Das Ende der Demokratie?

 

 

 

 

Daß trotz aller geschichtlicher Einsicht und Erfahrung Politiker sich gegen Veränderungen gesellschaftlicher Systeme stemmen, kann eigentlich nur so gewertet werden, dass sie für die Politik ungeeignet sind. Zur Zeit bildet sich in Deutschland eine gefährliche Konfliktsituation heraus. Die ausgewiesene Arbeitslosigkeit von über vier Millionen und die Neuverschuldung für 2004 in Höhe von 43,7 Mrd. Euro weisen auf gravierende gesellschaftliche Funktionsstörungen hin. Die von Bundestag und Regierung verordneten sogenannten Reformen beheben diese Störungen nicht. Sie pressen weiteres Geld aus dem Volk und führen zu einer stetigen Absenkung seines sozial-kulturellen Niveaus, anstatt, wie versprochen, zu Impulsen für eine Erneuerung. Sie verschlimmern also die Lage. Bei jeder Hiobsbotschaft aus der Wirtschaft zuckt der Wirtschaftsminister hilflos mit den Achseln. Wenn nicht bald Korrekturen bei der Reproduktion des Arbeitspotentials, im Gesundheitswesen, im Schul- und Bildungs- und gesamten Kulturbereich sowie im Sozialwesen erfolgen, sind die Schäden irreparabel. In keinem Ressort gibt es einen Lichtblick. Auch die EU- und Außenpolitik der Bundesregierung dient amerikanischen Weltmachtambitionen und nicht deutschem Volksinteresse. Die rotgrüne Regierung hat abgewirtschaftet. Angesichts dieser Situation ist der Ton von CDU und CSU gegenüber der Bundesregierung zwar herrisch, aber moderat. Sie fordern von der Bundesregierung kein Umdenken, sondern eine schärfere Gangart, damit das mögliche Tempo bei der Auflösung Deutschlands in der EU eingehalten wird. Sie wissen, dass es zur Zeit in Deutschland keine politische Kraft gibt, die das Volk zum Widerstand organisieren könnte, denn das Volk ist trotz aller Not beschäftigt mit dem Streit zwischen den Rechten und den Linken.

 

 

 

Das politische System als die Steuerungszentrale der Gesellschaft wird vom Volk als Fremdkörper empfunden, was 0die Politiker jedoch nicht stört, sich in ihm wohl zu fühlen. Dabei wäre es falsch, die Ursachen für die Mängel im schlechten Charakter und im mangelnden Intellekt der Politiker zu suchen. Es führt zu nichts, sie ständig wegen persönlicher Fehler unter Beschuß zu nehmen und nicht mehr zu fordern als ihre Auswechslung. Die Auswechslung von Personen ist  durchaus systemerhaltend, selbst auf die Gefahr hin, dass bei hoher Fluktuation das Image leidet. Wir brauchen nicht Personenkritik, sondern Systemkritik, mit dem Ziel, einer Systemkorrektur, einer Systemänderung. Eine solche Systemänderung muß zunächst im Kernbereich der Gesellschaft vorgenommen werden, im parlamentarischen Mechanismus. Auf diesen selbst muß die Kritik gerichtet werden und nicht auf seine sekundären Erscheinungsformen wie Parteienfinanzierung, Fünf-Prozent-Klause, Koalitionszwang u.ä.m. In der parlamentarischen Demokratie selbst liegt die Wurzel des  Übels, weil durch sie die Richtungsimpulse der Lobbyisten über die Personen der Parlamentarier in die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche weitergegeben werden. In ihr werden Interessen in politische Richtwerte umgesetzt.

 

 

 

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Frage nach einer Erhöhung der Souveränität des Volkes, die ja wohl nichts anderes bedeuten kann, als daß sich das Gesamtinteresse des Volkes stärker gegen die partikulären Interessen von Gruppen und Personen durchsetzen muß. Immer sind es die Völker, die Geschichte machen, die sich ihre Gesellschaften schaffen. Zu einem Volk zählt jedoch die Gesamtheit der Klassen, Schichten, Gruppen und Einzelpersonen, die  Herrschenden wie die Beherrschten. Der jeweils konkrete Geschichtsverlauf ist das Ergebnis der internen Bewegungen in diesem Volksganzen. Es wäre nicht richtig, wie das zuweilen geschieht, aus dem Volksbegriff die Herrschenden heraus zu nehmen und umgekehrt die Geschichte eines Landes als die Geschichte der Herrschenden hinzustellen, so wie die Geschichte heute noch in den Schulen weitgehend als Abfolge der politisch Herrschenden gelehrt wird.

 

 

 

Immer waren alle Teile des Volkes in den Verlauf als Akteure einbezogen, wenngleich nicht kontinuierlich und in gleichem Maße. Nur so ist der Satz gültig, wonach die Völker die Geschichte machen. Die Herrschenden haben nie aus freien Stücken geherrscht, haben nie dem Volk die Interessen vorgeschrieben, sondern diese Interessen zum Mittel und Zweck ihres Handelns gemacht. Das Bild vom Hirten und der Schafherde trifft für das Verhältnis zwischen Volk und Führer nicht zu. Vergessen wir nicht, dass das Volk zu bestimmten Gelegenheiten seine Führer geköpft hat, die Führer also, wenn sie überleben wollten, die Macht des Volkes in ihr Kalkül einbeziehen mussten. Aber nie haben Schafe ihren Hirten umgebracht. Der Führer, selbst in der dunkelsten Diktatur, ist immer der Führer eines Volkes, der Anführer, der zumindest die Macht der Mehrheit der Angeführten beachten, wenn nicht gar befolgen, muß.

 

 

 

Die Ordnungssysteme waren und sind stets Rückkopplungssysteme, aber es waren zumindest für die Periode der Zivilisation Herrschaftssysteme, also solche Führungen, die sich der Ideologien und der Gewalt bedienten, um die Interessen einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft zu privilegieren. Das war der große Unterschied zu den vorzivilisierten Gesellschaften, wo es solche Gruppenprivilegien nicht gab. Ordnung und Herrschaft sind nicht dasselbe. Hierarchie ist Ordnung, aber nicht Herrschaft. Alle Natur kennt Ordnung. Alle belebte Natur kennt Hierarchie. Aber über einen bestimmten Zeitraum menschlicher Geschichte, eben die Zivilisation, äußerte sich Hierarchie als Herrschaft. Herrschaft bedeutet, dass ein kleinerer Teil auf Kosten eines größeren anderen Teils lebt, dass ein Teil einem anderen Teil Vorteile, eben Privilegien, abverlangt, indem er die gesellschaftliche Steuerung ausübt. Diese Art von gesellschaftlicher Lenkung ist aber eindeutig dem Steuerungsprinzip der maschinellen Technik zuzuordnen. Herrschaft ist demnach nichts weiter als die Ausübung des maschinellen Typs in der Gesellschaft. Aber auch eine Maschine kann nicht willkürlich gesteuert werden, die Ausübung ist immer durch das Mittel determiniert. Herrschaft ist also durch das Gesteuerte, das Volk, determiniert, mit dem vornehmlichen Zweck der Privilegierung einer Gruppe.  Insoweit ist also auch der brutalste Herrscher auf Gedeih und Verderb an sein Volk gebunden. Nur ein wirklicher Geck, der sein Auto gegen eine Mauer fährt, kann sagen, dass eben das Auto seiner nicht wert war und steigt aus, soweit er das noch kann. Aber solche Allüren haben eben dann mit Steuern nichts mehr zu tun.

 

 

 

Gegenüber den feudalen Machtstrukturen war die parlamentarische Demokratie zweifellos ein rationelleres Rückkoppelungssystem, da es kontinuierlich rückkoppelte und weil es die gesellschaftliche Struktur besser erfasste. Im Parlament, wenigstens im bürgerlichen Parlament, waren die verschiedenen Volksschichten vertreten, wenngleich sie nicht paritätisch an der Macht beteiligt waren. Auch ein Parlament mit sozialdemokratischer Mehrheit ist eine Form von Herrschaft, muß als solches genutzt werden. Die Herrschaft wurde im Parlament von den Parteien und ihren Koalitionen ausgeübt. Und dadurch war immer die Möglichkeit gegeben, auf ganz „legalem“ Wege, Sonderinteressen durchzusetzen. Durch die Gestalt der Produktionsweise bestand ein objektiver Zwang für die Privilegierung der Besitzenden, jener, die den Produktionsprozeß organisierten. Selbst wenn eine Mehrheit der Beherrschten zustande kam, war diese gezwungen, sollte nicht das ganze System aus den Fugen geraten, die Besitzenden zu privilegieren. Dort, wo diesem „Satz der Vernunft“ widersprochen wurde, im sozialistischen Parlament, zeigte sich die Unsinnigkeit solcher Gesellschaftsführung. Ungeachtet dessen war der praktische Sozialismus ein Signal dafür, dass sich eine gesellschaftliche Erneuerung anmahnte. Die Privilegierung der Besitzenden im bürgerlichen Parlament ist also kein Machtmissbrauch und die sozialdemokratische Unterordnung der Beherrschten unter die Herrschenden ist eine völlig der geschichtlichen Ordnung entsprechende Verhaltensweise. Dieser Opportunismus ist objektiv bedingt. Jedes Naserümpfen kann an dieser Stelle getrost übergangen werden.

 

 

 

Es ist ganz natürlich, dass jetzt am Ende der Zivilisation auch das parlamentarische Machtsystem nicht mehr effektiv ist. Es ist der Herrschaftsgedanke, der die Ursache ist, weil sich die gewachsene Volkssubjektivität nicht mehr genügend über solche Herrschaftsstrukturen organisieren lässt. Das heißt, die durch die Technik gesteigerte Volkssubjektivität bedarf auch anderer gesellschaftlicher Steuerungsstrukturen. Inhaltlich dürfen die Steuerungsimpulse nicht mehr privilegierter Natur sein, sondern sie müssen dem gesellschaftlichen Ganzen entsprechen. Nichts anderes bedeutet der Satz, dass die parlamentarische Demokratie zu Ende geht.

 

 

 

Wie soll aber die Reform aussehen?  

 

Daß der Parlamentarismus nicht mehr richtig greift, ist auch den herrschenden Parteien klar. Jede Wahl bestätigt eine Wahlbeteiligung zwischen 50 bis 60 Prozent und in jüngster Zeit eine stärkere Hinwendung der Wähler zu den kleinen und zu den ausgesprochenen Randparteien. Diese Sachverhalte spiegeln sich in den Parteien wider, zum einen in den sinkenden Mitgliederzahlen und zum anderen in der Unfähigkeit, konstruktive programmatische Gedanken zu äußern. Die Parteien, die Träger der parlamentarischen Demokratie, können immer weniger die ihnen zugedachte Funktion erfüllen. Um die Zersetzung nicht beim Namen zu nennen, wird in der Öffentlichkeit verniedlichend von Parteienverdrossenheit gesprochen. „Ohne Zweifel“, schreibt P. Lösche, „ haben wir es mit Parteienverdrossenheit, wohl kaum mit einer  Krise des Parteienstaates, auf keinen Fall aber mit dem Infragestellen der parlamentarischen Demokratie zu tun.“1) Man spürt regelrecht den Angstzustand beim Schreiben dieses Satzes. Wenn also das ganze politische System nicht mehr richtig funktioniert, dann bloß keine Reform des Parteienstaates und gleich gar nicht der parlamentarischen Demokratie, sondern höchstens eine Parteienkritik und die Forderung nach Weiterentwicklung der Parteien selbst. Und die Vorlage dafür hat er auch zur Hand. Die Parteien sind nach amerikanischem Vorbild  in Rekrutierungsorganisationen der politischen Elite zu wandeln, so dass sie nicht mehr die verschiedenen Klassen und Schichteninteressen des Volkes zu vertreten haben, sondern um die bestmögliche Vertretung der herrschenden Wirtschafts- und Finanzgruppen rivalisieren. Nach Lösche sollen die Parteien das Volk als politische Zwecksetzung ganz fallen lassen und sich voll zu Dienstleistern der Herrschenden entwickeln. Um die Interessen dieser zu „managen“ bedarf es im Grunde genommen wirklich nur zweier Dienstleistungsunternehmen. Lösche treibt die parlamentarische Demokratie auf die Spitze. Die Interessen anderer Schichten und Gruppen werden als Störfaktor ganz eliminiert. Damit wird das gegenwärtige Problem nicht entschärft, sondern im Gegenteil der Zug zur Parteiendiktatur noch beschleunigt. Dabei weiß er um die Problematik, denn er schreibt: “ ...die Forderung nach mehr direkter Demokratie setzt die Parteien heute unter Druck“2) Doch er scheut sich, darüber nachzudenken und rechtfertigt sich mit den Worten: „Schließlich gibt es keine Alternative zu den Parteien und zum Parteienstaat. Alternative Organisationen und Institutionen sind weit und breit nicht zu erkennen...“3) An dieser Stelle wird der Unterschied deutlich zwischen einem Gesellschaftswissenschaftler, der wirklich gebraucht wird und einem Apologeten, der nicht gebraucht wird, jedenfalls nicht, wenn es um die Zukunft geht.

 

 

 

Das Problem sind nicht die Parteien und nicht der Parteienstaat, sondern die parlamentarische Demokratie. Wer das nicht anerkennt, der wird, wie Herr Lösche, sich um keinen Deut nach vorn bewegen. Parteien, Parteienstaat erwachsen, ja wuchern aus der parlamentarischen Demokratie. Die parlamentarische Demokratie wurzelt ihrerseits wieder im technisch-ökono-mischen System. Sie ist also keine willkürliche Schöpfung.

 

 

 

Die technisch bedingte Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Veränderung, einschließlich der ökonomischen, liegt aber nicht in der Zuspitzung des Herrschaftssystems, in der politischen und ökonomischen Entrechtung der Individuen, sondern in der Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, also auch der Wirtschaft, in der Schaffung von solchen Bedingungen, dass die Individuen zunehmend Gestaltungskräfte abverlangen. Die Demokratisierung der  Politik, was gleichbedeutend mit politischer Reform ist, steht vor der Frage, die Volkssouveränität neu zu bestimmen. Man kann über Parteien und Parteienstaat endlos streiten, aber der Kern der politischen Reform ist die Änderung des demokratischen Systems: welche Entscheidungsbefugnis gibt der Bürger ab und welche behält er?  Jawohl, den Parteien sind die Flügel zu stutzen und der Staat darf nicht weiter den Parteien ausgeliefert sein. Keinen Parteien! Aber wie soll man das erreichen und dauerhaft absichern? Durch moralische Appelle an Vernunft und Gewissen? Durch wortreiche Traktate und große Konferenzen? Helfen kann hier nur eine Änderung der Struktur der Demokratie. Helfen kann hier nur eine Erfindung dessen, was Herr Lösche vermisst. Nicht eine Abschaffung der Demokratie schlechthin, wie das auch von einigen gefordert wird, die, wenn es nicht mehr richtig klappt, sofort lautstark nach dem starken Mann rufen, sondern eine Abschaffung der gegenwärtigen Ausführung von Demokratie. Das bedeutet, dass parallel zu der parlamentarischen Form mit ihrem Parteiensystem, Formen der nichtparteistrukturierten direkten Willensäußerung des Volkes geschaffen werden, die bestimmte Aufgabenbereiche ausschließlich zu erfüllen haben. Es geht nicht um die Schaffung einer konkurrierenden Institution zum Parlament, nicht um eine zweite Kammer, auch nicht um eine Befugniserweiterung des jetzigen Länderrates, sondern um die Ausgliederung bestimmter Entscheidungsbefugnisse aus dem Parlament, die verfassungsmäßig zu verankern ist. Man kann das ganze auch als Zwei-Säulen-Demokratie bezeichnen. Diese Entscheidung darüber, wie eine Entscheidung heerbeigeführt wird, obliegt dem Staatsoberhaupt auf der Grundlage der Verfassung bzw. nachgeordnet dem Landrat oder dem Bürgermeister. Schauen wir uns die Reichsverfassung von 1919 an. In dieser Richtung muß weiter gedacht und gearbeitet werden Das Staatsoberhaupt sollte nicht mit zusätzlicher Macht ausgestattet werden, aber er im politischen Entscheidungssystem eine klar definierte Aufgabe erhalten. Die Erhöhung der Volkssouveränität ist  also in zweierlei Hinsicht zu sehen: a) Befugnisverteilung und b) Volksinteresse als oberste Staatsmaxime.

 

 

 

Es ist schon interessant, daß unsere politische Oberschicht, die sich auch gern als Klasse bezeichnet, wie die Katze um den heißen Brei schleicht, wenn es um die eigentlichen Probleme geht und wenn sie sich schon äußert, dann auch garantiert in die falsche Richtung geht. Die Kritiker des Systems sind keine Feinde der Demokratie, sondern Wegbereiter der Erneuerung.

 

 

 

                                                                                       J. Hertrampf   11.05.2006