Bürgerwille

 

8. Dezember 2011

 

von Johannes Hertrampf

 

 

Herrschaft bedeutet, daß ein Teil der Gesellschaft dem anderen Teil seinen Willen aufzwingt und diesen sich unterordnet. Demzufolge ist die parlamentarische Demokratie eine Herrschaftsform, die in verschiedenen Spielarten auftritt. Eine dieser ist die Parteiendemokratie.

 

 

In der parlamentarischen Demokratie heutigen Zuschnitts äußert sich das darin, daß der Wähler seine Souveränität für die Dauer der Legislaturperiode dem Abgeordneten überträgt und dieser bei seiner Entscheidung sich nur an sein Gewissen zu halten hat. Damit ist die entscheidende Bruchstelle markiert: die Souveränitätsübertragung des Wählers auf den Abgeordneten, was einer Entmündigung über die Zeit der Legislaturperiode gleichkommt. Das Kunststück, welches der Abgeordnete nach seiner Wahl vollbringen muß, ist, den Bürger während der Legislaturperiode bei guter Laune zu halten, damit dieser ihm am nächsten Wahltag erneut die Stimme gibt.

 

Parteiendemokratie ist gelenkte Demokratie, was unter unseren Bedingungen besagt, daß die parlamentarische Demokratie von Parteien gesteuert und organisiert wird, so daß der Bezug zwischen dem Abgeordneten und dem Wähler über eine Partei vermittelt wird. Parteien sind Werkzeuge, die vor allem mit Steuergeldern und Spendengeldern unterhalten werden. Der betreffende Abgeordnete spielt also nur eine Statistenrolle. Verallgemeinert ausgedrückt heißt das, daß die Parteien die Bruchstelle der parlamentarischen Demokratie besetzen und in ihrem Sinne auslegen. Diese Steuerung der Abgeordneten während der Legislaturperiode üben sie vor allem mit Hilfe des Fraktionszwanges aus. Da die Parteien in den Parlamenten Fraktionen bilden, was durch zusätzliche Gelder seitens des Staates gefördert wird, regulieren sie das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten. Mit dem Fraktionszwang heben sie die Unabhängigkeit des einzelnen Mandatsträgers auf. Das Druckmittel, dessen sich die Parteien dabei vor allem bedienen, ist die Korruption. Die gesamten Bezüge, die ein Abgeordneter erhält, kann er an keiner anderen Stelle in der Gesellschaft leichter verdienen. Das ist das bestimmende Motiv. Die Ideologie, nach außen aufgebauscht, spielt realiter eine untergeordnete Rolle. Die Diktatur der parlamentarischen Demokratie wird also vor allem über Geldflüsse abgesichert. Aber die Bruchstelle zwischen Volkssouveränität und Volksentmündigung ist die Übertragung des Entscheidungsrechts an den Abgeordneten für die Dauer der Legislaturperiode.

 

 

In der letzten Phase der Zivilisation tritt das internationale Finanzsystem als globales Imperium in Erscheinung und ist bestrebt, sich alle politische, militärische und wirtschaftliche Macht unterzuordnen. Daraus entwickelt sich ein bisher unbekanntes Widerspruchspotential, das seine wichtigste Triebfeder im technischen Fortschritt hat. Dieser eröffnet zwar einerseits dem internationalen Finanzkapital ein großes Wirkungsfeld und beschleunigt die Geldflüsse, erzeugt aber zugleich große Gegenkräfte, insofern sich der individuelle Spielraum von Millionen Produzenten und Konsumenten enorm vergrößert. Die daraus resultierenden Gegenkräfte übersteigen die Grenzen der Finanzgewalt. Das ist der Grund für die zunehmende Spannung. Doch die Kritik wird auch deshalb größer, weil die Politik immer kolossalere Fehler macht. Das wird deutlich im Versagen europäischer Politiker bei der Abwicklung der EU.

 

 

Die steigende Spannung äußert sich in zunehmender Systemkritik, die in zwei gegensätzlichen Richtungen verläuft. Das eine Extrem ist die generelle Ablehnung der Demokratie und ihr Austausch mit einer Diktatur, weil angeblich die Demokratie, mit Blick auf die parlamentarische Demokratie heute, zu einem politischen Verschleiß der Kräfte führt und Ordnung und Leistungsfähigkeit der Gesellschaft darunter leiden. Das entgegengesetzte Extrem, wieder mit Blick auf die parlamentarische Demokratie, ist die Forderung nach einer absoluten Beseitigung der Unterordnung. Wenn jeder nach seinen Wünschen lebt, dann wäre der soziale Frieden und eine maximale Kreativität gesichert. So argumentieren die Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens. Beide Extreme geben vor, die Gesellschaft vor dem Kollaps zu bewahren. Im Hintergrund geht es um die Frage nach der Rolle des Wählerwillens als konstituierendes Element der Politik. Ist er nur Wunsch oder ist er reale Notwendigkeit? – und zwar um so mehr, je mehr ihm die öffentliche Diskussion vorausgegangen ist – der Wille als Form des Bewußtseins.

 

 

Daß die Gesellschaft in bisheriger Weise nicht weiter existieren kann, ist in beiden Lagern der Kritik – und darüber hinaus in weiten Kreisen der Gesellschaft – unbestritten. Doch diese kritische Sicht führt noch nicht zu richtigen Folgerungen. Zwei extreme Auffassungen stehen sich gegenüber: die Organisation durch Zwang als Herrschaftsgesellschaft und die Organisation ohne Zwang. als unabhängige Gesellschaft. Nach welchen Gesichtspunkt soll man sich richten?

 

 

Die bisherige Geschichte stellt sich für den Menschen vorwiegend als erzwungene Organisation dar, erzwungen durch ein Netz von Abhängigkeiten, das kaum eine Lücke ließ. Letzten Endes wurde die Sprache der Gewalt gesprochen, die jeder verstand. Das Reich der Freiheit, von dem die so Unterdrückten träumten, lag weitab von der Gegenwart – über den Wolken.

 

 

Doch woher kommt der unversöhnliche Gegensatz? Das Reich des Zwanges ist der allgemeine Zustand der Natur, in dem das Einzelne keine Wahl hat, sondern auf seinen Platz gestoßen wird. Die Freiheit der Entscheidung ist auf diesem Naturzustand unbekannt. Erst mit dem Auftreten des Lebens in der Natur entsteht das Subjektive, der Eigenwille des Subjekts, der im Menschen seine höchste Ausprägung hat. Dieser Eigenwille führt beim Menschen zum Begriff der Freiheit. In dem Maße, wie der Mensch seine Technik entwickelt, entwickelt sich sein Subjektsein und damit sein Freiheitsdrang. Sein Dasein wird widersprüchlicher, weil sein Eigensein erwacht. Sein Freiheitsdrang ist also eine Bedingung seiner Bewegung, die sich eben von der des reinen Naturzustandes unterscheidet und steht in direktem Verhältnis zu seinen technischen Fähigkeiten. Daraus ergibt sich, daß dieser Widerspruch ein permanenter ist, der nicht überwunden werden kann, weil er sich stets neu reproduziert.

 

 

Die bisherige Herrschaftsgesellschaft war eine politische Organisation, bei der Zwang und Zwanglosigkeit sich feindlich gegenüberstanden, sich gegenseitig bekämpften. Warum? Weil dieser Antagonismus sich personifizierte, als persönliches Interesse ausgetragen wurde. Bei der neuen Organisation entfällt dieser Antagonismus. Es gibt nicht mehr die Vertreter der einen und die Vertreter der anderen Seite. Der Zwang bleibt, der Antagonismus entfällt. Man darf also nicht generell den Zwang ablehnen, er ist nicht verwerflich und damit ist die Zwanglosigkeit nicht ein erstrebenswerter Glückszustand.

 

 

Wenn die künftige Gesellschaft die Abschaffung der Herrschaftsgesellschaft impliziert, bedeutet das nicht, daß es in ihr keinen Zwang mehr gibt, also das, was es in der Herrschaftsgesellschaft auch gab und was dort dominierte. Der Zwang erscheint nun als Norm, als Bedingung der Freiheit. Jedes Gesetz erzeugt durch seine Wirkung Zwang. Auch die Mehrheitsentscheidung ist eine Form von Zwang. Sie kann ein Instrument von Herrschaft sein, aber auch ein aufgeklärtes Instrument von Notwendigkeit und Ordnung. Diese Unterscheidung macht den Unterschied deutlich.

 

 

In der bisherigen Gesellschaft war für das gezwungene Individuum der Zwang keine Bedingung seiner Freiheit, sondern seiner Unfreiheit. Je mehr das Individuum die Norm als Bedingung seiner Freiheit erfährt, desto weniger steht es ihr feindlich gegenüber. Die künftige Gesellschaft ist daher nicht einfach das Gegenteil der heutigen, sondern bietet dem Individuum mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Aber eben jedem. Das ist die gute Wirkung, der Sinn der Norm.

 

 

Das Hauptproblem der parlamentarischen Demokratie ist heute der Widerspruch, daß mit der Wahl der Bürger seine Souveränität abgibt, daß er deshalb für die Zeit der jeweiligen Legislaturperiode keinen wirklichen Einfluß auf die Politik ausübt. Natürlich verliert er nicht wirklich seine Souveränität, da diese eine natürliche Eigenschaft ist. Die Abgabe dieser Souveränität ist ein gesellschaftliches Verfahren, ein modus vivendi zum Erhalt der Herrschaftsgesellschaft.

 

 

Daß der Bürger, unabhängig von sozialer Stellung und Geschlecht Abgeordnete wählen konnte, war ein enormer Fortschritt in Richtung größerer individueller Freiheit. Die parlamentarische Demokratie war ein Schritt in Richtung Grenze der Zivilisation. Doch nun muß eine neue Stufe folgen. Brachte die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts die Volkssouveränität in eine neue Verfassung, eben in den Legislaturrhytmus, so geht es jetzt um Permanenz, um eine neue Verfassung der Volkssouveränität. Das heißt, die Rolle der Parteien muß geändert werden, die Rolle der Bürger bei den großen Entscheidungen muß erweitert werden durch Einführung von Volksabstimmungen. Darüberhinaus muß das Zugriffsrecht der Bürger auf die Politik während der ganzen Legislaturperiode generell gewährleistet werden.

 

 

Die Wirklichkeit ist schnelllebiger geworden. Die Welt in den Jahren nach der Wahl ist eine andere als zum Zeitpunkt der Wahl. Das Legislaturdenken blendet diese Veränderungen aus und fördert den Mißbrauch durch Parteien. Das bisherige Vertreterprinzip ist überholt.

 

 

Die politische Reform muß die Bürgerrechte stärken. Wenn heute infolge der EU-Krise die Reform so angedacht wird, daß es darum ginge, Deutschland in die EU stärker zu integrieren, wie das die Grünen auf ihrem letzten Parteitag gefordert haben, so ist das genau der falsche Weg. Wie immer, so auch in dem Fall: grüne Politik greift den vorhandenen Unwillen der Bürger auf und lenkt ihn aufs tote Gleis. Nimmt man die grüne Politik genauer unter die Lupe, erkennt man stets ihre neoliberale Grundrichtung.

 

 

Wenn der Bürger mit seinen Forderungen kein Gehör findet, dann entsteht eine Protesthaltung gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, die sich zum Konflikt auf der Straße ausweiten kann. Vom demokratischen Standpunkt aus betrachtet, ist diese Möglichkeit in jeder Hinsicht ineffizient. Alle Kämpfe auf der Straße zusammengenommen haben keine Zukunftswendung Deutschlands bewirkt. Der Krawall auf der Straße gehört einer vergangenen Zeit an, als man es nicht besser wußte, als man ihn für einen Lösungsweg hielt. Daraus ergibt sich aber auch, daß der Einsatz der Staatsgewalt ein überflüssiges Mittel ist, weil es die Lösung behindert. Stuttgart 21 war ein anschauliches Beispiel für die Wirkungslosigkeit des Wechselspiels von Protest und Gewalt in unserer Zeit.

 

 

Die Machtdemonstration auf der Straße ist ein Mittel des Bürgers unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie, das abgeschafft und durch den Bürgereinfluß auf die Politik ersetzt werden muß. Dann erledigen sich Demonstrationen mit Polizeieinsatz. Dann sind Gummiknüppel, Tränengasbomben und Molotow-Coctails nur noch Ausstellungsstücke in Museen.

 

 

Dieser Wechsel funktioniert aber nur dann, wenn die Entscheidungsträger den Bürgerwillen kontinuierlich zum Anlaß nehmen, über seinen Gegenstand ernsthaft zu verhandeln. Es muß also neben der Abgeordnetenversammlung eine weitere Instanz geben, die den Bürgerwillen prüft und artikuliert. Und diese Instanz ist die freie, öffentliche Bürgerversammlung zwischen den Wahlen. Die gewählten Vertreter haben dann die Pflicht, ihre Entscheidungen mit den Beschlüssen der Bürgerversammlungen in Übereinstimmung zu bringen. Die Stellungnahmen der Bürgerversammlungen sind also von höchster Autorität. Damit wird der leidige Zustand überwunden, daß Politik über die Köpfe der Bürger hinweg gemacht wird. Der Bürgerwille kann dann nicht mehr als ohnmächtiger öffentlicher Protest verhallen. Die Bürgerversammlung dürfte daher eine fundamentale Forderung einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des GG sein. Sie geht über die gegenwärtige parlamentarische Demokratie hinaus, als ein neues Element der politischen Reform.