Den Faden der Geschichte wieder aufnehmen

 

 

 

 

Als Anfang Februar 2005 die Arbeitslosenzahl offiziell mit über fünf Millionen angegeben wurde und die akademischen Klopffechter des Systems locker noch zwei Millionen draufschlugen, war das nicht nur das Eingeständnis, dass die höchste Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht wurde, sondern in der deutschen Geschichte überhaupt. Denn jeder kritische Beobachter weiß, dass auf diese Zahl von sieben Millionen noch jene dazu kommen, die schon längst in all den Jahren aussortiert wurden.

 

 

 

Angesichts dieser gesellschaftliche Misere taucht immer öfter die Frage auf, ob Deutschland damit erneut vor dem Ende der Demokratie steht. Ansonsten kaum beachtet, erinnert man sich jetzt wieder der „Weimarer Zeit“ bzw. der „Weimarer Republik“, welche allerdings ganz und gar nicht weimarisch-provinziell war. Das Deutsche Reich als Republik war alles andere als eine schöngeistige Idylle, es war der erste Versuch einer praktischen Lösung gesellschaftlicher Erneuerung, dem das Erlebnis des ersten europäischen Völkermordens im Zwanzigsten Jahrhundert und die tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit einer neuen Ordnung zugrunde lag. Wenn diese Zeit bisher nicht die ihr gebührende Anerkennung fand, sondern nach wie vor klein geredet wird, dann hat das einen anderen Grund als den, dass sie kein guter Wurf war, weil ihr ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte folgte. Wer sich heute diese Jahre vor Augen führt, der spürt, das war mehr als ein politischer Machtwechsel von der Monarchie zur Republik, das war auch keine Übertragung einer anderen Demokratie, das war eine eigene deutsche Leistung, ein Schritt in gesellschaftliches Neuland, erbittert bekämpft von rechts und links und misstrauisch verfolgt von den westlichen Kriegsgegnern.

 

 

 

Schon vor dem Ersten Weltkrieg kündigten sich in Deutschland und Europa in Wissenschaft, Kunst und Technik, in der Lebensweise und in der Einstellung zur Natur Veränderungen an, die nun in den zwanziger Jahren einen Aufschwung erlebten, eben begünstigt durch die neuen freiheitlich-demokratischen Verhältnisse. Deutschland wurde von einer allgemeinen Aufbruchstimmung erfasst. Besonders heftig wurden die Auseinandersetzungen auf politischem Gebiet geführt. Angesichts der allgemeinen Unruhe und des schöpferischen Suchens ist die Frage durchaus berechtigt, ob überhaupt ein Vergleich mit der heutigen Situation in der Bundesrepublik zulässig ist. Ein solcher Vergleich ist höchstens insofern berechtigt, als die tieferen Ursachen der Konflikte von damals auch die tieferen Ursachen der Konflikte von heute sind: der Widerspruch zwischen den geistig-kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen auf der einen Seite und den nach Entfaltung drängenden schöpferischen Energien des Volkes auf der anderen Seite. Dieser Widerspruch wurde damals und seitdem nicht gelöst.

 

 

 

Im Unterschied zur ersten Republik ist die Bundesrepublik ein Produkt der westlichen Alliierten und in allen wichtigen Belangen bestimmt von deren Willen. Haben diese nach dem Ersten Weltkrieg das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nur stark beschnitten, so haben sie ihm nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Recht abgesprochen. Beide Male wurde dem Deutschen Volk die alleinige Kriegsschuld aufgebürdet. Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten sie außerdem mit dem Scheitern des republikanischen Reiches und dem sich daran anschließenden nationalsozialistischen System, begründeten sie mit der Unfähigkeit der Deutschen, ein vernünftiges, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Unter diesem Vorwand nahmen sie die Deutschen an die kurze Leine und gaben ihnen einen Vasallenstatus, schlimmer als das, was Napoleon seinerzeit getan hatte oder was die Römer vor zweitausend Jahren mit den Germanen vor hatten. Darin waren sich die großen Sieger des Zweiten Weltkrieges, die Sowjetunion und die USA einig.

 

 

 

Damals in den zwanziger Jahren gab es wohl keinen Bereich, der nicht von Reformideen angesteckt wurde, die in ihrer Folgerichtigkeit zu einer neuen Lebensordnung  geführt hätten. Deutschland als europäische Zentralmacht war in Bewegung geraten. Dieser Geist der Erneuerung, diese Zukunftsgewissheit war auch ein starker Antrieb der nationalsozialistischen Bewegung, war der Grund für ihren dynamischen Schwung und die alle Schichten des Volkes erfassende Begeisterung. Der Unterschied zwischen damals und heute besteht darin, dass mit dem Zusammenbruch des republikanischen Reiches das Deutsche Volk eine Errungenschaft verlor, weil ein Vorstoß ins Neuland verloren ging, während der Zusammenbruch heute die Befreiung von einer Fremdbestimmung ist, die den Weg in die Zukunft erst frei machen wird. Der Zusammenbruch des republikanischen Reiches war ein Abbruch einer gesellschaftlichen Neuorientierung, dessen eigentliche Gründe verschleiert werden. Es ist völlig absurd, von einem „Mangel an Demokraten“(Hans Vorländer) zu sprechen. War nicht gerade der Wandel von der Monarchie zur Republik mit ihrer hervorragenden Reichsverfassung ein Ausdruck eines starken demokratischen Volksempfindens? Mit dieser Schuldzuweisung wird von der in dem Zusammenhang entscheidenden Tatsache abgelenkt, dass ein Volk - „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“(Schiller) - in einer übermächtigen feindseligen Umwelt sich nicht erneuern kann.

 

 

 

1. Die Kriegsgegner ließen Deutschland nicht zur Besinnung kommen, indem sie es mit unverschämten materiellen Belastungen und Schuldvorwürfen demütigten, was in allen Schichten auf einmütige Ablehnung stieß. Die Abwehr dieser materiellen und geistigen Bedrückungen raubte dem Volke enorme Kräfte, die es für sein Aufbauwerk dringend benötigte. Hinzu kam das ständige Schüren von Konflikten an der West- und Ostgrenze des Reiches.

 

 

 

2. Das Deutsche Volk war auf die große Aufgabe, vor der es nun gleichsam über Nacht stand, nicht vorbereitet. Die materielle und geistige Not erzeugte einen hohen Erwartungsdruck. Aus der Situation heraus, unter den Wirrungen der verschiedensten Ansichten, musste entschieden werden. Es gab keinen geistigen Vorlauf, keine Erfahrungen, es gab nur eine Ahnung von der Richtung, so dass jene, die vorgaben, die Lösung in der Tasche zu haben, hoch im Kurs standen. Die national-sozialistischen und die international-sozialistischen Fanatiker strebten in ihrem blinden Wahn eine schnelle, radikale Lösung an und verhinderten eine besonnene Politikentscheidung.

 

 

 

3. Dieses Dilemma wurde verschärft durch die Bereitschaft, die Meinungsverschiedenheiten auf der Straße und in Saalschlachten auszutragen. Die ausgeprägte Gewaltbereitschaft war offensichtlich eine Folge der durch den Krieg bedingten Verrohung der Umgangsformen. Sie war und ist tödlich für eine jede Demokratie. Man hielt damals noch Krieg und Revolution für geeignete Mittel. Es hatte sich noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass nur demokratische Reformen erfolgversprechend sind. Stattdessen führten die Deutschen, gespalten in zwei große Lager, unter falschen Fahnen, den wohl schlimmsten Bürgerkrieg ihrer ganzen Geschichte, mit größter Erbitterung, leidenschaftlich radikal, aber in der Mehrheit beseelt von dem Vorsatz, dass dieses letzte Gefecht unvermeidlich und der Erfolg schon greifbar nahe sei. Das war ein ungeheurer Trugschluss.

 

 

 

Insgesamt waren die subjektiven und objektiven, die äußeren und die inneren Bedingungen also denkbar ungünstig, weshalb der Versuch, die große gesellschaftliche Wende zu vollziehen, nicht gelang. Das Scheitern dieses Anlaufs kann nicht allein und vor allem nicht in erster Linie als Versagen der Deutschen hingestellt werden. Es war nicht einfacher Deutschenhass, sondern es war die Angst, ein deutscher Ausweg würde die Völker Europas beflügeln, weshalb die Großmächte Deutschland nicht aus den Augen ließen und durch ihre permanente Einmischung eine Konsolidierung Deutschlands hintertrieben. Diese Republik war ihnen wohl ein größerer Dorn im Auge als die nachfolgende Diktatur. Der Untergang dieser Republik - der bisher einzigen, die diesen Begriff verdient, weil sie aus einer Volksbewegung hervor gegangen war - erfüllt heutige Demokraten mit Trauer, auch im Bewusstsein dessen, dass er der Anfang der folgenden großen Tragödie war, mit all den Leiden für die anderen Völker und das Deutsche Volk selbst. Was danach kam, war eben nicht die Konsequenz der Republik, sondern ein Nichteinhalten dieser Konsequenz. Es ist falsch, sie in die Linie der nachfolgenden Zeit zu stellen. Damit wird nur der Zweck verfolgt, den Weg nach 1945 zu rechtfertigen. Aber Trauer ist zu wenig. Ohne Irrtümer wüssten wir nicht, was unbedingt vermieden werden muss. Den Bürgerkrieg vermeiden, ist das eine, und die Isolation nach außen nicht zulassen, das andere, denn das Ringen um die Erneuerung Deutschlands ist aufs engste mit den europäischen und internationalen Bewegungen verbunden.

 

 

 

Die allgemeine Bewegungsursache von damals wirkt also heute noch. Auch die Gründe für das Scheitern der Republik gelten heute wieder, zugleich muss man anerkennen, dass die heutige Situation gegenüber der damaligen sehr verschieden ist. Die auslösende Krise folgte damals direkt der militärischen Niederlage. Deutschland war nicht besetzt, die Deutschen mussten eigenverantwortlich handeln. Infolge der Besetzung nach dem Zweiten Weltkrieg bestand dieser nationale Handlungszwang nicht. Die Deutschen „brauchten“ nicht zu handeln, weil die Siegermächte die Vormundschaft übernahmen. In diesen Jahren wurden aber ideologische, politische und kulturelle Bedingungen geschaffen, die ein selbständiges Handeln der Deutschen nicht nur erschweren, sondern unmöglich machen sollen. Die Spaltung des Volkes in zwei feindliche Lager in der ersten Deutschen Republik wiederholte sich in der Spaltung des Volkes in zwei feindliche Staaten nach dem zweiten Weltkrieg. Diese staatliche Spaltung und die intensive ideologische Manipulation überdeckten jahrzehntelang die Notwendigkeit der nationalen Erneuerung. Nach dem Wegfall dieser Spaltung trat denn auch diese Notwendigkeit von Jahr zu Jahr stärker in den Vordergrund, bis hin eben zu der heutigen Krisensituation.

 

 

 

Das heutige Dilemma, das eine nationale Erneuerung objektiv auf die Tagesordnung setzt, tritt im Vergleich zu damals also um fünfzig Jahre zeitversetzt auf. Doch der markanteste Unterschied zu damals besteht darin, dass keine zwei rivalisierenden, den Bürgerkrieg nährenden Ideologien das Volk spalten. Zwar werden aus verschiedenen Seiten derartige Versuche unternommen – es gibt sowohl linke als auch rechte Vertreter, die den Sozialismus als Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaft bezeichnen, aber sie können damit im Volk nicht mehr Fuß fassen. Es gibt heute nicht nur kein massenwirksames wahres Erneuerungsbewusstsein, es gibt heute auch keine massenwirksame falsche Ideologie mehr, für deren Umsetzung die Massen bereit wären zu kämpfen, was allerdings von manchen oppositionellen Politikern moniert wird. Das Volk ist heute in gewisser Weise immun gegen solche Ideologisierungsversuche. Seine Erfahrungen aus dem vergangenen Jahrhundert haben starke innere Abwehrkräfte erzeugt. Nun ist das zwar nicht ausreichend, aber es ist ein wichtiger Prüfstein politischer Absichtserklärungen. Die Mobilisierung für die Zukunft kann und darf sich nicht mehr auf Ideologien, auf Zukunftsversprechungen stützen, sondern auf einen ausgeprägten starken Realitätssinn. Was der Prüfung auf Nützlichkeit in der Gegenwart nicht standhält, verdient keine Anerkennung und soll durch das Rost fallen. Das Ziel liegt in der Gegenwart! Das erzeugt eine positive Kontinuität. Wenn das  Ziel immer in der Gegenwart liegt, dann kommt es zu keinen Geschichtsbrüchen, dann ergibt sich der eine Schritt aus dem anderen. Wo etwas unterlassen wird, da nistet sich der Irrtum ein. Richtig ist das gegenwärtige Ziel nur dann bestimmt, wenn es mit  Voraussicht gestellt wird, mit seien Folgewirkungen. Das Ziel liegt im Heute und Hier. Und genau davor werden jene, die Herren sein wollen, sich hüten.

 

 

 

Selbstbestimmung und Erneuerung stehen zueinander im Verhältnis wie Mittel und Zweck. Wer heute ernsthaft die deutsche Erneuerung anstrebt, der muss das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung des Volkes voran bringen. Ohne diese ist die Erneuerung nur eine Phrase, werden durch angebliche Reformen die Probleme nicht kleiner, sondern größer. Und er sollte sich fragen, wo der Punkt liegt, ab dem die Selbstbestimmung, auch wenn sie unvollkommen war, abgebrochen wurde. Das war Punkt, an dem die „Weimarer“ Republik aufhört zu existieren, denn die nationalsozialistische Diktatur war nicht eine Form der staatlichen Selbstbestimmung des deutschen Volkes. Doch auch nach der Niederlage 1945 wurde der Faden deutscher Geschichte nicht wieder aufgenommen. Es war nie so recht klar, woran die danach folgenden beiden deutschen Staaten anknüpften. Bei aller Unterschiedlichkeit der Begründungen, an „Weimar’“ knüpften sie beide nicht an, was auf ihr Vasallendasein zurückzuführen ist. So kommen wir also zu dem Ergebnis: an das, was auf deutschem Boden seit neunzehnhundertdreiunddreißig an politischen Systemen existierte, kann die Erneuerung nicht anknüpfen. Die Diktatur war ein schmerzlicher Irrweg und danach folgten nicht aus eigenem Antrieb entstandene Konstruktionen. „Weimar“ war ein nationales Werk, unfertig und brutal beendet. So wie der Einzelne einen Irrweg zurück verfolgt, um den Fehltritt zu finden, so müssen die Kräfte der Erneuerung die Bruchstelle bestimmen und den Faden der Geschichte von dort an neu aufnehmen, wo die Deutschen von ihrem Wege abgekommen sind.

 

 

 

Es ist befremdlich, wie heute noch alle Parteien und Strömungen widerwillig auf jene erste und bisher einzige aus eigener Kraft entstandene Republik herabschauen und damit das Unverständnis von damals fortsetzen - von ganz links bis ganz rechts. Positiv können sie ihr nichts abgewinnen. Für sie ist diese Zeit nicht mehr als ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen soll, ohne selbst die richtige Lösung gefunden zu haben. Sie alle bekennen sich nicht zu dieser Republik, zu dieser großen Leistung gleich zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Sie zeigen auf die Schwächen und übersehen, was in dieser Zeit positiv geleistet wurde. Ja, sie analysieren noch nicht einmal gründlich, warum sie gescheitert ist. Sie haben nicht den Mut, sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen, denn damit würden sie ihre eigene Bedeutungslosigkeit aufdecken. Wer dagegen diese Republik als den hoffnungsvollen Aufbruch des Deutschen Volkes in eine neue Zeit versteht, für den steht fest: Die wichtigste Bruchstelle war das Ende des Deutschen Reiches als Republik, denn mit ihrem Scheitern wurde der Beginn der deutschen Erneuerung unterbrochen.

 

 

 

J. Hertrampf (14. Februar 2005)