Das Ende der Parteien

 

 

Die Politik der Bundesregierung und des Bundestages hat bei der Mehrheit der Deutschen keinen Rückhalt. SPIEGEL-Online berichtete am 26.04.2015 über eine vom „Spiegel“ in Auftrag gegebene Umfrage. Das Ergebnis gibt Einblick in die Stimmungslage in der BRD. 80 Prozent der Befragten waren der Ansicht, „dass ihre gewählten Politiker in der Regel nicht genug tun, um sich über ihre Sorgen und Interessen zu informieren.“ Auf den Punkt gebracht: Die überwältigende Mehrheit der Befragten fühlt sich von den Politikern übergangen. Ihre Wege haben sich getrennt. Das ist die Quintessenz. 

 

 

 

Doch das Desinteresse ist gefährlich, denn die Politiker greifen tief in das Leben eines jeden Menschen ein, ja, sie geben dem Leben des Volkes grundlegende Wendungen. Wie sollte man sich da gleichgültig verhalten? Bei Lichte besehen ist es auch keine wirkliche Gleichgültigkeit, sondern es ist eine ängstliche Form der Ablehnung, die sich den Anschein der Gleichgültigkeit gibt. Es ist die stille Hoffnung, daß sich die schlimmen Dinge, von denen täglich die Medien berichten, von selbst erledigen. Das aber ist eine trügerische Hoffnung, denn die schlimmen Dinge werden ja nicht weniger. Sicher ist dagegen, daß der Preis für ihr Gewährenlassen ständig in die Höhe geht. Die Politiker haben deshalb auch schon Vorsorge getroffen. Sie haben nämlich den Begriff der Politikverdrossenheit erfunden, mit dem sie vorsorglich festlegen, wer die Verantwortung trägt und wer die Rechnung zu bezahlen hat. Wenn die Demokratie schlecht funktioniert, sind  nicht sie schuld, sondern der Bürger. Also soll er sich später nicht beschweren. Ganz unrecht haben sie damit nicht, weil der Bürger es duldet, daß die Politiker ihn nicht respektieren. Den ganzen Tag über stehen sie im Mittelpunkt der Medien. Bis zum Überdruß wird der Bürger mit Informationen zugeschüttet, die ihm zu verstehen geben, wie die Rollen verteilt sind, wer oben und wer unten steht. Und das seit Menschengeden-ken, weshalb es so scheint, als sei dieses  Verhältnis ein Naturgesetz. Kein Wunder, daß der Souverän sich unsicher ist, ob er überhaupt Souverän ist.

 

 

 

Immer gab es in der Geschichte Zeiten, in denen der Souverän sich mit seinem Schicksal nicht abfand. So auch heute. Diesmal nicht aus spontaner Empörung, sondern aus der Ahnung nach einem endgültigen Schlußstrich, was die Politiker verunsichert. Bisher war der Kampf um die Macht ein Kampf gegen einen Konkurrenten. Diesmal meldet sich der Souverän direkt zu Wort, ohne wortführende Partei, mit dem Verlangen nach Abschaffung der Macht als Mittel der Politik.

 

 

 

Die Demokratie als Herrschaftsform ist die Zeit der großen Winkelzüge. Die Politiker ermuntern den Bürger, sich in die Politik einzubringen, z.B. zur Wahl zu gehen und äußern ihr Bestürzung über eine Wahlbetei-ligung von 50%, wie kürzlich in Bremen. „Politik ist ein schmutziges Geschäft?“ Selbst das weisen sie nicht von sich. Aber jemand muß sich ja darum kümmern. Also sollte der Bürger dankbar sein, wenn sie sich dafür hergeben. Zumal sie etwas von der Materie verstehen, von der der Normalverbraucher keine Ahnung hat. Folglich: Seid ruhig ihr Meckerer, es könnte schlimmer kommen. Und da schluckt der Bürger, in der Hoffnung, daß es nicht schlimmer kommt.

 

 

 

Betrachten wir Deutschland im Zwanzigsten Jahrhundert, so stellen wir fest, daß die Parteien die Hauptrolle beim Zusammenbruch der Systeme spielten. Sie haben ihre politischen Vorstellungen ins Volk getragen, mit Schmeicheleien und Drohungen, mit Verstand und Herz und haben mit allen Registern bis zum Äußersten um Gefolgschaft gerungen. Jede war zutiefst von der Alternativlosigkeit ihrer Vorstellung überzeugt. Jede warb mit messianischem Sendungsbewußtsein. Nicht die praktische Vernunft war der treibende Zweck, sondern eine hohe Idee, wie eine Monstranz vorangetragen, aus der die irdische Seligkeit vorausgesagt wurde, eine  Gesellschaft des Wahren, Guten und Schönen. Und da jede Partei ihren eigenen Weg anpries, entstand eine heillose Verwirrung. Der Bürger wußte nicht mehr, was gehauen und gestochen war und vertraute sich dem an, der ihm am geschicktesten seine Wünsche vom Mund ablas und Entschlossenheit zum Handeln demonstrierte. In solch einer verwirrten Zeit wußte der Bürger nicht, ob er richtig entscheidet, er hoffte darauf. Er wußte nur, daß die Zeit des Palaverns aufhören sollte, „denn so kann es nicht weitergehen.“ Und das war dann der Punkt, an dem er bereit war, aus Enttäuschung und mit Zweifeln, einem starken Mann zu folgen. Eine unqualifizierte Demokratie neigt sich zur Diktatur hin.

 

 

 

Parteien gelten als Wahrzeichen der Demokratie. Verständlicherweise steht die Demokratie beim Volk hoch im Kurs. Diese Sympathie nutzen die Parteien aus. Sie bezeichnen sich als Ordnungskräfte der Gesellschaft.  Die Vielzahl der Interessen findet demnach in ihnen eine Bündelung. Durch sie wird ein Land handlungs-fähig.  Damit sind sie für eine freiheitliche Ordnung unverzichtbar. Könnte sich einer eine parteienlose Ordnung vorstellen, die zugleich freiheitlich ist? Diese Frage kann wohl nur ein Kranker mit Ja beantworten.  Also sind sie das Fundament der Demokratie. Was wäre daher der Souverän ohne Parteien? Eine murmelnde oder schreiende Masse, die sich nicht einigen kann. Wenn das Volk also in einer Demokratie leben will, so muß es sich für die  Parteiendemokratie entscheiden, als Gegensatz zum Durcheinander mit Quasselbude und als Gegensatz zur Diktatur mit Friedhofsruhe. Mit diesen Argumenten sprechen sich die Parteien für eine von ihnen geführte Demokratie aus. Demokratie braucht Führung. Die Menschen brauchen Führung. -  Aber war Führung nicht immer auch Verführung? Gibt es hierzu wirklich keine Alternative?

 

 

 

Keine Partei kann an sich das Volksinteresse vertreten. Sie kann nur Teilinteresse sein. Der Begriff der Volkspartei ist demnach schon eine Irreführung. Trotzdem erhebt jede Partei den Anspruch, von ihrem Anliegen her Volkspartei zu sein. Sie begnügt sich nicht, Teil zu sein, sondern kann nach ihrem Selbstver-ständnis für das Ganze sprechen, weil sie der Zeit weit voraus ist, weil sie die Vision eines neuen Volks-ganzen hat. Das ist ihre Erleuchtung, deren letztes Bewußtsein der Glaube ist. So erzeugt jede Partei ihre    Nebelwolke, ihre Ideologie, von der schon K. Marx wußte, daß sie ein falsches Bewußtsein ist. Aber genau dessen Anerkennung setzt sie für ein erfolgreiches Handeln in der Gegenwart voraus. Und hier beginnt der ideologische Streit, der Streit um die „Idee“, um die „Linie“, der sich nicht am praktischen Detail aufhält. Der Kampf um die Lufthoheit wird zur Schlammschlacht der Überzeugungen, bei der es nicht um die Wahrheit, sondern um die Vernichtung des Gegners geht. Keine Partei verzichtet auf Ideologie, dieses Markenzeichen ihrer Einmaligkeit. Und jede Partei will den Bürger solange bearbeiten, bis er auf ihrem Boden steht. Hier wird der Unterschied zur kleinsten Bürgerinitiative deutlich, die eine solche Ideologie nicht nötig hat, sondern sich direkt auf das praktische Problem konzentriert und damit beweist, daß der Bürger auch ohne Parteien sein Ziel erreichen kann.

 

 

 

Jede Partei trägt also einen Widerspruch in sich, den Spagat zwischen ihrer befreienden allgemeinen Idee und ihrem beschränkten Teilinteresse. Dieser Spagat wird besonders offensichtlich, wenn ein ganzes Volk bedroht wird und ein nationaler Widerstand notwendig wird. Dann müssen die Parteien Farbe bekennen. Sie müssen den Nationalgedanken aufgreifen, um populär zu sein. Das allerdings ist für die heutigen Parteien eine unüberwindliche Hürde, da sie sich als Lizenzparteien durchweg vom Nationalgedanken losgesagt haben. Sie wollen das Volk, aber nicht die Nation. Sie wollen ein Volk ohne Nation. Vor diesem Trugbild erstarren sie. An diesem Trugbild zerbrechen sie. Da können sie noch sehr die nationale Kritik als Angriff auf die Demokratie verfälschen. Sie sind geschichtlich überflüssig und schädlich und werden vom Volk abge-sondert. Der Dogmatismus ist ein sicheres Merkmal ihres demokratiefeindlichen Charakters. 

 

 

 

Nun wird dem entgegengehalten, daß die freiheitliche Demokratie nicht eine Partei favorisiert, sondern das Mehrparteiensystem. Jede Partei repräsentiert eine Seite des Volkes und insofern ist das ganze Parteien-ensemble die geeignete Form, das Volksganze zu erfassen. Sehen wir die Sache praktisch an und fragen: Wie kann es dann passieren, daß ein Mehrparteiensystem in die Krise gerät? Die Antwort hierauf ist: die Parteien bilden ein Kartell, das eben nicht das Grundinteresse des Volkes aufspürt. Dieses Kartell ist nur die Zusammenfassung seiner Teile, die ihren wirklichen Zweck, wie in jedem Einzelfall, hinter hohen Ideen verbirgt. Das Mehrparteiensystem reproduziert nicht die Befreiung des Volkes, sondern ein Parteiensystem.  Es ist Vortäuschung von Volkssouveränität, weil es in Wirklichkeit Parteiensouveränität ist. 

 

 

 

Parteien sind politische Institutionen, die über dem Bürger und über dem Staat stehen. Sie sind nicht Stellvertreter des Bürgers, sondern eigenständige Gruppierungen, die Macht ausüben bzw. Politik betreiben, also die Gesellschaft formen. Dieses Recht wird ihnen am Wahltag übertragen. Der Bürger überträgt ihnen mit der Wahl sein Recht auf Ausübung der Souveränität. Diese Abtretung ist der eigentliche Grund dafür, daß die heutige Demokratie eine Form von Herrschaftsgesellschaft ist. Das wird daran deutlich, daß der gewählte Mandatsträger nach der Wahl gegenüber dem Wähler nicht rechenschaftspflichtig ist, sondern nur seinem Gewissen zu folgen hat. Vor der Wahl umgarnt er den Wähler. Nach der Wahl ist er von seinem Wort entbunden. Das ist nicht ein verwerflicher Charakterzug. Das ist die Verhaltensnorm, die im Grundgesetz, Artikel 38, steht: „(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Niemand sagt vor der Wahl, wonach er sich nach der Wahl ausschließlich richten wird, nach seinem Gewissen - und dem Fraktionszwang. Die Täuschung des Wählers ist somit unvermeidlich. Die Abstimmungen im Bundestag berechtigen jedenfalls den Zweifel am Gewissen als Entscheidungsmaßstab.     

 

 

 

Die gegenwärtige Krise der Demokratie ist die Krise der durch Parteien vermittelten Demokratie. Wer diese These anerkennt, der kann auch der Schlußfolgerung zustimmen, daß mit einer Partei die Krise nicht zu überwinden ist. Alle neuen Parteien verkündeten die Absicht, eine Änderung der Verhältnisse herbeizu-führen - alle sind gescheitert. Das jüngste Beispiel ist die AfD. Sie trägt den Begriff der Alternative in ihrem Namen und proklamiert „Den Mut zur Wahrheit“, aber sie erfüllt die Erwartungen nicht. Sie bringt noch nicht einmal den Mut auf, sich selbst zu analysieren und die Wahrheit offen auszusprechen, die Wahrheit, die vorhandene oppositionelle Energie auf ein totes Gleis zu schieben. Neue Parteien zerschellen nicht an den Altparteien, wie sie es gern darstellen, sondern zerbrechen am Widerspruch, in dem jede Partei steckt, hinter einer abstrakten Idee ein spezifisches Interesse zu verfolgen. Darum sind die Initiativen, mit neuen Partei-gründungen, endlich die die Dinge in Griff zu kriegen, vergeblich.      

 

 

 

Wer die Erneuerung fordert, der fordert eine andere Art und Weise der Gesellschaftsgestaltung, eine Gestaltung, die sich nicht als Herrschaft realisiert, sondern bei der der Souverän als entscheidendes Subjekt immer zu Wort kommt. Das ist z.B. bei Volksabstimmungen der Fall. Das ist aber vor allem dann gegeben, wenn er nicht bei Wahlen seine Souveränität abgibt, sondern der von ihm gewählte Vertreter ein von ihm Kontrollierter ist, der in seinem Auftrag handelt. Das heißt, daß nicht Parteien nach der Wahl die politischen Entscheidungen treffen, sondern der Wähler, der seinem Beauftragten die Richtung vorgibt und ihn danach beurteilt, wie er sie umgesetzt hat. Die Wahlperiode ist ein Arbeitsverhältnis auf Zeit.  

 

 

 

Es geht um die Ausschaltung von parteigebundenen Mandatsträgern, die sich von den verlockenden Einflüsterungen der Lobbyisten und dem Appell von Parteiinstanzen beugen. Es ist ein Unterschied, ob Wählerinteressen berücksichtigt werden, um Wahlen zu gewinnen oder ob Wählerinteressen Richtschnur des Handelns sind. Dem Bürger gibt das Gewissen des  Abgeordneten keine Sicherheit, daß er in seinem Interesse entscheidet. Und die Praxis gibt ihm Recht.

 

 

 

Die Situation würde sich grundlegend ändern, wenn 

 

·die  staatliche Parteienfinanzierung wegfiele,

 

·den Parteien die Teilnahme an Wahlen zu parlamentarische Vertretungen untersagt würde und

 

3.   die Inhaber staatlicher Ämter keiner Partei angehören dürfen.

 

 

 

Man kann sicher sein, die Parteien würden auf kleine bedeutungslose Sekten zusammenschrumpfen. Kaum eine würde sich als Bildungsverein am Leben erhalten, denn der schöpferische Disput ist ihnen längst erloschen.

 

 

 

Bei heutigen Wahlen zu parlamentarischen Vertretungen stehen die Parteien im Vordergrund. Treten bei Wahlen keine Parteien mehr an, dann dürfte die Sicht auf die praktischen, territorial gefächerten  Probleme der Bürger in den Vordergrund treten. Diese werden nicht mehr den parteipolitischen Zwecken unterge-ordnet, sind nicht mehr Material für politische Selbstdarstellung. Damit wird Platz für tiefere sachliche Analyse.

 

 

 

Eine Gesellschaftsgestaltung ohne Ideologie hat den großen Vorteil einer höheren Rationalität. Die Ideologie ist überflüssig, denn sie steuert die Entscheidung auf ein Ziel hin, welches mit dem jeweiligen Anliegen nichts zu tun hat, auf jenes parteipolitische Ziel, das einzig der Existenzberechtigung der Partei dient. Und daraus ergibt sich ein Vorzug: die Gestaltung der menschlichen Lebenswelt konzentriert sich auf die gegenwärtigen  Interessen des Bürgers, sie bedarf nicht der Ziele der Parteien, denn diese verfälschen die Wahrnehmung der Realität.

 

 

 

Aus Regierung wird Verwaltung, die für die Organisation des Zusammenlebens unerläßlich ist. Damit endet die Zeit kolossaler Fehlentscheidungen, in der kleine Menschengruppen auf dem Recht beharrten, das Leben der großen Mehrheit zu lenken, zu entmündigen und sie um ihre Lebenszeit zu bringen. - Das Volk braucht nicht regiert zu werden, das Volk kann seine Angelegenheiten selbst regeln. Es ist nicht einzusehen,

 

welche Vorteile es einem Volk bringen würde, wenn in ihm weiterhin Streit und Mißtrauen vorherrschen, nur weil einige glauben, sie hätten ein Recht auf Privilegien, zumal der starke Wunsch nach einem friedlichen und harmonischen Nebeneinander nach all den Konflikten der Vergangenheit unverkennbar ist.

 

 

 

                                                                                 Johannes Hertrampf              21.05.2015