anderen sich auf das Verständnis und die Aneignung der Naturzusammenhänge zu konzentrieren. Alles, was dem Abbau von Herrschaft und der Hinwendung zur Natur dient, führt uns in die Zukunft. Die so gerichtete Wandlung des Staates - und im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Reformen muß die staatspolitische Reform stehen, weil für bewusstes Handeln des Volkes die staatliche Tätigkeit eine überragende Bedeutung hat -  ist der springende Punkt des Erfolges. Mit dieser Maxime haben wir eine Denk- und Handlungsrichtung und es bleiben noch genügend Schwierigkeiten, das jeweilig Konkret-Maßvolle herauszufinden. Alles Tun muß zehnmal durchdacht werden. Alles Handeln muß ein geistig-praktischer Prozeß sein, der sich unter den Augen der Öffentlichkeit vollzieht und  öffentlich bewertet wird. Das öffentliche Urteil ist nicht formeller demokratischer Ritus, sondern die Form, das Notwendige richtig zu tun. Die Folgenerkennung und Folgenbewertung alles unseres Handelns wird ein Hauptfeld geistiger Tätigkeit sein.

 

 

 

In dieser Neuorientierung liegt die politische Brisanz. Der Protest ohne diese Orientierung ist blind und gefährlich. Mit den gesamtnationalen Protesten gegen die Agenda 2010 wurde eine neue politische Dimension möglich, wenn nun die Bewegung sich auf neue Inhalte richtet. Es ist nicht einfach politischer Protest, sondern die Hinwendung vom Protest zur Idee einer alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Erneuerung, die über den weiteren Erfolg entscheidet. Die tiefste Umwälzung in der Geschichte unseres Volkes liegt vor uns, eine Umwälzung, die größte Leidenschaft und Willensstärke verlangt. Der Zeitpunkt ist gekommen, wo der

 

Fortbestand des Ganzen der alleinige Zweck des Einzelnen sein muß, wo unsere gedankliche Freiheit in dem Maße zur tatsächlichen Freiheit wird, wie wir selbstlos handeln.

 

 

 

 

 

                                                                                          Johannes Hertrampf    2014